Proteste gegen „Massenlinien“-Kampagne zur totalen Überwachung –
Seit dem 28. September ereigneten sich im Bezirk Driru mehrere, teils gewaltsam niedergeschlagene Protestaktionen gegen die Kampagne zur totalen Überwachung und Kontrolle tibetischer Ortschaften. Die Proteste richteten sich gegen die Auflagen der sogenannten „Massenlinien“-Kampagne, die vom neuen Parteivorsitzenden Xi Jinping lanciert wurde.
Die Kampagne beinhaltet unter anderem die „Neun Dinge“, die jeder tibetische Haushalt besitzen muss: ein Portrait der chinesischen Führung, die chinesische Nationalflagge, Strassen, Wasser, Elektrizität, Radio und Fernsehen, Kommunikationsmittel, Zeitungen und Zugang zu Bibliotheken; sowie eine Reihe von Massnahmen zur politischen Überwachung der Haushalte und zur „Erhaltung der Stabilität“.
Am 28. September kam es zu einer ernsten Konfrontation mit Sicherheitskräften, als sich die Bewohner des Dorfes Mowa im Bezirk Driru, der Schauplatz von vier Selbstverbrennungen im vergangenen Jahr war, weigerten, auf den Hausdächern die chinesische Nationalflagge zu hissen und diese stattdessen in den nächsten Fluss warfen. Traditionell sind die Hausdächer den Gebetsfahnen vorbehalten. Nach unbestätigten Meldungen sollen Sicherheitskräfte Schüsse auf die protestierenden Tibeter abgegeben haben, die mit Stöcken und Steinen auf sie losgingen. Über Opfer ist nichts bekannt. Als sich die Nachrichten von dem Zusammenstoss verbreiteten, wollten 40 Tibeter aus benachbarten Dörfern eine Petition an die Behörden richten, von Gewalt abzusehen. Offiziere des Büros für Öffentliche Sicherheit (PSB) nahmen die 40 Tibeter fest und sollen sie mit Schlägen traktiert haben.
Gleichzeitig drohten die Behörden allen Beteiligten mit empfindlichen Strafen. Ihre Kinder würden von der Schule verwiesen, kranke Familienangehörige würden nicht mehr medizinisch behandelt, und das Sammeln des Raupenkeulenpilzes würde verboten. Letzteres ist für die zwangsweise sesshaft gemachten Nomaden eine schmerzhafte Massnahme, da der Verkauf des Pilzes, der als Heilmittel verwendet wird und einen hohen Preis erzielt, ihre einzige Einkommensquelle ist.
Mit der Festnahme der 40 Tibeter eskalierte der Protest weiter, und etwa 1000 Tibeter hielten abends einen Hungerstreik vor dem Gebäude der Bezirksregierung ab, die schliesslich die verhafteten Tibeter freiliessen. Einige von ihnen sollen schwere Verletzungen davongetragen haben.
Am 29. September traten etwa 4000 Schüler in Driru in einen Streik, nachdem sie hörten, dass die Behörden Kinder aus den Familien der Protestierenden von der Schule verweisen wollten. Daraufhin wurden die Schulen geschlossen und der Unterricht nur für 60 Kinder von chinesischen Regierungsangestellten fortgesetzt.
Am 2. Oktober blockierten Tibeter in Driru die Zufahrsstrassen aus Protest gegen die Gewaltanwendung im Dorf Mowa. Danach gelang es jedoch Sicherheitskräften, die Verstärkung von anderen Regionen erhielten, die Situation unter Kontrolle zu bringen. Sechs Kontrollpunkte wurden errichtet, und alle am Protest beteiligte Dörfer werden nun durch regelmässige Patrouillen überwacht. Am 4. Oktober konfiszierten Sicherheitskräfte die Mobiltelefone der Bewohner und löschten Fotografien der Protestaktionen. Viele Telefone seien bis heute nicht ihren Besitzern zurückgegeben worden.
Tibet auf dem Weg in den Polizeistaat?
Offizielle chinesische Medien berichteten im letzten Monat, dass über 60‘000 Kader zur Durchsetzung der diversen Kampagnen nach Tibet entsandt wurden, davon allein 18’00 nach Driru.
Über die Kampagne „Die Fundamente festigen – Nutzen für die Massen“, in der sich unter anderem Kader in Privatwohnungen einquartieren, hatte Human Rights Watch bereits in Sommer berichtet [vergl. Tibet-Information vom 7. Juli 2013; UM].
Seit Mai 2013 wird die Kampagne der „vereinten Haushalte“ betrieben. Demnach werden jeweils etwa 10 Haushalte mit unterschiedlichem sozio-ökonomischem Status zu einer Einheit zusammengefasst. In mindestens einem dieser Haushalte muss eine Person der Kommunistischen Partei angehören. Jeder Einheit wird ein „Inspektor“ zugeordnet, der ein besonderes Augenmerk auf Jugendliche und „problematische“ Mitglieder wie ehemalige politische Gefangene und Dissidenten richten soll. Auch sollen sich die Haushalte gegenseitig überwachen und verdächtige Tätigkeiten melden. In einem Bezirk in Shigatse wurden die Inspektoren mit Erkennungsmerkmalen wie roten Armbändern, Helmen, Trillerpfeifen, Taschenlampen, Stiefeln und Ausweisen ausgestattet. In einem Quartier von Lhasa wurden die Inspektoren auch aufgefordert, sich unter die Besucher von öffentlichen Orten wie Teehäusern zu mischen und verdächtige Aktivitäten umgehend der nächsten Polizeistation zu melden.
Insgesamt sind in den Bezirken von Lhasa und Shigatse bereits über 30‘000 Haushalte mit der Kampagne erfasst. Nach Einschätzung von TCHRD ist das Ausmass der Überwachung so übermächtig, dass sich viele Tibeter in ihr Schicksal ergeben und resignieren. Die Kampagne soll grössere Proteste wie etwa gegen die zwangsweise Räumung der Verkaufsstände auf dem Pilgerweg Barkhor, die einem Einkaufszentrum weichen sollen [vergl. Tibet-Information vom 22. Mai 2013; UM], im Keim erstickt haben.
Quellen: Tibetan Centre for Human Rights and Democracy TCHRD
Zusammengestellt für die GSTF von Dr. Uwe Meya