Am 25. April wurde der 11. Panchen Lama Tibets, Gedhun Choekyi Nyima, 28 Jahre alt. Seit 2 Jahren, als er zusammen mit seinen Eltern von den chinesischen Behörden festgenommen wurde, ist er verschwunden. Der Fall des Panchen Lama ist einer der längsten gewaltsamen Entführungen auf der ganzen Welt. Die Antwort auf die Frage, wo er sich befinde, wird von der chinesischen Regierung als Top-Staatsgeheimnis behandelt.
Die letzte Information über das Schicksal des Panchen Lama gab es am 6. September 2015, als ein Funktionär des Einheitsfront-Department der TAR namens Norbu Dhondup auf Fragen der Medien antwortete, der Panchen Lama „führt ein normales, glückliches Leben, geniesst eine gute Erziehung und wünscht, nicht gestört zu werden“. Diese minimale und vage Antwort ähnelt früheren Aussagen chinesischer Amtspersonen über den Panchen Lama. Es fehlen jedoch sämtliche Beweise zur Bekräftigung dieser Behauptungen, die nur dazu dienen, Fragen der internationalen Gemeinschaft über die zwangsweise Verschleppung eines der wichtigsten geistlichen Würdenträger Tibets auszuweichen.
Die fortgesetzte geheime Festhaltung des Panchen Lama ist ein Akt von gewaltsamem Verschwinden lassen, ein „ernstes internationales Verbrechen“, eine Verletzung zahlreicher Menschenrechte und Grundfreiheiten, wie sie in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und anderen wichtigen Menschenrechtsinstrumenten verankert sind. Gewaltsames Verschwinden lassen bedeutet, dass die Betreffenden potentiell willkürlicher Festnahme, aussergerichtlicher Festhaltung, Folter, unmenschlicher Behandlung und gesetzwidriger Hinrichtung ausgesetzt sind. Von dem Augenblick an, in dem das Opfer in Haft genommen wird, ist es tage-, wochen-, ja sogar jahrelang von der Außenwelt abgeschnitten und ohne die Möglichkeit, mit Familienangehörigen oder Verwandten Kontakt aufzunehmen.
Die Tatsache, dass das Opfer von der Welt um sich herum vollständig isoliert ist und während der gesamten Dauer der Verschleppung ausserhalb des Gesetzes steht, charakterisiert das gewaltsame Verschwinden lassen als einen außergerichtlichen und somit kriminellen Tatbestand gemäss dem Völkerrecht. Sogar im chinesischen Recht werden im Art. 34 der Verfassung allen Bürgern grundlegende Menschenrechte gewährt – etwa das aktive und das passive Wahlrecht allen, die über 18 Jahre alt sind. Der Panchen Lama ist jetzt 28 Jahre alt und braucht keine staatliche Aufsicht, um ein normales Leben führen zu können.
Entsprechend der Zielsetzung des chinesischen Staates ist die Festhaltung des Panchen Lama charakteristisch für die atheistische Politik der KPC zur Kontrolle und zum Umgang mit der tibetischen Religion. Seit den Massnahmen von 2007 zum „Management der Wiedergeburten von Lebenden Buddhas“ im tibetischen Buddhismus, die von dem Verordnungsentwurf für religiöse Angelegenheiten 2016 gefolgt wurden, hat China das tibetische Reinkarnationssystem durch den direkten Eingriff in die religiösen Angelegenheiten der Tibeter systematisch kontrolliert, was einer Verletzung ihres kollektiven Rechts auf ihre eigene Religion und Kultur gleichkommt.
Im Januar 2016 veröffentlichte China das „Registrierungssystem für Lebende Buddhas“. Das ist eine Online-Datenbank von staatlich zugelassenen registrierten reinkarnierten Lamas mit Zertifikatsnummern und Biographien. Die reinkarnierten Lamas mit offizieller Approbation müssen ein Identifikationszertifikat bei sich tragen, und ihre Nummern werden streng von der Regierung überwacht. China verfolgt dabei den Zweck, wichtige und einflussreiche religiöse Persönlichkeiten unter Kontrolle zu bringen und die religiösen Einrichtungen der Tibeter in Institutionen für die chinesische politische Erziehung umzuwandeln. Damit wird die religiöse Freiheit des tibetischen Volkes in restriktive Fesseln gelegt.
Das TCHRD appelliert an die chinesische Regierung, den Panchen Lama nicht länger vor der Öffentlichkeit versteckt zu halten und ihm zu erlauben, als ein „normaler“ Mensch zu leben, der über alle Grundrechte verfügt, einen Lebensunterhalt hat, und sich frei bewegen kann. Ebenso wie der Panchen Lama müssen auch alle anderen tibetischen politischen Gefangenen, die in den zahlreichen offiziellen und inoffiziellen Haftanstalten eingekerkert sind, freigelassen werden. Und alle entlassenen Gewissensgefangenen müssen die Möglichkeit haben, das Land zu medizinischer Behandlung oder zur Fortsetzung ihrer Ausbildung und Karriere verlassen zu dürfen, ohne auf Grund des „Entzugs der politischen Rechte“ ihrer Grundrechte beraubt zu werden.
Hintergrund
Am 14. Mai 1995 bestätigte Seine Heiligkeit der 14. Dalai Lama den damals sechsjährigen Gedhun Choekyi Nyima als die Wiedergeburt des 10. Panchen Lama. Am 15. Mai wies die chinesische Regierung diese Entscheidung des Dalai Lama zurück. Zwei Tage darauf, am 17. Mai 1995, liess sie den Knaben samt seinen Eltern aus ihrem Zuhause im Kreis Lhari entführen. Seither wurden sie nie mehr gesehen, noch hörte man irgend etwas von ihnen. Am 29. November 1995 bestimmte die chinesische Regierung, von politischen Motiven bestimmt, ihre eigene Wahl, Gyaltsen Norbu, zum 11. Panchen Lama.
Die Ernennung eines Gegen-Panchen-Lama, um die Wahl des Dalai Lama für null und nichtig zu erklären, rief unter den Tibetern tiefe und umfassende Verbitterung hervor, sie protestierten und forderten die Herausgabe von Gedhun Choekyi Nyima. Auf den Druck der internationalen Gemeinschaft hin räumte die chinesische Regierung am 14. Mai 1996 ein, dass sie Gedhun Choekyi Nyima in Gewahrsam halte, angeblich, um „den simplen Jungen vor den Plänen der separatistischen Gruppen, ihn zu kidnappen“ zu schützen. Viele internationale Gremien forderten die chinesische Regierung auf, Rechenschaft abzulegen über das gewaltsame Verschwinden lassen des Panchen Lama und seiner Eltern. Die chinesische Regierung hat bisher keinerlei Beweise für die Sicherheit und das Wohlergehen des Panchen Lama und seiner Eltern geliefert.
Das tibetische System der Wiedergeburt wird nicht über politische Ernennungen, populäre Vorlieben oder Name und Status definiert. Es wird von der spirituellen Notwendigkeit der Fortführung einer besonderen Linie bestimmt, so dass die Lehren des bisherigen Linienhalters weiter getragen werden. Das traditionelle tibetische System der Anerkennung einer Reinkarnation beinhaltet die Manifestation besonderer Zeichen, Prophezeiungen und spezielle Tests gemäss komplizierten religiösen Prinzipien und Ritualen.
Chinas politisiertes Reinkarnationssystem hat die Rolle der traditionellen tibetischen Praxis zunichte gemacht. Es bedroht das Überleben der tibetischen Identität, indem es Religion und Kultur, Gebräuche und Traditionen zerstört. Trotz Chinas Propaganda, dass Tibet Religionsfreiheit geniesse, werden seit Mitte 2016 in dem buddhistischen Lehrinstitut Larung Gar religiös Praktizierende unter Zwang vertrieben und ihre Behausungen abgerissen. Larung Gar ist ein anschauliches Beispiel dafür, wie China Tausende von Jahren des tibetischen religiösen und kulturellen Brauchtums auslöscht. Obwohl Larung Gar der Freiheit, die authentische religiöse Lehre zu praktizieren, beraubt wurde, wird ihm erlaubt, als Institution weiter zu existieren. Daran wird die staatliche Politik deutlich, die sich der religiösen Autorität bemächtigt, um das tibetische Volk zu kontrollieren und zu unterjochen.
Übersetzung: Adelheid Dönges, Revision: Angelika Oppenheimer
Quelle: Tibetisches Zentrum für Menschenrechte und Demokratie (TCHRD)
Impressionen von der Panchen Lama Standaktion in St.Gallen mit Vertreter/ -innen von TFOS, VTJE und GSTF