Allgemein Politik

Ein Leben ohne Identität: Tibetische Flüchtlinge in Nepal

Greenpeace Magazin, 12.7.13, Pratibha Tuladhar, Pokhara –
Als im Jahr 1959 der Dalai Lama ins indische Exil floh, machten sich auch die Eltern von Tsultrim Dorjee auf den Weg. Sie gehörten zu den ersten 20 000 tibetischen Flüchtlingen, die nach der chinesischen Besetzung ihres Landes in Nepal ankamen. Der einmonatige Marsch durch das Hochland war für die Familie nervenaufreibend und tragisch. Noch bevor die Familie ihr Ziel erreichte, verlor die Mutter fünf ihrer Söhne und ihren Mann.

Dorjee wurde auf der Flucht geboren. Heute ist er 54 Jahre alt. Sein Haar ist grau, tiefe Falten zeichnen sich um seine Augen ab. Er ist Sozialarbeiter in einem Flüchtlingslager für Tibeter in Nepal. Ihre Geschichte ist auch seine: Dorjee wuchs in mehreren Flüchtlingslagern auf, eine Heimat ist ihm das Land nie geworden. «Ich spreche Nepalesisch und ich sehe aus wie ein Nepalese. Meinen Namen können die Nepalesen aber nicht richtig aussprechen», sagt Dorjee. Laut und deutlich sagt er dann seinen Vornamen – «Tsultrim». Auf tibetisch heiße das Moral.

Womit er aber am meisten zu kämpfen habe, sagt Dorjee, sei die mangelnde Anerkennung durch Nepals Regierung. In den 1950er und 1960er Jahren erhielten die tibetischen Flüchtlinge Ausweisdokumente, seit 1989 müssen sie ohne auskommen. Alte Papiere werden nicht erneuert. Heute hat die Hälfte der rund 13 500 tibetischen Flüchtlinge in Nepal keine Flüchtlingsausweise. Und ihre Zahl wächst, wie die Tibetische Exilregierung im indischen Dharamsala berichtet.

Dabei sind Papiere nicht nur zum Reisen notwendig. In Nepal braucht man sie, um ein Bankkonto eröffnen zu können, einen Führerschein zu beantragen, Arbeit zu finden, zu wählen oder zu studieren. «Einige bestechen Beamte und kaufen sich die Staatsbürgerschaft», erklärt Dorjee. «Aber nicht jeder kann das tun.» Pläne, tibetischen Flüchtlingen wieder Ausweise auszustellen, gibt es laut Innenministerium nicht.

Und damit nicht genug. «Der Staat hat immer wieder rigoros gegen tibetische Flüchtlinge durchgegriffen und dafür diverse Ausreden benutzt», sagt Bhawani Prasad Kharel, Generalsekretär der Organisation National Human Rights Foundation, die sich für die Rechte tibetischer Flüchtlinge einsetzt. Die Polizei nehme willkürlich Leute fest. Oft würden Fälle von Belästigung oder Erpressung nicht aufgeklärt. «In Nepal die Stimme zu erheben, ist für sie (die Flüchtlinge) nicht so leicht wie in Indien. Das liegt am Druck, den China auf die Regierung ausübt», sagt Kharel.

Nach der Gründung der kommunistischen Volksrepublik China 1949 war die Volksbefreiungsarmee 1950 in Tibet einmarschiert. Unter Druck gab Tibet seine Unabhängigkeit auf; der Region wurde eine weitreichende Autonomie zugestanden. Doch die chinesische Präsenz entwickelte sich immer mehr zur Zwangsherrschaft, Unruhen brachen wiederholt aus, am 10. März 1959 mündeten sie in einen Volksaufstand. Daraufhin floh der Dalai Lama, das religiöse Oberhaupt der Tibeter, mit Zehntausenden Tibetern ins indische Exil, andere retteten sich nach Nepal.

Auch in Indien, wo die meisten der rund 128 000 Exiltibeter leben, erhalten sie keine Pässe. «Wir werden von der indischen Regierung Staatenlose genannt, nicht einmal Flüchtlinge», sagt die Geschäftsführerin des Tibetischen Zentrums für Menschenrechte und Demokratie, Tsering Tsomo. Die Exilregierung in Dharamsala darf ihren «Bürgern» weltweit nur eine Art Geburtsurkunde ausstellen. Doch weil kein Land der Welt die tibetische Regierung anerkennt, hat dieses Dokument praktisch keinen Wert.

Die ersten Tibeter, die nach Indien kamen, erhielten eine Art Meldebescheinigung, die stets erneuert werden muss. Damit können sie innerhalb Indiens alles tun, außer wählen oder einen Regierungsjob antreten. Diese Bescheinigung ist Voraussetzung für ein indisches Identifikationszertifikat, mit dem Tibeter international reisen dürfen – sofern das Zielland das Dokument anerkennt. Deutschland und die USA tun das. Seit den 1970er Jahren aber, als Indien seine Beziehungen zu China verbessern wollte, ist der Weg zu einer Meldebescheinigung schwerer geworden. Einige Tibeter aus Nepal kommen über Indien an Papiere. Die beiden Länder teilt eine offene Grenze.

Seit 2009 haben sich weit mehr als 100 Tibeter aus Protest gegen die chinesische Besetzung ihrer Heimat mit Benzin übergossen und angezündet. Meist in China, doch auch in Indien und Nepal gab es Fälle von Selbstverbrennung. 2010 zündete sich ein tibetischer Mönch in einem Flüchtlingslager in Kathmandu an, im März 2013 starb ein Tibeter in der Hauptstadt Nepals nach einer Selbstverbrennung.

Das Problem der Tibeter in Nepal sei ein politisches, sagt Dorjee. «Wir haben keine Probleme auf der persönlichen Ebene, die Menschen hier haben uns immer willkommen geheißen. Das Problem liegt eher auf der politischen Ebene.» Nepal ist Dorjees Zuhause, sein Herz aber schlägt für Tibet. «Ich spreche mit den Alten über Tibet und daraus entsteht in meinem Kopf dann ein Bild von dem, was wir zurücklassen mussten.»

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