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China will alles Tibetische auflösen

Xi Jinping plant, das Tibetische Volk mit neuen Massnahmen zur Unterdrückung endlich gefügig zu machen.

Ein Beitrag von Michael Radunski aus dem NZZ-E-Paper vom 18.10.2020

Wenn heute über die Menschenrechtsverletzungen von China gesprochen wird, denkt man zunächst an die Uiguren, die in der chinesischen Provinz Xinjiang zu Hunderttausenden in Internierungslager gesteckt werden, oder die Hongkonger, die im Kampf um Demokratie in Gefängnissen landen. Fast vergessen ist die Unterdrückung der Tibeter, obwohl sie seit Jahrzehnten von Peking drangsaliert werden. Es scheint, als sei der Westen müde geworden, betroffen zu sein.

Wie prekär die Situation der Tibeter jedoch mittlerweile geworden ist, zeigt eine neue Studie von Adrian Zenz. Der Wissenschafter durchforstet Informationen in chinesischen Regierungsdokumenten und Medienberichten, er analysiert Satellitenbilder aus Tibet und fügt die Informationsschnipsel zu einem grossen Bild zusammen. So ist der An­thropologe auch auf die Internierungslager in Xinjiang gestossen. Was er nun über Tibet herausgefunden hat, schockiert sogar ihn. «In Tibet läuft die grösste Attacke auf die tibetische Lebensweise seit der Kulturrevolution in den sechziger Jahren», sagt er.

Peking unterdrückt die Tibeter schon seit Jahrzehnten. Die Chinesen kontrollierten bisher den öffentlichen Raum, indem man unzählige Überwachungskameras installierte und eine fast erdrückende Präsenz von chinesischen Soldaten und Polizisten schuf. Unzählige tibetische Klöster und Tempel wurden zerstört, buddhistische Mönche und Nonnen verfolgt. Die Ausübung des tibetischen Buddhismus ist nicht verboten, aber streng kontrolliert. «Nun zieht Peking nochmals die Daumenschrauben massiv an», sagt Zenz. «Wie in Xinjiang geht es um absolute Kontrolle aller Lebensbereiche.»

Wie in Xinjiang

Die Regierung führe Listen über alle Tibeter, ihren Einkommensstand und verordne dann entsprechende Massnahmen: Den tibetischen Bauern und Nomaden werde ihr Land genommen und damit die eigentliche Lebensgrundlage entzogen. Dafür würden sie in Fabriken in anderen Regionen Chinas gesteckt, wo sie einfache Arbeiten, etwa in der Textilbranche, erlernten. Tibeter sollten künftig Angestellte werden und von Löhnen abhängig sein. Darüber hinaus schreibe das chinesische Tibet-Programm einen militärischen Drill vor. Die Tibeter müssten Arbeitsdisziplin und Chinesisch erlernen. Bilder zeigten Arbeiter in Militäruniformen, wie sie im Gleichschritt marschieren und vor der chinesischen Flagge salutieren. Den Menschen werde zudem Dankbarkeit gegenüber der chinesischen Regierung eingetrichtert. Gleichzeitig stecke man die Kinder in Schulen, die kaum noch tibetische Sprache, Kultur und Religion unterrichteten. Peking schicke Beamte sogar zu den Tibetern nach Hause, sie arbeiten dort, essen dort und können ­somit alles kontrollieren. Unter Xi Jinping wurde zudem massiv in neue Technologien investiert: Überwachungskameras wurden an jeder Strassenecke angebracht, detaillierte Datenbanken erstellt oder Spionage-Apps auf Telefonen installiert.

Auch Thinlay Chukki erkennt eine neue Qualität des Zwangs gegenüber Tibetern. Sie lebt in Genf und arbeitet dort für das Tibet-Büro des Dalai Lama, des geistlichen Oberhauptes der Tibeter. Wenn sie über das Schicksal ihrer Landsleute in Tibet spricht, mischen sich Wut und Traurigkeit. «Peking schreibt uns Tibetern jetzt die Berufe und Einkommen vor, nimmt uns das Land weg und macht uns damit abhängig. China will alles Tibetische zerstören», sagt sie.

Han sind überlegen

In Peking hingegen gebraucht man für die neue Politik in Tibet den Begriff «Armutsbekämpfung». Bis Ende 2020, so hat es Präsident Xi Jinping versprochen, werde keine Chinesin und kein Chinese mehr in extremer Armut leben. Zu Hause wie im Ausland verkünden Chinas Funktionäre: Materielles Wohlergehen sei ein wichtigeres Menschenrecht als Meinungsfreiheit oder Mitbestimmung. In vielen Teilen der Volksrepublik ist Pekings Plan aufgegangen. Jahrzehnte des ungebremsten Wirtschaftswachstums bescherten den Menschen, vor allem in Metropolregionen wie Peking, Schanghai oder Shenzhen, Wohlstand. Im Gegenzug akzeptieren diese den uneingeschränkten Führungsanspruch der Kommunistischen Partei.

In Tibet sieht es anders aus, und das hat gleich mehrere Gründe: Die Region ist abgelegen und entzieht sich damit schon rein geografisch einem allzu starken Einfluss Pekings. Zudem ist das Leben der Tibeter als Nomaden und ihr Alltag nur schwer zu kontrollieren.

Doch für Zenz ist ein anderer Punkt noch viel entscheidender: der ethnisch-kulturelle Unterschied zwischen den Han-Chinesen und den Tibetern. Zwar sind laut chinesischer Verfassung alle 56 offiziell anerkannten Ethnien der Volksrepublik gleichberechtigt, in ihrer Politik folgt die Pekinger Zentralregierung jedoch den Überlegungen des chinesischen Anthropologen Fei Xiaotong, wonach es in China eine klare Hierarchie gebe: Im Zentrum stehen demnach die Han, sie sind der Nukleus der Hochkultur. Die anderen 55 Minderheiten müssten sich anpassen und zivilisiert werden. «Während die Tibeter stolz sind auf ihre Tradition, ihre Kultur und ihren buddhistischen Glauben, betrachtet sie Peking als entwicklungsbedürftig, unterentwickelt und faul», fasst Zenz zusammen. Im Pekinger Entwicklungsplan für Tibet wird laut Zenz deshalb militärischer Drill mit umfassender Gedankenerziehung kombiniert.

Es sind vor allem diese Punkte, die auch andere Beobachter aufschrecken. Alexander Görlach, Wissenschafter bei der Denkfabrik Carnegie, sagt: «Peking betreibt einen Diskurs wie früher im Kolonialismus, so als bringe man den Wilden in den Bergen die Zivilisation», sagt der Wissenschafter, der als Gastprofessor in Taiwan und Hongkong war. «China unter Xi Jinping ist extrem ideologisiert. Es ist tragisch, dass Xi das Land in eine dunkle Zeit zurückführt, in der Dinge wie Rasse, Nationalismus und Überlegenheit bestimmend sind.»

Die Tibeterin Thinlay Chukki warnt vor den Folgen dieser neuen Zwangspolitik. «Wir haben keine Alternativen. Wir sitzen auf einer Zeitbombe, und ich kann nicht sagen, was als Nächstes ­passieren wird.»

Die chinesische Regierung sieht die Assimilierung als Chance, auch international zu punkten. Gelänge es, selbst die rückständigen Bauern in den entlegensten Teilen des Landes aus der Armut zu ziehen, wäre das ein Triumph. Wie sagte Xi Jinping vor zwei Jahren: «Kein Einzelner und keine Familie wird zurückgelassen.» Für die Tibeter wie Thinlay Chukki ist das kein Versprechen, sondern eher eine Drohung.

Bild vom Originalbeitrag: Vor dem Potala-Palast in der tibetischen Hauptstadt Lhasa zeigen chinesische Soldaten, wer die Macht hat. (1. 10. 2017).

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