Allgemein Politik

Fremde Federn: Kelsang Gyaltsen

Frankfurter Allgemeinen Zeitung FAZ, 14.03.13 –

In Peking tagt zurzeit der Nationale Volkskongress, der Xi Jinping zum Präsidenten des Landes wählen wird. Sein politisches Anliegen ist es, den „chinesischen Traum“, die grosse Wiederbelebung der chinesischen Nation, zu erfüllen. Xi Jinping wird daher wohl kein Wort über die sich vertiefende menschenrechtliche und politische Krise in Tibet verlieren. Noch wird er die 107 Tibeterinnen und Tibeter erwähnen, die sich aus Protest gegen die chinesische Unterdrückungspolitik in Tibet selbst verbrannt haben.

Während viel über Xi Jinpings „chinesischer Traum“ gesprochen und geschrieben wird, ist kaum etwas in den hiesigen Medien über die Gründe und Anliegen der Tibeterinnen und Tibeter zu hören und zu lesen, die sich zu dieser drastischen Form des politischen Protestes gegriffen haben.

Selbstverbrennung als politischer Protest ist eine gänzlich neue Erscheinung im Widerstand der Tibeter gegen die chinesische Besetzung. Im Februar 2009 zündete sich der Mönch Tapey als erster Tibeter in Tibet aus politischem Protest gegen die Unterdrückung selbst. 2011 folgten 12 Tibeterinnen und Tibeter seinem Beispiel. Im Jahr 2012 nahm die Anzahl von Selbstverbrennungsproteste dramatisch zu auf 83 Fälle. In diesem neuen jungen Jahr haben wir leider bereits 10 tragische Proteste durch Selbstverbrennung zu verzeichnen.

Es ist wichtig hier fest zu halten, dass diese Selbstverbrennungsproteste nicht mit Selbstmordattentate gleichzusetzen sind. Bei den Selbstverbrennungsprotesten in Tibet ist klar erkennbar, dass die Absicht und der Wunsch nicht darin bestehen, Chinesen zu töten oder zu schädigen, sondern einen Wechsel der chinesischen Politik in Tibet herbei zu führen. Nicht einmal ein Wort der Schmähung haben die tibetischen Protestierenden gegen die chinesische Regierung ausgerufen. Ihre Forderungen waren mehr Freiheit für das tibetische Volk und die Rückkehr des Dalai Lama nach Tibet. So bedauerlich und tragisch diese drastischen Proteste auch sind, sie veranschaulichen in aller Deutlichkeit die Dringlichkeit und Dramatik des Tibet-Problems unter Chinas Herrschaft.

In Tibet sind die Menschenrechtsverletzungen systematisch und umfassend. Die Menschenrechtsverletzungen sind allerdings nur die Symptome eines grundlegenden politischen Problems. Die chinesische kommunistische Führung sah und sieht seit jeher in der eigenständigen Kultur, Sprache, Religion, Geschichte und Identität Tibets eine Gefahr, dass sich Tibet von China abspalten könnte. Aus diesem Grund ist die Grundausrichtung der chinesischen Politik in Tibet, die tibetische Sprache, Kultur, Religion und Identität zu schwächen, zu untergraben und die einheimische tibetische Bevölkerung durch den stetigen Zustrom von chinesischen Siedlern in eine Minderheit zu versetzen. Diese Politik macht die Tibeter in ihrer eigenen Heimat politisch, gesellschaftlich und wirtschaftlich zu Bürger zweiter Klasse und die Auswirkung dieser Politik weist Elemente eines kulturellen Genozids auf.

Die Besetzung Tibets stösst nach wie vor ungebrochen auf heftigen und anhaltenden tibetischen Widerstand. In 2008, als es zu weitverbreiteten Demonstrationen über das ganze tibetische Hochplateau kam, war es bereits die dritte Generation von Tibetern – geboren und aufgewachsen unter chinesischer Herrschaft – die sich gegen die Unterdrückung erhoben hat. Seither hat die chinesische Regierung das Militär und die Sicherheitskräfte in tibetischen Gebieten massiv verstärkt. An vielen Orten herrscht ein Zustand der Belagerung. Viele bezeichnen die Situation faktisch als einen nicht-deklarierten Kriegsrechtszustand. Ausländische Korrespondenten und Diplomaten können tibetische Gebiete nicht bereisen.

Der Dalai Lama hat stets die Ansicht vertreten, dass das 20. Jahrhundert ein Jahrhundert des Krieges und Blutvergiessens gewesen ist. Aus diesem Grund wird er nicht müde, die Menschen aufzurufen, das 21. Jahrhundert zu einem Jahrhundert des Dialogs und der Gewaltlosigkeit zu machen. Mit dieser Geisteshaltung hat der Dalai Lama auch im Falle Tibets versucht eine friedliche Lösung für das Tibet-Problem zu finden. Er hat keine Mühe gescheut, im Dialog mit der chinesischen Regierung eine echte Autonomie für das tibetische Volk im Rahmen der Volksrepublik China zu erreichen.

Leider haben die bisherigen Gespräche mit der chinesischen Führung keine Verbesserung der Lage der Tibeter in Tibet oder eine Annäherung der Positionen und Standpunkte gebracht. Die chinesische Regierung hat alle tibetischen Vorschläge als Forderung nach Halb-Unabhängigkeit oder verdeckter Unabhängigkeit zurückgewiesen. Der chinesische Standpunkt war, dass es kein Tibet-Problem und keine Tibet-Frage. Verhandelt werden könne nur über die persönlichen Privilegien und Zukunft des Dalai Lama.

Der Dalai Lama hat jedoch unmissverständlich klar gemacht, dass er in persönlicher Angelegenheit nichts mit der chinesischen Führung zu besprechen habe.

Offensichtlich fehlt es der Führung in Peking an politischem Willen, eine einvernehmliche Lösung des Tibet-Problems zu suchen. So lange die chinesische Regierung Tibet als erobertes Land und die Tibeter als besiegtes Volk behandelt, so lange wird der Widerstand des tibetischen Volkes anhalten. Die Tibeter, die heute in Tibet demonstrieren oder sich selbst aus politischem Protest verbrennen sind nicht nur Mönche und Nonnen, sondern auch Bauern, Nomaden, Angestellte und Studenten.

Mit der unnachgiebigen Haltung in der Tibet-Frage stellt sich die chinesische Regierung auf die falsche Seite der Geschichte. Chinesische Intellektuelle in China üben öffentliche Kritik gegenüber der Tibet-Politik ihrer Regierung. Chinesische Anwälte melden sich freiwillig, verhaftete tibetische Demonstranten vor Gericht zu vertreten. Die Zahl von Chinesinnen und Chinesen steigt stetig, die sich für den tibetischen Buddhismus interessieren und religiöse Belehrungen von tibetischen Lamas empfangen. Diese Menschen und Chinesinnen und Chinesen wie die Unterzeichner der Charta 08, die für mehr Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit kämpfen, werden die Entwicklung Chinas mehr prägen, als die rückwärtsgewandte Politik der Kommunistischen Partei Chinas. Diese Kräfte  repräsentieren das China von Morgen. Der Trend der Entwicklung und Geschichte in China ist in Richtung mehr Öffnung und mehr Freiheit und Demokratie. Daher besteht allen Grund zu Optimismus, was die Verbesserung der menschenrechtlichen Lage in Tibet und eine einvernehmliche Lösung des Tibet-Problems in der Zukunft betrifft.

Der Autor ist Sonderrepräsentant des Dalai Lama für Europa.

 

Europas Beitrag zur friedlichen Lösung der Tibetfrage

Erstellt am 14. März 2013

Im Rahmen der Solidaritätskundgebung vom 10. März 2013 in Brüssel sprach Kelsang Gyaltsen, Sondergesandter des Dalai Lama, über die Rolle Europas in der Tibetfrage. In seiner Rede ruft er Europa dazu auf, für seine Werte wie Gleichheit und Würde jedes Individuums, Menschenrechte, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit einzustehen – auch gegenüber China. Stattdessen wählen viele westliche Staaten den Weg der «stillen Diplomatie», um China keine Blösse zu geben. Doch der Preis dafür, dass China die Umsetzung der Menschenrechten, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit diktiert, ist hoch. Es ist an der Zeit für Europa sich gegen die Tyrannei Chinas zu wehren und sich für die Tibeter einzusetzen, die für die Freiheit ihr Leben opfern.

Hier finden Sie die Rede des Autors zum 10. März an der Kundgebung in Brüssel (engl.)

 

 

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