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Wie China versucht, die Uno nach seinen Vorstellungen umzuformen

An der Uno-Generalversammlung gibt sich China als Verteidiger des Multilateralismus, während die USA auf Alleingang setzen. Doch Peking schreibt im Hintergrund systematisch das liberale Betriebssystem der Uno um. Das zeigt sich deutlich in Genf.

Ein Beitrag von Patrick Zoll in der NZZ, erschienen am 23.09.2020 (Lesen Sie den Originalbeitrag hier).

Beitragsbild von Tiffany Hagler-Geard / Bloomberg: Der chinesische Präsident Xi Jinping spricht zur virtuellen Uno-Generalversammlung und präsentiert sein Land als Verfechter des Multilateralismus.

Donald Trump hätte Heimvorteil gehabt. Zum ersten Mal in der 75-jährigen Geschichte findet die jährliche Generalversammlung der Uno vorwiegend virtuell statt. Normalerweise pilgern Staats- und Regierungschefs, Diplomaten und Beamte im September zur Eröffnung der Session an den Hauptsitz nach New York. Wegen der Coronavirus-Pandemie bleiben die Delegationen zu Hause – Trump hätte als Staatschef der Gastgebernation USA die Weltbühne praktisch für sich allein haben können.

Unilateraler Trump, multilateraler Xi

Doch Trump schickte nur eine aufgezeichnete Videobotschaft zur Eröffnung der 75. Generalversammlung am Dienstag. Sein Auftritt war mehr eine Wahlkampfveranstaltung als eine Rede an die Vertreter der 193 Mitgliedländer der Uno. Trump lobte sich selber, griff frontal China und die Weltgesundheitsorganisation (WHO) an und schlug konsequent unilaterale Töne an: Das amerikanische Militär sei unter seiner Ägide substanziell ausgebaut worden und sei das stärkste der Welt.

Wer so redet, macht klar, dass er von Multilateralismus nichts hält. Eine Reise zu der in seinen Augen irrelevanten Uno hält Trump für eine Zeitverschwendung.

Der Unterschied zu Chinas Staats- und Parteichef Xi Jinping, dessen Videoerklärung ein paar Minuten später abgespielt wurde, hätte kaum frappanter sein können. Xi gab sich staatsmännisch und setzte sich für eine gemeinsame, lies multilaterale, Lösung der grossen globalen Probleme wie der Pandemie ein. Er sprach sich für freien Handel und gegen Protektionismus aus und versprach, chinesische Impfstoffe gegen das Coronavirus der ganzen Welt zur Verfügung zu stellen. Besonders profitieren sollten davon ärmere Länder.

«Der Stab der Geschichte ist an unsere Generation übergeben worden», sagte Xi, und es klang so, als wollte er sagen, dass China diesen Stab übernommen habe. Seine Rede spiegelte die zunehmend aktivere – Kritiker würden sagen: aggressivere – Rolle, die China in der Uno und in anderen multilateralen Foren spielt.

Die Ansage von Xi in Genf

Dies zeigt sich nicht bloss am Hauptsitz in New York, sondern ganz deutlich auch in Genf, wo zahlreiche Unterorganisationen der Uno ihren Sitz haben. Dazu gehören unter anderen das Flüchtlingshilfswerk, die WHO oder das Hochkommissariat für Menschenrechte (OHCHR). Insgesamt hat die Uno fünfzehn solche technische Organisationen – vier von ihnen haben gegenwärtig einen chinesischen Chef. Peking verfolgt sehr erfolgreich die Strategie, eigene Staatsbürger in Toppositionen zu bringen. Kein anderes Land stellt gegenwärtig mehr als einen Chef.

Wenn man in Genf mit Vertretern der Uno, Diplomaten und Beobachtern spricht, kommt schnell der 18. Januar 2017 zur Sprache. Damals, zwei Tage vor dem Amtsantritt von Donald Trump in Washington, hielt Xi Jinping vor der Uno in Genf eine Rede. Xi erwähnte Trump zwar nicht, präsentierte aber China als neuen Verfechter des Multilateralismus. «Ein faires und ausgeglichenes internationales System war schon immer das Ziel der Menschheit», sagte Xi.

Der chinesische Staatschef erwähnte in seiner Rede Stephen Hawking, zitierte Hermann Hesse ebenso wie die Inschrift am Bundeshaus in Bern und bauchpinselte dem internationalen Genf. Ein brillantes Stück Handwerk sei die Rede gewesen, sagt ein damals anwesender Diplomat. Auch Angela Merkel oder Emmanuel Macron hätten diese Rede halten können, erinnert sich ein anderer.

Chinas stärkeres Engagement in der Uno kam mit einer Ansage: Im 2017 hält Präsident Xi vor der Uno in Genf eine programmatische Rede. 

Die zunehmende Einflussnahme Chinas im internationalen System ist ein sensibles Thema. So sensibel, dass bei mehr als einem halben Dutzend Gesprächen in Genf niemand bereit war, sich offen in der Zeitung mit seinen Aussagen zitieren zu lassen. NGO-Vertreter, Diplomaten oder Uno-Beamte treibt das Thema um. Im Vertrauen äussern sie ihre Bedenken. Doch alle fürchten den Bannstrahl Chinas. Auch ein Akademiker, der zuerst offen sprechen wollte, verlangte bald, das Aufnahmegerät abzuschalten. Er wollte nicht riskieren, dass seine Institution, wo auch Chinesen studieren, Probleme bekommt. Gar nicht äussern will sich Peking: Eine Anfrage der NZZ an die chinesische Vertretung, ihre Sicht der Dinge darzulegen, blieb unbeantwortet.

Die Werte der Uno ändern sich

Grundsätzlich mache China, was alle anderen Staaten auch machten, sagt ein früherer Missionschef einer westlichen Delegation in Genf: «China vertritt seine eigenen Interessen.» Das Problem aus liberaler, demokratischer Sicht sei jedoch, dass China ganz andere Interessen habe und fundamental andere Werte vertrete als die westlichen Mitgliedländer. Historisch sei das Uno-System eng verbunden mit einer liberalen Agenda. «Wir denken immer, das multilaterale System sei zur Umsetzung liberaler Werte wie Freiheit oder Demokratie da. Das ändert sich jetzt», summiert der Diplomat.

«Die Uno hat ein liberales Betriebssystem», beschreibt es Jeffrey Feltman in einer Videokonferenz des Think-Tanks Brookings Institute. Der Uno-Experte war früher im amerikanischen State Department tätig.

Die wegweisende Rede von Xi 2017 habe in diplomatischen Kreisen in Genf eine zu geringe Resonanz gefunden, kritisiert ein ehemaliger hoher Uno-Beamter. Es habe kaum eine Diskussion darüber gegeben, wie das verstärkte internationale Engagement Chinas aussehen könnte und was das für die internationalen Organisationen bedeuten werde. «Die Leute haben hier ein wenig geschlafen», sagt er.

Wer damals genau hinhörte, konnte nämlich die Ansage verstehen: «Die wichtigste Norm in zwischenstaatlichen Beziehungen und ein Grundprinzip der Uno und anderer internationaler Organisationen ist die Souveränität», sagte Xi. Er kann sich dabei auf die Charta der Uno berufen, wo es heisst, dass die Organisation auf dem Prinzip der souveränen Gleichwertigkeit all seiner Mitglieder beruhe.

Doch China stellt die eigene Souveränität über alles und verbittet sich Einmischung in das, was es als «interne Angelegenheiten» ansieht. Vor allem bei autoritären Regierungen auf der ganzen Welt stösst dieser Ansatz auf offene Ohren.

China nimmt Einfluss auf Menschenrechte

Was dies bedeutet, zeigt sich besonders bei den Menschenrechten. Das Menschenrechtssystem der Uno basiert darauf, dass die einzelnen Länder vor dem Menschenrechtsrat regelmässig Rechenschaft ablegen müssen. Experten untersuchen Menschenrechtsverletzungen und die Einhaltung verschiedener Konventionen – und kritisieren dabei unverhohlen Regierungen, die ihren Verpflichtungen nicht oder nur ungenügend nachkommen.

Peking steht dabei immer wieder am Pranger. So erhielten die chinesischen Umerziehungslager für die muslimische Minderheit der Uiguren im Sommer 2018 weltweite Aufmerksamkeit, als sich eine Kommission des Menschenrechtsrats der Frage annahm. Peking startete eine massive Gegenkampagne, aber das Thema hält sich hartnäckig in der internationalen Öffentlichkeit. In Sachen Hongkong weist Peking jegliche Kritik zurück, da dies eine «interne Angelegenheit» sei.

Peking betrachtet die Ereignisse in der Sonderverwaltungsregion Hongkong als interne Angelegenheit und verbittet sich jegliche Kritik von aussen. 

Wie das kommunistische Regime in Peking war auch die Administration Trump mit der Arbeit des Menschenrechtsrats unzufrieden und kündigte im Juni 2018 den Austritt der USA aus der Organisation an. Damit haben die USA dort jeglichen Einfluss verloren. «Dreissig Sekunden nach dem Austritt Washingtons ging die Arbeit im Menschenrechtsrat so weiter, als wären die USA nie dabei gewesen», sagt ein ehemaliger hoher Uno-Beamter.

China nutzt dieses Vakuum sehr aktiv. So formt es den Rat und seine Arbeit mit. Zum Beispiel hat der chinesische Botschafter Einsitz im fünfköpfigen Gremium genommen, das die Kandidaten für die verschiedenen Mandate als Rapporteurs vorselektioniert. Peking hat damit direkten Einfluss darauf, wer im Namen der Uno Verletzungen der Rede- oder der Religionsfreiheit oder anderer Menschenrechte untersucht, die in China selber nicht garantiert sind.

Selbst vor persönlichen Einschüchterungsversuchen scheue die chinesische Mission in Genf nicht zurück, sagt ein Vertreter einer Menschenrechts-NGO. So sei es schon vorgekommen, dass Vertreter Chinas unabhängige Experten und OHCHR-Mitarbeiter spätabends zu Hause angerufen hätten. Eigentlich sollten die Experten laut Mandat unabhängig ihrer Arbeit nachgehen können.

Die Führungsrolle der USA fehlt

Der Menschenrechtsrat zeigt, wie China das Feld besetzt, das durch den teilweisen Rückzug und das Desinteresse der USA aus dem Uno-System und aus multilateralen Foren generell entstanden ist. Bei der WHO dürfte sich Ähnliches abspielen, falls der von Präsident Trump angekündigte Austritt Mitte nächsten Jahres effektiv wird.

Was die diplomatische Führungsrolle Washingtons bewirken kann, zeigte sich bei der Wahl des Generaldirektors der Weltorganisation für geistiges Eigentum (Wipo) im Mai. China portierte dafür eine sehr kompetente Kandidatin und schien auf bestem Weg, einen fünften Landsmann an die Spitze einer technischen Uno-Organisation zu setzen. Das Rennen sei so gut wie gelaufen gewesen, sagt einer, der direkten Einblick in den Prozess hatte. Doch dann organisierte die amerikanische Mission in Genf eine Gegenkampagne. Am Schluss führte diplomatisches Powerplay der USA dazu, dass der Vertreter Singapurs das Rennen machte. Das energische Auftreten Washingtons ist damit zu begründen, dass es Peking schon lange vorwirft, geistiges Eigentum zu verletzen.

Chinesische Topdiplomaten für die Uno

Trotz diesem Rückschlag sind Chinas Diplomaten in multilateralen Organisationen auf dem Vormarsch. Noch vor wenigen Jahren habe sich Peking kaum für die Uno interessiert, sagt ein ehemaliger hoher Uno-Beamter. Der Botschafterposten in Genf sei unter chinesischen Diplomaten wenig angesehen gewesen – heute schicke Peking Topleute. Immer wieder hört man in Genf, dass Pekings Diplomaten in den vergangenen Jahren zunehmend professioneller geworden seien. So sprächen sie viel besser Englisch als früher und könnten sich auch in Diskussionen am Rand offizieller Veranstaltungen Gehör verschaffen.

Die chinesische Mission organisiert im Palais des Nations, dem Uno-Sitz in Genf, regelmässig Ausstellungen, welche die Errungenschaften des Landes darstellen – etwa das stetig wiederholte Mantra, dass man Hunderte von Millionen Menschen aus der Armut befreit habe. Auch die an der Uno akkreditierten Journalisten würden intensiv bearbeitet, sagt ein westlicher Medienvertreter.

Zusätzlich platziert Peking im grossen Stil sogenannte Junior Professional Officer (JPO) in Genf. Diese werden von ihren Herkunftsländern bezahlt und bekleiden viele Einstiegspositionen in der Uno. Die JPO lernen das System im Detail kennen und haben gute Chancen, später direkt bei den entsprechenden Organisationen angestellt zu werden und dort Karriere zu machen. «Der Unterschied zu JPO anderer Länder ist, dass die chinesischen mit klaren Instruktionen entsandt werden», sagt der langjährige Uno-Diplomat. Dieser Bottom-up-Ansatz ergänzt die Platzierung chinesischer Diplomaten an der Spitze von Organisationen.

Kein Geld für Menschenrechtler

Dass China im Uno-System eine wichtige Rolle einnimmt, ist eigentlich naheliegend. Als ständiges Sicherheitsratsmitglied hat das Land ein Vetorecht. Mittlerweile bezahlt Peking den zweithöchsten obligatorischen Betrag an die Uno; auch bei Friedensmissionen ist Peking der zweitwichtigste Beitragszahler. China stellt mehr Soldaten und Polizisten für Uno-Blauhelmmissionen zur Verfügung als alle anderen ständigen Sicherheitsratsmitglieder zusammen. Rund 2500 sind es im Moment.

Doch auch den Blauhelmoperationen versucht Peking seine eigene Weltsicht aufzudrücken. Im bisherigen Verständnis der Uno gehören zu einer Friedensmission nicht nur Soldaten mit Waffen. Ebenso wichtig für einen anhaltenden Frieden ist der Aufbau einer Zivilgesellschaft. So unterstützen Uno-Missionen den Aufbau eines funktionierenden Rechtssystems und die Respektierung der Menschenrechte. Aus chinesischer Warte garantieren hingegen nicht Individuen den Frieden, sondern der Staat.

Dieser unterschiedliche Denkansatz zeigt sich bei den Budgetverhandlungen für die Friedensmissionen. Wiederholt haben chinesische Diplomaten versucht, Posten für Menschenrechte aus den Budgets der Mission zu streichen – zum Teil mit Erfolg. Auf diese Weise, um es mit den Worten des ehemaligen US-Diplomaten Feltman zu sagen, schreibt China langsam, aber stetig das Betriebssystem der Uno um.

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