Dalai Lama Focus

Dalai Lama: „Migranten sollten nicht diskriminiert werden“ . Und weitere Presseberichte zu Dalai Lama

Kurier (A), 18.9.17:

Dalai Lama: „Migranten sollten nicht diskriminiert werden“

Der Friedens-Nobelpreisträger lobte Sizilien wegen der Aufnahme von Migranten.

Der Dalai Lama, der am Montag die Schlüssel der Stadt Palermo erhalten hat, hat Italiens Bemühungen zur Migrantenretten gelobt und einen Appell gegen die Diskriminierung von Ausländern gerichtet. „Migranten sollten nicht diskriminiert, sondern aufgenommen werden. Sie sind unsere Brüder, die eine Zeit großer Schwierigkeiten erleben“, sagte der geistliche Oberhaupts der Tibeter.

Der Friedens-Nobelpreisträger lobte Sizilien wegen der Aufnahme von Migranten. Die Politik müsse Mitgefühl für Personen in Not zeigen. Länder, die Migranten aufnehmen, sollten den Erwachsenen berufliche Ausbildung und Kindern Schulunterricht sichern. Ziel sei Migranten zu helfen, in ihre Heimat zurückzukehren, wo sie am Wiederaufbau ihrer Länder mitwirken sollten.

Der 82-Jährige reist von Palermo nach Florenz weiter, wo er am Dienstag das Festival der Religionen eröffnen wird. Das Festival, das den Dialog unter den Religionen fördern wird, ist von der Gemeinde Florenz und der Region Toskana unterstützt.

(apa)

 

Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11.9.17:

Kultiviert die innere Abrüstung!

Wir müssen zu einer Erziehung des Herzens finden. Nur so können wir die Krisen der Menschheit lösen.

Ein Text des Dalai Lama 

Die Zeit steht nicht still, und keiner kann sie aufhalten. In jedem Moment haben wir jedoch die Möglichkeit, unsere Zeit konstruktiv oder negativ zu nutzen. Je nachdem, welche Wahl wir treffen, entscheiden wir darüber, ob die Welt friedlicher wird oder tiefer in Konflikte und Spannungen hineingerät.

Alle Menschen sind grundsätzlich gleich, unabhängig davon, ob sie aus dem Osten oder Westen, aus dem Süpden oder Norden stammen, ob sie arm oder reich, gbildet oder ungebildet sind, welcher Religion sie angehören oder ob sie nicht religiös gläubig sind. Von einigen sekundären Unterschieden in unserer Erscheinung abgesehen, sind wir emotional, mental und körperlich alle gleich. Wir haben das gleiche Potential, sowohl posititive als auch negative Erfahrungen zu machen.

Der gesunde Menschenverstand sagt uns, dass negative Taten immer Leid und Kummer nach sich ziehen, während konstruktive Handlungen Freude und Zufriedenheit bringen. Jeder von uns hat die Fähigkeit, sich zu einem besseren, glücklicheren Menschen in einer besseren und glücklicheren Gesellschaft zu entwickeln, und sollte diese Möglichkeit erkennen.

Wie kann eine solche Transformation gelingen? Der Weg dorthin führt über eine positive innere Haltung. Wir brauche ein neues Denken, das Methoden einschließt, unsere innere Welt zu entwickeln.

Über Jahrhunderte hat die Menschheit viel Energie inverstiert, um die Gesellschaft auf der Basis von Wissenschaft und Technologie in materieller Hinsicht weiterzuentwickeln. Dies hat den Lebensstandard von Menschen in der ganzen Welt enorm verbessert. Doch trotz der wissenschaftlichen und technologischen Errungenschaften bleiben immer noch viele Probleme, weil wir zu oft an überholten inneren Haltungen festhalten.

Auf dem Gebiet der internationalen Beziehungen beispielsweise verlassen sich sogar Länder, die die Werte von Freiheit und Demokratie hochhalten, auf die Macht von Stärke und Gewalt. Die Anwendung von Gewalt als Mittel der Politik mag zunächst attraktiv erscheinen, weil sie schlägkräftig ist; aber ist ist langfristig kontraproduktiv. Denn erstens ist die Entwicklung der Gewalt unvorhersehbar. Die anfängliche Intention mag durchaus sein, sie nur begrenzt einzusetzen, doch sobald die Gewalt beginnt, hat man keine Kontrolle mehr, wie sich die Dinge entwickeln. Gewalt schafft immer unerwartete Schwierigkeiten und ruft weitere Gewalt hervor.

Zudem ist der Einsatz von Gewalt der heutigen Weltlage nicht angemessen, weil alle miteinander verbunden sind. Unter den Bedingungen einer vernetzten Welt bedeutet die Zerstörung Ihres Nachbarn, dass Sie sich selbst zerstören. Um ein Problem auf eine realistische Weise zu lösen, müssen Sie erkennen, was für Ihren Gegner auf dem Spiel steht. Sie müssen seine Interessen mitberücksichtigen und mit dieser Maßgabe eine Lösung anstreben.

Wir brauchen eine Art innerer Abrüstung. Wenn wir diese kultivieren und uns der Auswirkungen von Gewalt bewusst sind, dann ist schon die Vorstellung militärischer Aktivitäten als Mittel zur Konfliktlösung überholt. Auf dieser Basis können wir ernsthaft darüber nachdenken, wie wir auch physisch abrüsten. Was die Atomwaffen betrifft, so gibt es bereits Abrüstungsprogramme. Wir können aber noch weiter denken und uns als nächstes Ziel setzen, Atomwaffen ganz zu vernichten. Das langfristige Ziel könnte eine vollständig demilitarisierte Welt sein.

Auch der Glaube, Wirtschaftswachstum allein führe zu einer glücklicheren Gesellschaft, ist ein Irrtum. Tatsächlich sin die Ungleicheiten in der wirtschaftlichen Entwicklung, die eine tiefe Kluft zwischen Arm und Reich auf der ganzen Welt und innerhalb von Ländern verursachen, eine Quelle von Spannungen. Leider sind nicht viele in der Lage, die Situation zu sehen, wie sie ist. So spaltet sich unsere Wahrnehmung von der Wirklichkeit ab. Auf der Basis falscher Vorstellungen nehmen wir Haltungen ein und folgen Strategien, welche die Probleme verstärken.

Die Zukunft der Menschheit hängt davon ab, dass die gegenwärtige Generation eine konstruktive innere Haltung einnehmen kann. Daher ist die Erziehung so wichtig. Wissen ist wie ein Instrument. Ob dieses Instrument konstruktiv oder destruktiv eingesetzt wird. hängt von der Motivation ab. Die moderne Erziehung ist sehr gut fundiert, aber sie scheint den Schwerpunkt darauf zu legen, das Gehirn zu entwickeln. Es wird zu wenig Aufmerksamkeit darauf verwendet, die Person als Ganzes zu entwickeln und sie zu befähigen, ein klares Verständnis der Bedeutung von inneren Werten und der Güte des Herzens auszubilden.

Ich habe die Hoffnung, dass unser Bildungssystem mehr Gewicht darauf legen wird, menschliche Kräfte wie Herzenswärme und Liebe zu stärken. Es ist wichtig, dass wir moralische Fragen ansprechen, die mit dem ganzen Leben des Menschen zusammanhängen, einschließlich seiner Rolle in Gesellschaft und Familie. Um solche Fragen sollte es vom Kindergarten bis zur Universität gehen. So entsteht die Möglichkeit, dass wir glückliche Menschen werden, eine glückliche Familie haben und in einer glücklichen Gesellschaft leben.

Eltern haben eine vesondere Verantwortung, ihren Kindern die Vorzüge grundlegender rmenschlicher Qualitäten wie Liebe, Freundlichkeit und Herzenswärme mit auf den Weg zu geben. Kinder sollten mit der Idee aufwachsen, dass für jegliche Konflikte Dialog und nicht Gewalt der beste und praktikabelste Weg zur Lösung ist.

Wenn wir Kinder früh mit der Bedeutung des Dialogs bekannt machen, können sie im Schulalltag lernen, verschiedene Meinungen zuzulassen und zu diskutieren. So werden sie schrittweise mit der Idee des Dialogs vertraut. Dies ist deshalb so wichtig, weil es in der menschlichen Gesellschaft immer Konflikte und Uneinigkeit geben wird. Der Dialog ist die angemessene, effektive und realistische Methode, Meinungsunterschiede aufzugreifen und Interessenkonflikte zu lösen.

Durch eine solche Erziehung können wir das Verständnis verbreiten, dass Menschen soziale Wesen sind, deren individuelle Interessen nur in der Gesellschaft verwirklicht weden können, und dass es daher in unserem ureignenen Interesse liegt, dass wir uns gegenseitig warmherzige und wohlwollende, gute Nachbarn sind. Dies hängt direkt mit dem zusammen, was ich die grundlegenden menschlichen Werte nenne: Fürsorge, Verantwortungsbewusstsein und die Bereitschaft zu verzeihen. Sie erfordern, sich zu der Einheit der Menschheit zu bekennen und danach zu handeln. Diese grundlegenden menschlichen Werte könnten wir eine „sekuläre Ethik“ nennen, weil sie nicht auf religiösem Glauben beruhen.

Unter „sekulären“ Werten verstehe ich, dass sie gültig sind unabhängig davon, ob wir uns persönlich zu einer Religion bekennen oder nicht. Das religiöse Bekenntnis ist unsere persönliche Angelegenheit. Der eigentliche Sinn des Lebens, den wir alle verfolgen, sei es mit oder ohne Religion, ist es, glücklich zu sein. Somit ist es gegen die Vernunft, gerade jene Werte zu vernachlässigen, die direkt mit unserem fundamentalen Streben nach Glück verbunden sind.

Es gibt gute Gründe, diese grundlegenden menschlichen Werte zu entwickeln, denn ich glaube, dass die menschliche Natur im Grunde sanftmütig ist. Ich bin der Überzeugung, dass wir nur zeitweilig aggressiv sind und in unserem Leben Liebe und Zuneigung eine größere Rolle spielen.

Sogar die Körperzellen arbeiten besser, wenn wir freidlich gestimmt sind. Ein aggressives Gemüt bringt auch den Körper in Ungleichgewicht. Wenn uns also die Erfahrung lehrt, dass der innere Freiden wichtig für unsere Gesundheit ist, dann folgt daraus, dass der Körper selbst biologisch so aufgebaut ist, dass er mit innerem psychischem Gleichgewicht besser harmoniert. Daraus können wir schließen, dass die menschliche Natur insgesamt mehr zu Sanftmut und Freundlichkeit tendiert.

Auch auf der mentalen Ebene sehen wir einen eindeutigen Zusammenhang: Je mitfühlender wir sind, umso größer ist unser innerer Freiden. In der begrenzten Zeit meines eigenen Lebens habe ich die Erfahrung gemacht: Je mehr ich über Mitgefühl meditiere und an die unzähligen fühlenden Wesen denke, die leiden, umso mehr entwickle ich ein Gefühl innerer Stärke. Und wenn innere Kraft und Selbstvertrauen wachsen, verringern sich Angst und Zweifel. Das macht uns ganz natürlich offener. Andere reagieren entsprechend, und so kommen wir leichter mit den Mitmenschen in positiven Kontakt.

Wenn wir aber voller Angst, Hass und Zweifel sind, bleibt die Tür zu unserem Herzen verschlossen, und jeder kommt uns verdächtig vor. Das Traurige ist, dass wir dann den Eindruck bekommen, andere wären genauso misstrauisch uns gegenüber. So wird die Distanz zwischen uns selbst und den anderen immer größer. Diese Spirale fördert Einsamkeit und Frustration.

Die jungen Generationen haben die große Verantwortung, sicherzustellen, dass die Welt ein friedvollerer Ort für alle wird. Dies kann aber nur Wirklichkeit werden, wenn unser Bildungssystem nicht nur das Gehirn ausbildet, sondern auch das Herz.

Der Dalai Lama weiht morgen das neue Tibethaus in Frankfurt ein. Es folgt ein Kongress mit weiteren Auftritten des geistigen Oberhauptes der Tibeter, unter anderem in der Höchster Jahrhunderhallte.

Aus dem Englischen von Christof Spitz.

 

Salzburger Nachrichten, 18.9.17:

Warum Religionen anfällig für Gewalt sind

Der Glaube an „das Heiligste“ kann jederzeit in eine tödliche Ideologie umschlagen. Was können Religionen dagegen tun?

Von Josef Bruckmoser

Landläufig wird den monotheistischen Religionen nachgesagt, dass sie wegen ihres Glaubens an den einen Gott, der keine anderen Götter neben sich dulde, anfällig für Gewalt seien. Derzeit sorgt jedoch ein buddhistischer Hassprediger in Myanmar für Aufsehen. Er wird für viele Gräuel gegen Muslime in dem südostasiatischen Staat mit verantwortlich gemacht.

Hat also der Dalai Lama recht mit seiner Aussage, die er 2015 nach dem Terroranschlag auf die Satirezeitschrift „Charlie Hebdo“ formuliert hat? „Ich denke an manchen Tagen“, so sagte der prominente Buddhist, „dass es besser wäre, wenn wir gar keine Religionen mehr hätten. Alle Religionen und alle Heiligen Schriften bergen ein Gewaltpotenzial in sich.“

Tatsächlich scheint keine Religion davor gefeit, für ideologische und politische Zwecke missbraucht zu werden. Die Religionen ziehen sich meist so aus der Affäre, dass die in ihrem Namen ausgeübte Gewalt nicht dem Kern ihrer Botschaft entspreche. Der islamistische Terror habe nichts mit dem Koran zu tun. Die Kreuzzüge seien – im krassen Widerspruch zum Gebot der Nächstenliebe – eine höchst bedauerliche historische Verirrung des Christentums gewesen.

Befriedigend sind diese Ausreden nicht. Denn die Kreuzfahrer haben selbstverständlich das Kreuz auf ihren Rüstungen getragen, und islamistische Terroristen brüsten sich mit dem Ruf „Allah ist groß“. Auch die Enthaltung von jeder Religion, wie sie der Dalai Lama angedacht hat, ist keine Lösung, weil Religiosität offenbar urtümlich zur Menschheit gehört.

Drei Wegweiser könnten in eine humanisierte Zukunft der Religionen führen. Ein erster ist das Bekenntnis eigener Schuld, wie es Papst Johannes Paul II. im Jahr 2000 auch dahingehend abgelegt hat, dass Christen sich fallweise von der Feindschaft gegen die Anhänger anderer Religionen hätten leiten lassen.

Das Zweite ist die Einsicht, dass jede ernsthafte religiöse Überzeugung etwas Heiliges an sich hat, aber einzig und allein für den jeweiligen Gläubigen. In keiner Weise darf die Freiheit eines anderen eingeschränkt werden, sich zu einer anderen oder gar keiner Religion zu bekennen. Dazu gehört auch, dass Machtpolitik und Religion streng zu trennen sind.

Ein Drittes wäre die Herausforderung an die Religionen, ihren humanistischen Mehrwert zu beweisen. Dazu kann das Streben nach einem Weltethos beitragen, für das gemeinsame Einsichten der Religionen eine ausgezeichnete Quelle sind. Etwa die weithin geltende Goldene Regel: Was du nicht willst, dass dir man tu‘, das füg‘ auch keinem andern zu.

 

Deutschlandfunk, 12.9.17:

Ethik Meditation ohne Religion

Der Dalai Lama kommt zur Einweihung des Frankfurter Tibethauses nach Deutschland. Er wirbt für eine verbindliche säkulare Ethik. Mitgefühl und Fürsorge müssten unabhängig vom Glauben begründet werden. Religion sei Privatsache, sagt der Religionsführer.

Von Mechthild Klein 

Nach zwei Jahren ist der Dalai Lama wieder zu Gast in Deutschland. Und zwar im Frankfurter Tibethaus, das in dieser Woche neu eröffnet wird. Dort sollen nun verstärkt auch säkulare Ethik und Meditation vermittelt werden. Der Dalai Lama hatte schon öfter gesagt, dass Beten allein nicht hilft, um die Probleme in der Welt in den Griff zu bekommen. Es braucht eine säkulare Ethik, eine globale Ethik. Das Frankfurter Tibethaus soll dabei eine besondere Rolle einnehmen.

„Es hat den ganz klaren Auftrag, nämlich das, was säkulare Ethik beziehungsweise säkulare Meditation  ist, in die Gesellschaft zu tragen. Das ist der Anfang glaube ich, dass ist zumindest der Startschuss für ein lebenslanges Projekt, das wird noch lange weitergehen.“

Sagt der Wissenschaftsautor Gert Scobel, der das Symposium in Frankfurt mit dem Dalai Lama moderieren wird. Mit der säkularen Ethik sind Werte wie „Mitgefühl“ und „Fürsorge“ gemeint. Als säkulare Meditation gilt das aus dem Buddhismus stammende Achtsamkeitstraining und die Modelle von Achtsamkeitsbasierter Stressreduktion (MBSR). Eine Neuausrichtung, die zahlreiche Buddhisten weltweit mittragen.

Überzeugt von der Aufklärung

In der Vergangenheit hätten die Religionen zwar viele positive Konzepte einer Ethik entwickelt, meint Scobel, aber viele Menschen fühlen sich kaum daran gebunden. Ist etwa eine gewisse Resignation dabei, dass das 82-jährige religiöse Oberhaupt der Tibeter eher auf säkulare Methoden und Institutionen setzt als auf Religionsgemeinschaften selbst? Nein, sagt Gert Scobel, das sei keine Resignation.

„Abgesehen davon muss man sich mal fragen, was wäre denn die Alternative? Die wird uns ja im Moment sehr vor Augen gehalten, diese Alternative: Nämlich, zurück zu den alten Werten, zurück zu den alten Religionen und den überkommenen Vorstellungen. Haben die uns weiter geholfen? Meine Antwortet darauf lautet: eher nein.“

Dabei sieht Scobel durchaus, dass die Religionen im Abendland einst geholfen haben, Institutionen aufzubauen, die für Menschenrechte eintreten.

„Das ist eine der Errungenschaften des Westens. Das hat übrigens die buddhistische Welt in der Form nicht hervorgebracht. Auf der anderen Seite haben die Religionen uns jede Menge Kriege beschert. Das gilt für das Christentum in ganz deutlicher Weise. Das gilt etwas weniger auch für den Buddhismus, sie haben ja die Auseinandersetzungen in Myanmar im Moment.“

Scobel praktiziert selbst Zen-Meditation. Er ist überzeugt von der Aufklärung und glaubt, dass es in einer globalisierten Welt besser ohne die Einmischung der Religionen weitergeht.

Tief in der Natur des Menschen angelegt

„Und wenn man dann sagt: Ja, Moment mal, wo nimmst du dann die Werte her, glaube ich, lassen sich Werte heute auch anders begründen und anders herleiten, als dass man sagt: Naja, die hat uns jemand auf ein paar Tafeln verkündet.“

Ähnlich argumentiert der Dalai Lama – das sagt sein Tibetisch-Übersetzer Christof Spitz, der auch Mitbegründer des „Netzwerk Ethik heute“ ist:

„Er ist der Meinung, dass nicht eine Religion die religiösen Werte vorgeben kann. Das wäre unmöglich, schon aus dem Grunde, weil es es viele Religionen gibt, mit ganz unterschiedlichen Glaubensinhalten. Und sein Ansatz ist auch, dass die Ethik nicht durch die Religion in unsere Welt gekommen ist, ursprünglich. Sondern dass sie tiefer in der Natur des Menschen angelegt ist. Dass es eher eine positive Kraft ist, die von den Religionen aufgegriffen wurde und weiterentwickelt wurde.“

Das Suchen nach diesen übergreifenden Werten sei für den Dalai Lama heute eine ganz zentrale Frage, sagt der Meditationslehrer Christof Spitz. Sakuläre oder auch globale Werte wären zum Beispiel Mitgefühl und Fürsorge. Sie solle man nach Auffassung des Dalai Lama entwickeln und weitergeben.

„Er sagt, es gibt zunehmend Menschen, die sich von Religion gar nicht angesprochen fühlen, die vielleicht Atheisten sind. Oder die Religion vielleicht nur noch rituell machen. Alle diese Menschen brauchen aber Ethik oder brauchen diese inneren Werte. Deshalb ist eigentlich zu suchen: welche übergreifenden Werte haben wir.“

Die Idee des Dalai Lama: Religion ist Privatsache. Eine verbindliche Ethik hingegen brauchen alle Menschen, um ein Gefühl der Verbundenheit zu erzeugen und der Wertschätzung. Die Methode dafür komme aus Asien, dort habe man „eine längere Erfahrung mit Meditationsübungen“, die mehr auf die Praxis zielten, sagt Gert Scobel. Die Philosophen Kant und Habermas hätten zwar Theorien geschaffen, was ethische Normen seien, aber man bleibe alleingelassen, wenn es darum geht, die Werte auch im Leben umzusetzen. Man müsse sich halt anstrengen und bemühen. Gert Scobel:

„Das ist aber keine wirklich große Hilfe und hat ja auch nicht besonders gut funktioniert, wenn sie sich die Geschichte der Gewalt in den letzten 300 Jahren ansehen nach Kant. Der Osten hat meiner Ansicht nach, damit meine ich den fernen Osten, hat Kulturtechniken hervorgebracht, die tatsächlich auf so etwas wie Aggressionen beispielsweise einen Einfluss haben.“

Westliche Theorie, östliche Praxis

Die Ethik im Christentum und im Buddhismus und anderer Religionen sind sich sehr ähnlich. Nicht töten, nicht stehlen, nicht ehebrechen und so weiter. Scobel sieht die Unterschiede mehr in der Kultur. Hier Schuld-Kultur, im fernen Osten mehr Scham-Kultur.

„Der Unterschied hat mit einer Gewichtung im Alltag zu tun, die letztlich kulturell ist. Was meine ich damit? Bei uns läuft die Umwandlung von dem, was man als gut erkannt hat in Handlungen, vor allem in einem Pflichtenkatalog. ‚Das machst Du eben‘. Oder: ‚Das macht man eben so. Dann strengst Du Dich mal an.‘ Das geht überwiegend über eine kognitive Vermittlung. Vielleicht noch durch Vorbilder. Aber in der Regel funktioniert das ethische und moralische Lernen über Kognition.“

Also über erworbenes Wissen. Im Buddhismus sei das anders. Dort habe man meditative Techniken entwickelt, die helfen, eigene Gefühle wahrzunehmen und zu steuern. Das wirke sich auch auf das Verhalten aus. Im besten Fall könne diese Technik zur Erleuchtung oder zum Erwachen führen.

„Das hat aber etwas zur Folge, was einen wirklichen Unterschied zu unserer westlichen Ethik produziert. Nämlich: Ich nehme den anderen oder das andere nicht mehr als bedrohlich war. Sondern – in buddhistischer Terminologie – als Nicht-zwei. Das andere ist eins mit mir. Aus dieser Haltung heraus, der Einheit, das heißt der Verbundenheit aller Lebewesen miteinander, erwächst ganz automatisch die Idee und dann auch das Handeln. Dass ich mit ihnen so umgehe, als wäre ich’s selber.“

Das ist ein Ideal, das durchaus Ähnlichkeit mit der christlichen Nächstenliebe hat. Den Unterschied zwischen westlicher und östlicher Ethik sieht Scobel darin, dass der Westen tendenziell immer „die Theorie betont habe, die Lehrsätze, die Normen und die Dogmatik“. Während man im Osten tendenziell eher die eigene Erfahrung betont.

Vom Osten lernen

Und kann nicht der Westen vom Osten lernen, indem man sagt: So was wie Achtsamkeitstraining kann ich völlig unideologisch und abgekoppelt von Religionen in Schulen und in andere Einrichtungen integrieren, weil es den Menschen hilft, besser miteinander umzugehen.

Inzwischen hätten auch viele Achtsamkeitsanhänger die Kritik an ihrer Technik aufgenommen: Achtsamkeitstraining oder Achtsamkeitsbasierte Stressreduktion (MBSR) müsse in eine Ethik eingebettet werden, forderte der Soziologe Hartmut Rosa. Damit die Methode nicht eingesetzt wird, um Menschen auszunutzen. Stattdessen könne man die Achtsamkeitsmeditation daran koppeln, verbindliche Werte zu leben, die heute immer mehr verloren gingen. Gert Scobel:

„Empathie ist heute in unserer Gesellschaft kein Selbstläufer, Mitgefühl ist auch kein Selbstläufer. Sondern Menschen müssen hingeführt werden, dahin ihr großes Ego tatsächlich nicht über alles zu stellen. Zumal sie irgendwann früher oder später merken werden, dass ihr großes Ego tatsächlich nicht wirklich alles ist. Und im Moment leben wir eher in einer Zeit, in der Religionen tendenziell dazu neigen, vor die Aufklärung zurück zu gehen. Und die Grundprinzipien der Aufklärung hochzuhalten, finde ich in solchen Zeiten einen ganz entscheidenden Schritt.“

Es gibt eine Sehnsucht nach einem vergangenen goldenen Zeitalter, nach spiritueller Sicherheit. Doch aus heutiger Sicht, sagt Scobel, war das schon immer eine Illusion.

„Wir müssen lernen, dass wir nie mehr festen Boden unter den Füßen haben werden, auch nie welchen hatten. Sondern uns immer nur auf fliegenden Teppichen bewegen.“

 

Presseberichte recherchiert von Jan. T. Andersson

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