Allgemein China

Chinas Religionskrieg

NZZ am Sonntag: 5.4.2015

Prügel, Inhaftierung, zerstörte Kirchen. 100 Millionen Chinesen glauben an den christlichen Gott, rasant werden es mehr. Der chinesische Atheismus bröckelt, die Partei reagiert mit Gewalt. Von Xifan Yang und David Hogsholt (Fotos)

Die Polizei hat die Strassen abgeriegelt, Warnungen ausgesprochen, ein Unterstützer wurde am Morgen unter Hausarrest gestellt. Dennoch sind fast tausend Menschen gekommen, Geschäftsleute im Anzug, Grossmütter, junge Angestellte. Sie stehen hinter einer Absperrung vor dem Gerichtsgebäude, protestieren stumm, ohne Banner und Parolen, viele beten. Auf der anderen Seite halten Sonnenbrillenträger Videokameras auf die Menge gerichtet. Geheimpolizisten in Zivil.

Es ist Dienstagmittag, der 24. März 2015, in der Kreisstadt Pingyang. Um 14 Uhr beginnt der Prozess gegen den Pfarrer Huang Ziyi, eingesperrt seit acht Monaten wegen «Anstiftung zu Chaos und Störung der gesellschaftlichen Ordnung». Huang ist 40, Vater von zwei Kindern, Fotos zeigen einen jugendlich wirkenden Mann mit modischem Kinnbart. Als der Staat am 21. Juli vergangenen Jahres seine Abrisstruppen schickte, um das Kirchturmkreuz seiner Gemeinde zu entfernen, rief er per Smartphone die Gläubigen um Hilfe. Hunderte stellten sich der Polizei entgegen. Auf den Videos, die kursieren, prügeln Uniformierte mit Schlagstöcken auf die Menschen ein, ein 70-Jähriger liegt mit einer blutenden Kopfwunde reglos auf dem Boden. Pfarrer Huang wurde als «Rädelsführer» verhaftet und sitzt seither hinter Gittern. Seine Frau durfte ihn noch nie besuchen.

Dem Erdboden

Die Anklage gegen Huang ist Teil einer Kampagne, die Chinas Christen seit knapp einem Jahr in Atem hält: In der Küstenprovinz Zhejiang wurden Hunderte Kirchen demoliert, mehr als zehn dem Erdboden gleichgemacht. Pfarrer wurden inhaftiert, Gläubige verhört, Dutzende bei Zusammenstössen mit der Polizei verletzt. Die Repressalien sind eine Machtdemonstration des Staates gegenüber der am schnellsten wachsenden christlichen Gemeinschaft der Welt: Kirchen haben in China mehr Zulauf denn je.

Als die Kommunistische Partei 1949 die Macht übernahm, lebten vier Millionen Christen im Land. Heute, da der Zusammenbruch kommunistischer Utopien und der Aufstieg des Turbokapitalismus ein gewaltiges Werte-Vakuum geschaffen haben, ist ihre Zahl auf ein Vielfaches gewachsen. Das amerikanische Forschungsinstitut Pew Research schätzt, dass 58 Millionen Protestanten und 10 Millionen Katholiken in China leben.

Der Soziologe Yang Fenggang von der amerikanischen Purdue-Universität meint, dass es inzwischen 100 Millionen Christen im Land gibt – weit mehr, als die Kommunistische Partei Mitglieder zählt. «2030 wird China die grösste christliche Nation der Welt sein», sagt Yang voraus. Für die kommunistische Führung, die einen strikten Staatsatheismus propagiert und jede Form von Organisation ausserhalb der Partei fürchtet, ist das ein alarmierender Trend.

Dass die Herrschenden nervös sind, lässt sich nirgendwo deutlicher beobachten als in Wenzhou, der Stadt, die als «Chinas Jerusalem» gilt. Unweit des Ortes, in dem Pfarrer Huang vor Gericht steht, liegt Wenzhou, eingeschlossen von Bergen, gelben Rapsfeldern und dem Meer. Schanghai ist vier Zugstunden entfernt. Besuchern, die über die palmengesäumten Alleen der wohlhabenden Küstenmetropole fahren, fallen neben den Luxusmalls als Erstes die Kirchen auf. Kirchen mit Kuppeln, Kirchen mit Spitztürmen, Kirchen mit Stucksäulen und meterhohen Mosaikfenstern. 1,2 Millionen von neun Millionen Einwohnern gehören protestantischen Gemeinden an, Hunderttausende besuchen katholische Kirchen. Viele Familien sind seit Generationen Christen, jahrzehntelang pflegte die Stadt einen toleranten Umgang mit ihnen. Bis Anfang vergangenen Jahres. Seither sieht man in Wenzhou immer öfter Kirchen ohne Kreuz.

«Nennen Sie mich Timothy», sagt der Pfarrer, der nicht mit seinem richten Namen in der Zeitung stehen will. Timothy ist 30, frisch vom Pfarrerkolleg, mit seiner dünn gerahmten Brille und dem bedruckten T-Shirt könnte man ihn für einen IT-Studenten halten. Er wartet in einem Vorort Wenzhous am Eingang seiner protestantischen Dorfgemeinde. Die Turmspitze wirkt wie amputiert, das rote Stahlkreuz lehnt neben dem Tor. Der Pfarrer schliesst eine Holztür auf. «Hundert Tage haben wir durchgehalten», sagt Timothy und zeigt auf die Kirchenbänke. Zeitweise hätten vierhundert Gläubige hier campiert.

Begonnen hat die Kampagne im April 2014, als der Provinzparteisekretär neben der Stadtautobahn eine neu errichtete Prachtkirche erblickte. Der Politiker, ein Buddhist, soll sich persönlich angegriffen gefühlt und sich über die immer zahlreicheren Kreuze in seinem Bezirk beschwert haben. Kurze Zeit später ordnete er die Sprengung des Neubaus an. Die offizielle Begründung: Verstoss gegen Baurichtlinien.

Im Juni erreichte auch Timothys Gemeinde ein Amtsschreiben. Wenn die Gemeinde ihr Kreuz auf dem Dach nicht freiwillig entferne, drohten die Behörden, werde ihre Kirche abgerissen. Als das Ultimatum verstrichen war, verbarrikadierten die Gemeindemitglieder drei Monate lang das Gebäude. «Jeden Tag beteten wir von morgens um fünf Uhr bis spät in die Nacht», sagt Timothy. Die Polizei fiel schliesslich mit 800 Mann ein. Eine schwarz uniformierte Spezialeinheit stürmte den Eingang, jagte die Gläubigen ins Freie und schlug das gesamte Kirchenmobiliar kurz und klein. Zwei Stunden später hatten die Beamten das Kreuz mithilfe eines Baukrans abmontiert. «Ihr tut viel Gutes, wir haben nichts gegen euch», habe ein Beamter gesagt. «Aber das hier ist Politik.» Mehr als 230 Gemeinden verloren nach ähnlichen Auseinandersetzungen ebenfalls ihr Kreuz.

Verwunderlich ist, dass die Kampagne bis jetzt offizielle Kirchen traf, die ohnehin der Aufsicht der Partei unterstehen. Der chinesische Staat erkennt fünf Glaubensgemeinschaften an: Buddhismus, Taoismus, Islam, Protestantismus und Katholizismus. Auf dem Papier garantiert die Verfassung Glaubensfreiheit. In der Praxis aber muss jede Religionsgemeinde von den Behörden genehmigt werden.

Subversive Stellen

Gottesdienste in den gesetzlichen Kirchen werden per Video überwacht, Pfarrer müssen von der Regierung genehmigt werden. «Subversive» Bibelstellen zu zitieren, ist verboten, die Episode im Alten Testament etwa, in der Daniel nach seiner Verschleppung ins Exil sich Befehlen widersetzt, den König anstatt Gott anzubeten. Auch Themen wie die Apokalypse oder die Eschatologie sind tabu. Stattdessen sollen Prediger die «harmonische Gesellschaft» propagieren.

57 000 registrierte protestantische Kirchen gibt es in China, daneben existiert eine weit grössere Zahl sogenannter Untergrundkirchen: inoffizielle Hausgemeinden, deren Mitglieder sich der staatlichen Kontrolle entziehen und sich heimlich treffen, in Privatwohnungen, in Büroräumen und verlassenen Fabriken.

Für Katholiken ist die Situation noch komplizierter: Der Staat lehnt die Autorität des Papstes ab und ernennt in den offiziellen Kirchen die Bischöfe selbst, katholische Untergrundgemeinden dagegen schwören dem Vatikan ihre Treue. 2014 wurde der Fall eines Schanghaier Bischofs zum Politikum, der noch bei seiner Ernennung bekanntgab, aus der offiziellen christlichen Vereinigung auszutreten. Daraufhin verlor er seinen Titel und wurde fünf Monate lang in einem Bergseminar festgesetzt.

Die ersten Missionare kamen im 19. Jahrhundert zusammen mit den europäischen Invasoren nach China. Bis vor wenigen Jahren haftete dem Christentum in der Bevölkerung der Ruf eines imperialistischen Glaubens an. Doch das Image wandelt sich rasant. «Das Christentum ist besonders attraktiv für Chinesen, weil es mit regelmässigen Gottesdiensten ihr Bedürfnis nach Gemeinschaft erfüllt», sagt Religionsforscher Yang Fenggang. «Unter Mao gab es die Volkskommune, später die staatlichen Arbeitseinheiten. Nach der Öffnung fielen diese Kollektive weg. Der schnelle ökonomische Wandel hat Unsicherheit und Zynismus geschaffen. Kirchen bieten sich als Zufluchtsort an.»

Genau diese Konkurrenz fürchte die Partei, die es nach wie vor mit Marx hält und die Religion als «Opium fürs Volk» verdammt. Gerne erinnert die KP an den Taiping-Aufstand Ende des 19. Jahrhunderts, als eine christliche Sekte einen Bürgerkrieg anzettelte, dem 25 Millionen Menschen zum Opfer fielen. In Funktionärskreisen wird gerne Polen in den achtziger Jahren zitiert: «Die Partei glaubt, dass die katholische Kirche damals den Niedergang des Kommunismus herbeigeführt hat», sagt Yang. «Daher erhöht sie den Druck auf Christen.» Alltägliche Bespitzelung, Polizeischikanen und willkürliche Ermittlungsverfahren sind weit verbreitet, immer wieder werden Führer von Untergrundkirchen verhaftet.

Die Repressionen gegen die Christen fallen in eine politisch angespannte Zeit: Staatspräsident Xi Jinping reisst alle Macht im Land an sich und geht mit Härte vor. Neben Menschenrechtsaktivisten, Journalisten, Wissenschaftern und Künstlern bekommen das nun auch Gläubige zu spüren. Im vergangenen Sommer forderte die Regierung, dass die christliche Theologie sich «an die nationalen Umstände Chinas anpasst». Ob Xi persönlich die Abrisskampagne gegen die Kirchen in Südchina angeordnet hat oder ob es sich um den Alleingang eines Provinzpolitikers handelt, der sich als Hardliner für höhere Ämter profilieren wollte, ist umstritten. «Doch es gibt zumindest eine interessante zeitliche Koinzidenz», sagt Professor Yang. «Alles deutet darauf hin, dass die Kontrollen weiter anziehen werden.»

Jung und gebildet

Sorge bereitet der Regierung nicht nur die Geschwindigkeit, mit der die christliche Bewegung wächst. Auch demografisch hat diese sich gewandelt: Beteten in den achtziger Jahren, als das Christentum nach dem Ende der Kulturrevolution erstmals wieder aufzublühen begann, überwiegend alte und ungebildete Leute vom Land zu Gott, konvertieren heute immer mehr junge, gebildete Städter zum Christentum. Ein Grossteil der Kirchgänger gehört der Mittelschicht an, die neuerdings nicht nur spirituellen Halt abseits von Parteiideologie und kapitalistischem Wettbewerbsdruck sucht, sondern auch zunehmend Freiheit und individuelle Rechte einfordert. Gefahr wittert die Regierung offenbar umso mehr, wenn, wie in der Stadt Wenzhou, Religion und Geld eine mächtige Allianz eingehen: 95 Prozent aller Unternehmen in der Stadt werden privat geführt, viele befinden sich in Händen reicher christlicher Familien.

Wer am Sonntagvormittag Gottesdienste in Wenzhou besuchen will, sieht vor jeder Kirche SUV und Mercedes-Limousinen vorfahren. Hinter einer Marmorfabrik im Norden der Stadt trifft man Herrn Wang, der einen schwarzen BMW X5 in eine Parklücke bugsiert. Wang, ein hagerer Mittdreissiger, trägt Hermès-Gürtel und teure Lederschuhe, er ist einer der «Boss-Christen», wie man sie in Wenzhou nennt: einflussreiche christliche Geschäftsleute. Wang ist Brillenunternehmer und Laienprediger einer Untergrundkirche. Hinter dem Parkplatz liegt das Gemeindehaus. Ein unscheinbarer, dreistöckiger Bau mit mehreren tausend Quadratmetern Fläche, mit Bibelschule, Küche und einem Speisesaal grösser als eine Turnhalle. Das Kreuz über dem Tor findet man nur bei genauem Hinsehen, versteckt zwischen zwei Plasticschildern. «Solange wir kein Aufsehen erregen, lassen die Behörden uns bis jetzt in Frieden. Dem Herr sei Dank», sagt Herr Wang. Er bittet, nur seinen Nachnamen zu nennen.

Im Kirchensaal im dritten Stock hält heute Wangs jüngerer Bruder die Sonntagspredigt. 200 Menschen stehen mit geschlossenen Augen in den Reihen und singen mit dem Kirchenchor mit, manche halten ihre Arme gen Himmel gestreckt. Frau Geng, eine stämmige Kioskbesitzerin Mitte fünfzig, kommen fast die Tränen, als sie über Gott spricht. Vor elf Jahren ist sie konvertiert, ihren Glauben beschreibt sie als «süssen Honig», der ihr die «Augen geöffnet» habe. «Würden alle Chinesen an Gott glauben, gäbe es keine Kriminellen mehr», sagt sie. Viele hier teilen neben einer Sehnsucht nach Nächstenliebe auch ein seit Generationen vererbtes Misstrauen gegenüber dem Staat. Unternehmer Wangs Grossmutter missionierte während der Kulturrevolution auf dem Land. «Zur Strafe wurde sie mit einer Schandhaube auf dem Kopf durch die Menge getrieben und in einen Schweinekäfig gesperrt», erzählt Wang. Maos Rotgardisten zerstörten Kirchen und schickten Gläubige in den Tod. Ende der achtziger Jahre nabelte sich Wangs Kirche von der staatlichen Vereinigung ab, seither ist sie faktisch illegal. «Die Politik sollte sich nicht in unsere Belange einmischen», sagt Wang. Die Mitglieder seiner Hausgemeinde verstehen sich als christliche Zivilbürger: Reiche Spender finanzieren Wohltätigkeitsgruppen, die sich um Arme und Kranke kümmern. Die Gemeinde vergibt Uni-Stipendien für Bauernkinder und schickt junge Geistliche an Pfarrerseminare ins Ausland; bald will sie eine Privatschule gründen. «Unsere Gemeinde ist noch vergleichsweise klein», sagt Wang. Andere Untergrundkirchen in Wenzhou haben bis zu 8000 Mitglieder.

Gott als Inspiration

Auch anderswo in China fungieren Christen längst als soziale Stützen des Gemeinwohls. Nach der Erdbebenkatastrophe 2008 schickten Kirchen aus allen Ecken des Landes Helfer vor Ort. Zurzeit rufen viele Gemeinden in China zu Geld und Kleiderspenden für die Kachins in Myanmar auf, eine christlichen Minderheit, die seit fast vier Jahren in einem blutigen Bürgerkrieg gegen die burmesische Armee kämpft. Mancherorts in China registrieren lokale Kader das soziale Engagement der Kirchen durchaus mit Wohlwollen. Doch die Furcht sitzt tief, dass es in politischen Aktivismus umschlägt. Den Mächtigen in Peking ist nicht entgangen, dass unter den Organisatoren der «Occupy Central»-Bewegung in Hongkong viele Christen waren, die in ihren Reden als Inspiration immer wieder Gott nannten.

Infolge der Anti-Kreuz-Kampagne sind offizielle und inoffizielle Kirchen zusammengerückt. Als in Wenzhou die Abrisstruppen gegen die offiziellen Kirchen vorrückten, eilten ihnen Anhänger der Untergrundkirchen zu Hilfe. Umgekehrt finden auch Prediger der Staatskirchen inzwischen deutliche Worte: 48 Stunden bevor der wegen «Anstiftung zu Chaos» angeklagte Pfarrer in der Kreisstadt Pingyang zu einem Jahr Gefängnis verurteilt wird, sitzt in einem elf Millionen teuren Kirchenbau der Gemeinde Liushui sein Kollege Zheng Lihua, 31. «Es kommt wie im alten Rom», sagt er. «Je mehr Druck es gibt, desto schneller wird sich das Christentum in China ausbreiten.»

Sichtbar wird der Widerstand auch 40 Kilometer weiter südlich im Dorf Zenshan: Seit 185 Tagen ist das Tor zur «Kathedrale der Gnade» mit tonnenschweren Gesteinsbrocken versperrt. Ein Wärter mit blauen Strickpantoffeln schlurft den Besuchern entgegen und öffnet eine kleine Gittertür. Hinter dem Tor stehen Container mit Schlafmatten auf dem Boden. «Falls sie wiederkommen, sind wir vorbereitet», sagt der Wärter. Er zeigt auf das schwarze Kreuz auf der grünen Kirchturmkuppel. Wie kommt es, dass es noch steht? «Viele unserer Kader im Rathaus», sagt der Mann und muss lachen, «glauben selbst an Jesus.»

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