Allgemein Dalai Lama Schweiz

Die tibetischen «Waisenkinder», die keine Waisen waren – NZZ und SRF2 Kultur

Schweizer Radio und Fernsehen, 26.11.13, Sabine Bitter –

Kinder aus Tibet: Waisen, die keine waren

In den 1960er Jahren wurden angebliche Waisenkinder aus Tibet in die Schweiz geholt und damit vor den chinesischen Kommunisten «gerettet». Der Film «Tibi und seine Mütter» von Ueli Meier zeigt, dass diese vermeintliche Hilfe ein weiteres, dunkles Kapitel des Schweizer Pflegekinderwesens ist.

Als die ersten «Tibeterli» 1960 auf dem Flughafen Kloten landeten, war das Entzücken gross: Die Schweiz zeigte sich als humanitäres Land, das Waisenkinder aufnahm, die auf der Flucht vor den chinesischen Kommunisten ihre Heimat Tibet und ihre Eltern verloren hatten.

Doch diese Selbstdarstellung mitten im Kalten Krieg war nur die halbe Wahrheit, wie der Kino-Dokumentarfilm «Tibi und seine Mütter» des Regisseurs Ueli Meier zeigt. Der Filmemacher porträtiert darin «Tibi», der 1963 als Siebenjähriger in eine Pflegefamilie in die Schweiz gekommen war und später als Erwachsener seine leiblichen Eltern in Indien suchte und fand.

Die „Waisen“ hatten sehr wohl Eltern

Tibi Lhundub Tsering gehörte zu den 200 Kindern, die ein Industrieller aus Olten, Charles Aeschimann, zwischen 1961 und 1964 in die Schweiz geholt hatte. Für seine private Pflegekinder-Aktion hatte er sich mit dem religiösen Führer der Tibeter, dem Dalai Lama, persönlich abgesprochen.

Doch bald stellte sich heraus, dass die Kinder, die so ins Land geholt und als Waisen ausgegeben wurden, gar keine Waisen waren. Sie wurden vielmehr aus einem Kinderheim, das die älteste Schwester des Dalai Lama führte, in die Schweiz verschickt, um hier eine Ausbildung zu bekommen und dereinst als westlich gebildete Elite zurückzukehren. Im Fall von «Tibi» lag dafür allerdings kein Einverständnis seiner Eltern vor.

Dunkles Kapitel

Ueli Meier wirft mit seinem Film eine Reihe von Fragen auf, die brisanten Stoff für Historikerinnen und Historiker abgeben dürften: War diese private Pflegekinder-Aktion legal, wenn Kinder hier auf Wunsch des Dalai Lama aufgenommen und gar adoptiert wurden, ohne dass das Einverständnis der leiblichen Eltern vorlag?

Muss man von Kinderhandel sprechen, wenn Charles Aeschimann im Gegenzug aushandelte, dass er selbst zwei «Tibeterli» zur Adoption bekam? Und: Warum haben die Behörden in der Schweiz – wider besseren Wissens – das falsche Bild der Waisenkinder nicht korrigiert? Dies stellt ein weiteres dunkles Kapitel in der Geschichte des Schweizer Pflegekinderwesens dar.

 

Die tibetischen «Waisenkinder», die keine Waisen waren

NZZ-Schweiz, 11.09.2013 von  Marcel Gyr –
Auf Privatinitiative kamen vor 50 Jahren 200 tibetische Pflegekinder in die Schweiz, obwohl sie zumeist noch Eltern hatten. Der Filmemacher Ueli Meier beleuchtet ein dunkles Kapitel Zeitgeschichte, in dem der Dalai Lama eine wichtige Rolle spielt.

AnkunftTibeterkinderTibifilm
Als der junge 14. Dalai Lama 1959 vor der chinesischen Besetzungsmacht aus Tibet flüchtete, folgten ihm Zehntausende von Landsleuten nach Nepal und ins nördliche Indien. In den dortigen Flüchtlingslagern herrschten prekäre Verhältnisse, auf die damals auch die offizielle Schweiz reagierte. Im März 1963 bewilligte der Bundesrat, ähnlich wie derzeit im Fall von Syrien, ein Kontingent von tausend Flüchtlingen. Ausgewählt wurden zumeist vollständige Familien. Angekommen in der Schweiz, wurden die Flüchtlinge schwerpunktmässig placiert, anfangs etwa im appenzellischen Waldstatt, später im zürcherischen Rikon.
Den Eltern entrissen

Noch vor der offiziellen Schweiz war jedoch auf privater Basis bereits Charles Aeschimann aktiv geworden, ein Industrieller aus Olten, der über dreissig Jahre lang bei der Elektrizitätsgesellschaft Atel in führenden Positionen tätig war. Vom Dalai Lama bekam Aeschimann ab 1960 insgesamt drei Adoptivkinder zugesprochen. Im Gegenzug versprach der einflussreiche Industrielle dem geistlichen Oberhaupt des tibetischen Volkes, 200 Kinder in der Schweiz bei Pflegeeltern beziehungsweise im Kinderdorf Pestalozzi in Trogen zu placieren. Aber nur 19 dieser Kinder waren Vollwaisen, wie Aeschimann später in einem Bericht festhielt. Die grosse Mehrheit der Kinder hatte, entgegen der Erwartung der Öffentlichkeit, in Tibet mindestens einen Elternteil, häufig sogar beide.

Anfang Jahr lief in den Kinos der Dokumentarfilm «Tibi und seine Mütter» des Zürcher Filmemachers Ueli Meier. Darin wird auf eindrückliche Weise das Schicksal eines solchen Pflegekindes in der Person des heute 57-jährigen Sozialpädagogen Tibi Lhundub Tsering gezeigt. Er war 1963 seiner tibetischen Mutter, ohne deren Wissen und Einverständnis, entrissen worden. Seine leibliche Mutter sah Tibi erst wieder als junger Erwachsener.

Im Laufe seiner Recherchen ist der Filmemacher Meier auf aufschlussreiche Dokumente gestossen, die er jetzt im Bonusmaterial der DVD-Edition seines Films zeigt. Die vorgelegten Dokumente veranschaulichen insbesondere die divergierenden Interessen der beiden Verantwortlichen. Während Aeschimann aus persönlichem Interesse unbedingt ein Flüchtlingskind will, hat der Dalai Lama die Absicht, mit der Entsendung der Kinder die zukünftige Elite seines Volkes heranzubilden.

Nach Indien zurückgekehrt, um dort, wie vom Dalai Lama geplant, als Ingenieur, Architekt, Arzt oder Lehrer der tibetischen Diaspora zu dienen, ist von den 200 Pflegekindern aber keines. Demgegenüber verursachte die unfreiwillige Trennung von den leiblichen Eltern bei vielen – wenn auch nicht bei allen – Betroffenen seelische Wunden, die bis heute nicht verheilt sind.

Wie Aeschimann 1978, drei Jahre vor seinem Tod, in seinem Abschlussbericht festhielt, war der Auslöser für seine unkonventionelle – und nach heutigen Massstäben unhaltbare – Pflegekinderaktion eine kurze Zeitungsnotiz von August 1959. Wie ein Blick ins NZZ-Archiv zeigt, dürfte es sich um eine Meldung in der Morgenausgabe vom 3. August gehandelt haben. Darin ersucht der Dalai Lama die USA und andere Länder, tausend jungen Tibetern «als zukünftigen Führern seines Volkes eine Erziehung zu vermitteln».

Für Aeschimann war das die Initialzündung, sich beim Dalai Lama zu melden. Was er in seinem Bericht hingegen nicht schreibt: Bereits einige Jahre zuvor hatte er sich beim Roten Kreuz um die Aufnahme eines Waisenkindes aus dem Koreakrieg beworben. Das Gesuch wurde abgelehnt, wie Aeschimanns Sohn Jacques in der DVD-Edition von Meiers Film erzählt. Die Gründe für die Ablehnung nennt der Sohn nicht.

Das Ehepaar Aeschimann hatte drei leibliche Kinder, die damals flügge wurden. Die Rückweisung als Adoptiveltern hat doppelte Brisanz. Wenig später führte Charles Aeschimann nämlich mit fast 300 Eltern, die sich bei ihm um ein tibetisches Pflegekind beworben hatten, selber Gespräche, um deren Eignung abzuklären. Gleichzeitig schlug er die Einwände des Roten Kreuzes, das sich von Beginn weg vehement gegen seine Aktion wandte, in den Wind.

Doch zurück zur kurzen Zeitungsnotiz von August 1959. Den Kontakt zum Dalai Lama im indischen Exil stellte der österreichische Bergsteiger Heinrich Harrer her, der eine Zeitlang am Hof des Dalai Lama gelebt hatte. Seine Erlebnisse hielt Harrer im Buch «Sieben Jahre in Tibet» fest, das später mit Brad Pitt verfilmt wurde.

Über einen Bruder des Dalai Lama, Thubten Norbu, der damals für einige Monate bei der Uno in Genf stationiert war, wurde der Familie Aeschimann im August 1960 ein erstes tibetisches Kind vermittelt. Zwei Monate später trafen die vermeintlichen Waisenkinder in der Schweiz ein, wie dies mit dem Dalai Lama vereinbart worden war. Wie der Filmemacher Meier im Booklet zur DVD festhält, stellte sich alsbald heraus, dass es sich in diesen Fällen vorwiegend um Kinder von oftmals politisch einflussreichen Adelsfamilien handelte, deren Eltern noch lebten.

Derweil gewann die Pflegekinderaktion in der Schweiz an Dynamik. Geschickt spannte Aeschimann die Schweizer Medien ein. So schrieb der Publizist Werner Wollenberger im «Nebelspalter» einen flammenden Aufruf. Die tibetischen Flüchtlingskinder, «diese kleinen Wesen», würden im Klima ihres Exillandes Indien wie die Fliegen wegsterben, schrieb Wollenberger. «Jeder Tag, der ungenutzt und ohne Hilfe vergeht, bedeutet viele kleine Tode.»

Der Aufruf fand ein überwältigendes Echo. Gegen 300 Familien bewarben sich um ein tibetisches Flüchtlingskind. Sämtliche Bewerbungen gelangten an Aeschimann, der als Laie die Auswahl der Familien vornahm. Zwischen 1961 und 1964 gelangten gruppenweise 200 Kinder aus Tibet in die Schweiz. Rund 40 von ihnen lebten fortan im Pestalozzidorf in Trogen, 158 wurden in den von Aeschimann ausgewählten Familien placiert. Die Auswahl der Kinder im Heim für tibetische Flüchtlingskinder im indischen Dharamsala wurde von Tsering Dolma vorgenommen, der älteren Schwester des Dalai Lama.

Zu Beginn verfügte Aeschimann, der kraft seiner führenden Stellung in der Elektrizitätswirtschaft bestens mit den Bundesbehörden vernetzt war, noch keine Bewilligung für seine private Pflegekinderaktion. Erst Mitte September 1961, als sich die erste Gruppe bereits in der Schweiz befand, kam es zur entscheidenden Besprechung mit den eidgenössischen Polizeibehörden. Wie eine Aktennotiz zeigt, die Meier im Bundesarchiv fand, standen die Behörden dem Projekt äusserst skeptisch gegenüber. Es sei den Kreisen um Herr Aeschimann klar, dass eine Rückkehr der Kinder nach Asien in den meisten Fällen nicht infrage komme, hält der Chef der Polizeiabteilung in der Aktennotiz fest.

Die Spitzenbeamten warfen an der Besprechung zudem die Frage auf, ob nicht mit den beachtlichen finanziellen Mitteln, die für einige wenige Kinder eingesetzt würden, in den Flüchtlingslagern Tausenden weit effektiver geholfen werden könnte. Die Empfehlung, sich diesbezüglich mit dem Roten Kreuz in Verbindung zu setzen, wies Aeschimann mit fadenscheinigen Begründungen ab. Trotz all diesen Vorbehalten gab der Chefbeamte, nicht zuletzt aufgrund des öffentlichen Drucks, schliesslich sein Einverständnis, die tibetischen Kinder als Flüchtlinge anzuerkennen.

Ohne Konsequenzen blieb auch ein vertrauliches Schreiben des damaligen Schweizer Botschafters in Indien. Dieser gab im Februar 1963 seine «Entdeckung» kund, dass ein guter Teil der in Dharamsala ausgewählten Pflegekinder noch beide oder zumindest einen Elternteil besitze. Der Botschafter warnt im Schreiben eindringlich vor den zu erwartenden «menschlichen und geistigen Schwierigkeiten», da es sich bei den Pflegekindern nicht um Vollwaisen, sondern um «vertraglich abgetretene Fürsorgeobjekte» handle. Damit spielte der Botschafter auf das «Agreement» an, das zwischen Aeschimann und dem Dalai Lama abgeschlossen worden war. Im Vertrag werden die Pflegeeltern auf einer A4-Seite verpflichtet, den Kindern die tibetische Kultur zu vermitteln und sie zu einer Rückkehr anzuhalten.

Das Rote Kreuz war früh bemüht, die tibetischen Eltern ausfindig zu machen und den Kontakt mit den ihnen entrissenen Kindern wieder herzustellen. Das konnte menschliche Tragödien nicht verhindern. Viele tibetische Flüchtlingskinder wollten ihre leiblichen Eltern nie wieder sehen oder wandten sich nach einer vorsichtigen Kontaktaufnahme schmerzvoll von ihnen ab, weil sie sich verstossen fühlten.
Doppelte Aussenseiter

Schon wenige Jahre nach der Ankunft in der Schweiz hatten rund 90 Prozent der «Aeschimann-Kinder» die tibetische Sprache verloren. Allein schon dies erschwerte später den Austausch mit den leiblichen Eltern. Auch innerhalb der tibetischen Exilgemeinde in der Schweiz blieben die «Aeschimann-Kinder» vielfach Aussenseiter. Im Gegensatz zu den Kindern im Kinderdorf Pestalozzi oder zu den regulären Flüchtlingen, die im Familienverband in die Schweiz gekommen waren, sprachen sie kein oder nur wenig Tibetisch, weshalb sie oft gehänselt wurden.

 

 

Stellungnahme zum Interview mit Migmar Raith:

„Ich kann die zwei Welten in Einklang bringen“ NZZ vom 12. September 2013

Ich möchte eine Erklärung zur Entstehung dieses.  Interviews geben. Dieses Interview basiert auf zwei Telefongesprächen im Juni und Juli, welche beide je eine Stunde gedauert haben. Im August hatte ich den Journalisten persönlich zu einem Gespräch in Zürich getroffen. Er konnte mir nie den Zeitpunkt des Erscheinens des Interviews voraussagen. So habe ich bis zum Erscheinen des Interviews vom Journalisten nichts mehr gehört und konnte die Endfassung des Interviews nicht gegenlesen.

Es war nie mein eigener Gedanke und überhaupt meine Absicht von SHDL eine Entschuldigung in dieser Sache der Pflegekinder-Aktion zu verlangen.

Ich habe dem Journalisten von der Privataudienz SHDL mit den Pflegekindern und den Schweizer Pflegeeltern 2005 in Oerlikon erzählt, bei der SHDL sich für die Anliegen der ehemaligen Pflegekinder Zeit genommen hat und auf kritische Fragen eingegangen ist und persönliche Erklärungen abgegeben hat. Darüber hat der Journalistin seinem Artikel leider überhaupt nicht berichtet.

 

Leserbrief von Migmar Raith

Mit grossem Erstaunen habe ich das Interview mit mir in der NZZ vom 12. September gelesen. Ich möchte hier festzuhalten, dass das Interview keine Autorisierung von mir erhalten hat.

Die tendenziöse Aufmachung und die Formulierungen im Schlussteil des Interviews entsprechen nicht meinen Gedanken. Es liegt mir nichts ferneres, als vom Dalai Lama eine Entschuldigung, in welcher Form auch immer, für die Tibeter-Pflegekinderaktion von 1961-1964 zu verlangen. Eine solche Forderung wurde im Artikel «Eine Entschuldigung des Dalai Lama wäre enorm wichtig» in der NZZ vom 11. September 2013 vom aussenstehenden Filmemacher Ueli Meier kundgetan.

In Gesprächen mit Marcel Gyr habe ich darauf hingewiesen, dass der Dalai Lama mehrmals in der Vergangenheit mit ehemaligen tibetischen Pflegekindern zusammengekommen ist, und sich dabei stets Zeit genommen hat, um sich mit uns über die aktuelle Situation und unseren Schwierigkeiten auszutauschen. Diese Begegnungen haben uns ehemaligen Pflegekindern die Gelegenheit geboten, den Dalai Lama über die damaligen Umstände in Indien zu fragen, die zur Pflegekinderaktion geführt haben. Des Weiteren hat der Dalai Lama die Pflegekindergruppe immer wieder aufgemuntert, sich in die tibetische Exilgemeinschaft in der Schweiz zu integrieren, und gleichzeitig hat er auch sein Vertretungsbüro in Genf sowie andere tibetische Organisationen aufgefordert, den Kontakt zu uns zu pflegen.

Vor diesem Hintergrund kann ich nur zum Schluss kommen, dass das gedruckte Interview mit Absicht gewisse Aussagen zurechtbog und mir dabei Gedanken und Äusserungen in den Mund gelegt wurden, die keineswegs meiner Haltung entsprechen, jedoch die Entschuldigungsforderung von Ueli Meier zu unterstreichen versucht.

Mit freundlichen Grüssen

Migmar W. Raith, Basel

 

 

Entgegnungen von betroffenen ehemaligen tibetischen Pflegekindern

Die NZZ hat in ihrer Ausgabe vom Mittwoch, 11. September 2013 einen Artikel über die Aktion tibetische Pflegekinder veröffentlicht. Der Hauptartikel mit der Überschrift „Der Dalai Lama im Zwielicht:  Die tibetischen «Waisenkinder», die keine Waisen waren“ enthält eine Reihe von Aussagen, die nicht von Fakten gestützt sind. Es ist bedauerlich, dass fehlende Sorgfalt bei der Recherche und der ungebremste Wunsch eine brisante Schlagzeile zu liefern, eine kritische und ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Thema verhindert haben.

Wir, die Unterschreibenden, wollen mit unserer Darstellung, dazu beitragen, dass die Öffentlichkeit korrekt informiert wird.

Zakay Reichlin, Tseten Allemann, Dorjee Phuntsok, Rinchen Reichlin, Yeshi Sigfried, Jamyang Reichlin (ehemalige Pflegekinder)

Die NZZ hat in der letzten Woche eine Artikelserie über die Pflegekinderaktion veröffentlicht. Der Hauptartikel mit der Überschrift „Der Dalai Lama im Zwielicht:  Die tibetischen «Waisenkinder», die keine Waisen waren“ enthält eine Reihe von Aussagen, die nicht von Fakten gestützt sind. Es ist bedauerlich, dass fehlende Sorgfalt bei der Recherche und der ungebremste Wunsch eine brisante Schlagzeile zu liefern, eine kritische und ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Thema verhindert haben.

Die nachfolgenden Bemerkungen dienen zur Klarstellung der gröbsten Fehler im Bericht.

Das Kinderheim in Dharamsala war zu jener Zeit ein einfaches Haus, eigentlich ein Schlafsaal mit Kajüten-Betten, wo fünf bis sieben Kinder auf einer Matratze schliefen. Essen gab es oft nicht genug. Und es kamen immer mehr und mehr Kinder. Viele der Kinder litten an Krankheiten. Tuberkulose, Ekzeme aller Art, Mittelohrenentzündungen, schlecht heilende Wunden, Bandwurm etc. gehörten zum Alltag. Die sanitären Bedingungen waren unvorstellbar primitiv und mitverursachten eine enorm hohe Kindersterblichkeit. Ueli Meier und Marcel Gyr können sich das nicht vorstellen.

Unter diesen Bedingungen haben der Dalai Lama und die anderen tibetischen Verantwortlichen Lösungen gesucht, um die Not der Kinder und ihrer Eltern zu lindern.  Es begann damit, dass man Kinderheime aufbaute und die Ernährungssituation zu verbessern versuchte. Erst nach Jahren gelang es auch den letzten Tibetern, die im indischen Strassenbau arbeiten mussten, eine feste Bleibe zu finden.

Trotz dieser Not herrschte ein Optimismus und eine Hoffnung unter den Tibetern, dass mit einer besseren Ausbildung für diese Kinder, es den Tibetern gelingen könnte, die „Rückständigkeit“ zu überwinden. In ganz Asien und in der dritten Welt herrschte damals die Vorstellung, dass dies in erster Linie mit moderner Bildung zu bewerkstelligen sei. Diese Vorstellung herrschte auch unter den damaligen tibetischen Verantwortungsträgern.

Wir wurden also in die Schweiz geschickt. Zum einen um der Not zu entfliehen und zum anderen eine solide Ausbildung zu erhalten. Wer die Bilder von uns damals  – Kinder die unter Bandwürmern, Läusen und Unterernährung litten – sehen würde, müsste sehen, wie die eigentliche Ausgangslage gewesen ist. Das mit Elitenbildung gleichzusetzen ist absurd.

Es gibt einen Briefwechsel zwischen dem Dalai Lama und Charles Aeschimann, der auch dem Filmemacher und der NZZ zur Verfügung gestanden hätte, der klar zeigt, dass man beim elterlichen Hintergrund der Kinder absolut transparent vorgegangen ist. In diesen Listen war dargestellt, wer von den Kindern Eltern besass und wer nicht.

Dass in der Notlage der frühen 60er der Dalai Lama eine Lösung suchte und mit Charles Aeschimann die Pflegekinder Aktion ins Leben rief zeugt für mich von Menschlichkeit und Hilfsbereitschaft. Auch dass die Pflegeeltern einen Vertrag unterschreiben mussten, um ein Kind zu bekommen zeugt von Weitsicht und Sorgfalt. Wir finden es beschämend, dass Charles Aeschimann und der Dalai Lama, die in einer Notlage halfen, nun als Kinderhändler dargestellt werden.

Marcel Gyr, schreibt über die „Pflegekinderaktion von Charles Aeschimann so, wie wenn die Bemühungen des Industriellen aus Olten auf der ganzen Linie eine sehr fragwürdige und nur auf persönliche Vorteile bedachte Aktion gewesen wäre und als ob die ganze Aktion eine unmenschliche Seite gehabt hätte. Um seine Aussage „Den Eltern entrissen“ zu unterstreichen bezieht er sich auf das vom Zürcher Filmemacher Ueli Meier „Tibi und seine Mütter“ dokumentierte Einzelschicksal. Darin wird das Schicksal eines solchen Pflegekindes in der Person vom 57-jährigen Tibi Lhundub Tsering gezeigt. Er war, so die Darstelllung im Film, 1963 seiner tibetischen Mutter, scheinbar ohne deren Wissen und Einverständnis entrissen worden.

Tatsache ist aber, dass wir, die wir damals in diesen Kinderheimen lebten, von unseren Familien ohnehin getrennt waren. Unsere Eltern haben uns in dieser Zeit in diese Kinderheime gebracht, weil sie, die vorwiegend im indischen Strassenbau arbeiteten, mit ihrer Arbeit die Familie nicht versorgen konnten.

In der Diskussion zum Artikel erinnerte sich ein ehemaliges Pflegekind: «Ich habe damals als Kind verstanden, dass ich in der Schweiz eine Chance erhalte, eine Ausbildung zu erhalten. Es war mir und meiner Familie klar, dass ich in Indien diese Möglichkeit nicht erhalte. Mein Vater hat mich bis zu meiner Abreise begleitet. Deshalb ist es für mich als Betroffener unerklärlich, wenn verallgemeinert behauptet wird, dass die Kinder von „Den Eltern entrissen“ wurden.»

Deshalb fragen wir uns, was man mit solchen tendenziösen Untertiteln wie „Ein privates Pflegekinder-Abkommen zwischen einem Schweizer Industriellen und dem Dalai Lama wirft lange Schatten“, bezwecken will. Warum, fragen wir uns, wird nach teils über 50 Jahren eine Sache, die hauptsächlich uns ehemaligen Pflegekinder und Pflegeeltern etwas angeht, von Medienschaffenden auf diese unsorgfältige Art und Weise aufgegriffen und aufgebauscht.

Man könnte nach diesem NZZ-Bericht den Eindruck erhalten, dass die Verantwortlichen der Aktion wie auch die inzwischen erwachsenen Pflegekinder sich nie kritisch und aktiv mit dieser Thematik auseinandergesetzt haben.

Es ist ein Versäumnis des Artikels, dass das Treffen der Pflegekinder mit dem Dalai Lama in 2005 in Zürich im Bericht nicht erwähnt wird. An diesem Treffen wurde mit dem Dalai Lama und anschliessend mit seiner Schwester (Leiterin des Kinderheims) die Frage sehr offen erörtert, aus welchen Gründen die Aktion lanciert wurde, weshalb die Aktion gestoppt wurde und was getan werden kann, wie die ehemaligen Pflegekinder am besten am Leben der tibetischen Gemeinschaft teilhaben können. Gemeinsam mit unseren Pflegeeltern gab es ausserdem in den davor liegenden Jahrzehnten einige Gelegenheiten, mit dem Dalai Lama unsere Geschichte zu thematisieren.

Es ist klar, dass wir Schicksalsschläge zu bewältigen hatten:  Es betrifft den Einmarsch der Chinesen nach Tibet und die nachfolgende Flucht, die Trennung von unseren Eltern, die Ungewissheit, warum wir nicht mit den eigenen Eltern sind oder die erste Zeit in der Schweiz. Wir haben uns seit unserer Jugendzeit aktiv mit diesen Problemen auseinandergesetzt.  Wir empfinden es herablassend, dass man uns jegliche Kritikfähigkeit abspricht, nur weil wir keine „Entschuldigung“ vom Dalai Lama im Sinne von Ueli Meier fordern.

Herr Ueli Meier hat am diesjährigen Treffen der ehemaligen Pflegekinder teilgenommen. Es ist doch einigermassen irritierend, weshalb er nicht den Mut aufgebracht hat, mit uns Pflegekindern über seine Meinung (Entschuldigungsforderung) zu diskutieren. Ueli Meier entwertet mit seinen unbegründeten Aussagen seinen eigenen Film und hinterlässt nun ein schales Gefühl.  Im Gegensatz zu Herrn Gyr sind wir auch nicht der Meinung, dass es Ueli Meier gelungen ist, ein „dunkles Kapitel Zeitgeschichte“ zu beleuchten. Es drängt sich die Frage auf, ob da nicht jemand versucht, mit der Brechstange die Werbetrommel für seine DVD Edition zu puschen.

Charles Aeschimann hat mit seiner Initiative Hilfe geleistet, als Hilfe notwendig war. Herrn Aeschimann, der sich nicht mehr wehren kann, oder dem Dalai Lama, einen „Handel“ zu unterstellen, grenzt an Verleumdung. Deshalb meinen wir, dass im Grunde genommen Ueli Meier gegenüber dem Dalai Lama, der Familie Aeschimann und den ehemaligen Pflegekindern eine Entschuldigung aussprechen müsste.

 

 

Jeder hat sein „Bündeli“ zu tragen!

von Yangchen Büchli, ehemaliges „Aeschimann-Pflegekind“, Ex-Präsidentin der GSTF –

Die beiden ArAeschimann_Y_Büchi3tikel zu den sogenannten „Aeschimann-Pflegekindern“ aus Tibet hat mich sehr aufgewühlt, da ich als Betroffene ein Teil dieser 158 Kinder war.

Nun aber zu den Themen der zwei Artikeln: Ich fühle mich heute weder als eine Art Verdingkind noch als ein „Kind der Landstrasse“, das in einem „dunklen Kapitel schweizerischer Zeitgeschichte“ in die Schweiz gekommen ist. Dunkel war die Situation in Tibet und Indien damals für die tibetischen Kinder infolge der chinesischen Besetzung ihrer Heimat.

Dass unter diesen Umständen S.H. der Dalai Lama das Angebot des Schweizers Ch. Aeschimann als Chance zur Ausbildung für tibetische Kinder aus Kinderheimen Indiens wahrnahm, kann ihm sicher niemand ernsthaft, nach über 50 Jahren, vorwerfen. Natürlich wurden damals noch keine umfassenden sozialpädagogischen Massnahmen (Carlos…) ergriffen, um die ankommenden Kinder zu coachen. Diese Aufgabe wurde den Pflegefamilien überlassen. Dass die Schweizer Behörden bei der Auswahl dieser Familien Herrn Aeschimann freie Hand liessen, kann man heute natürlich nicht mehr nachvollziehen.

Wir Kinder mussten die für uns schockartig in unser kindliches Leben tretenden  schweizer Familien erst mal verdauen. Aber neben den tragischen Fällen von Suiziden in unserer Gruppe und einigen problematischen persönlichen Entwicklungen, haben die meisten Pflegekinder ihren Weg in der neuen Schweizer Kultur gefunden und sind heute als Lehrinnen, Ingenieure, Pflegefachleute, Künstler, Sozialpädagogen, Händler etc. selbstverantwotliche Schweizer Mitbürger geworden.

Die ursprüngliche Idee, als Experten wieder in die tibetische Exilgemeinde Indiens zurückzukehren, konnte nicht verwirklicht werden, da sie unrealistisch war. Aber ich persönlich habe während den letzten 40 Jahren einen intensiven Kontakt zu meinen tibetischen Eltern gepflegt und so trotz sprachlichen Hindernissen emotional einen Ausgleich gefunden. Als Fortsetzung meiner Biografie haben mein schweizer Ehepartner und ich zu unserem leiblichen Sohn ein tibetisches Mädchen adoptiert.

Ich frage mich immer wieder: Wo wären viele meiner tibetischen „Aeschimann-Freundinnen und Freunde“ und ich geblieben, hätten wir die frühe Chance, durch die inititative Handlung Seiner Heiligkeit, in die Schweiz zu kommen, nicht erhalten?

Und nun noch ein letzter Punkt: Der Dalai Lama solle sich bei mir als Pflegekind entschuldigen für seine Bemühungen vor über 50 Jahren um meine Zukunft! Aber hallo! Müssen sich Eltern noch als Grosseltern für Entscheidungen die sie für ihre Kindern nach bestem Wissen und Gewissen getroffen haben, bei ihren erwachsenen Kindern entschuldigen?

Woher nimmt eigentlich Filmemacher Ueli Meier das Recht, quasi im Namen der „Aeschimann-Kinder“ diese Forderung aufzustellen?
Und abgesehen davon: Im Rahmen seines Besuches in der Schweiz hat S.H. der Dalai Lama 2005 in Zürich eine Privataudienz für alle „Aeschimann-Pflegekinder“ durchgeführt. Diese 3-stündige Begegnung war sehr berührend und emotional abgelaufen. Ich fühlte eine sehr warme und väterliche Nähe, die Seine Heiligkeit uns „tibetischen Pflegekindern“ entgegenbrachte. Es sind dabei auch sehr viele Tränen geflossen. Die Worte Seiner Heiligkeit an diesem Treffen waren mehr wert als eine geforderte „Entschuldigung“, da Seine Heiligkeit mit ihnen seine Verantwortung für unser Schicksal ansprach und so zu uns eine direkte Verbindung entstehen liess. Der Repräsentant des Dalai Lama in Genf, erhielt den persönlichen Auftrag, sich unserer Gruppe zu widmen.

 

 

 

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  1. Karin Gerner

    An alle Tibeter und deren Freunde

    Was für ein Schock!

    Deshalb:

    Herzlichen Dank Migmar Raith und Yangchen Büchli für diese Richtigstellung.

    Alles Liebe und Gute wünscht Euch allen,

    Karin Gerner

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