Ignazio Cassis kritisiert Chinas Regime wegen der Menschenrechtsverletzungen in Hongkong und Xinjiang. Allerdings zeigt er dem Land gegenüber auch viel Nachsicht.
Lesen Sie hier den Originalbeitrag von Stefan Bühler und Lukas Häuptli, erschienen in der NZZ am 20.03.2021.
China lässt in Hongkong gerade die Opposition verhaften. Sind Sie mit uns einig, dass das gegen alle demokratischen und rechtsstaatlichen Regeln verstösst?
Ignazio Cassis: Die Einschränkung der demokratischen Rechte in Hongkong bereitet uns Sorgen. Bis jetzt galt für China und Hongkong immer das Prinzip: zwei Systeme, ein Land. Das war Zeichen des Respektes für die beiden unterschiedlichen Politsysteme.
Jetzt gibt es nur noch ein System. Es geht derzeit in diese Richtung. Auch in der Uiguren-Provinz Xinjiang begeht China schwere Menschenrechtsverletzungen.
Die Entwicklung der letzten drei, vier Jahre in Xinjiang ist nicht ermutigend. Die Rechte der Minderheiten, der Andersdenkenden, der Opposition – all das sprechen wir seit Jahren in den bilateralen Treffen mit China an. Das war auch beim Besuch von Aussenminister Wang Yi 2019 der Fall. Chinas Regierung kennt unsere Kritik.
Die USA, Kanada und die Niederlanden bezeichnen das Vorgehen Pekings gegen die Uiguren als Völkermord. Sie auch?
Es ist nicht Sache der Politik, einen Vorgang als Völkermord zu bezeichnen. Das ist Sache der Gerichte.
Wie würden Sie die Vorgänge in Xinjiang denn bezeichnen?
Wir haben immer klar gesagt: Das Vorgehen gegen die Uiguren ist eine Verletzung der Rechte von Minderheiten. Wir haben da unsere Sorge zum Ausdruck gebracht – auch gegenüber dem offiziellen China.
Wie haben Ihre Gesprächspartner reagiert?
China stellt sich immer auf den Standpunkt: Die Vorwürfe werden von den USA erfunden und sind falsch. Und: Das alles seien innere Angelegenheiten Chinas.
In der China-Strategie, die der Bundesrat am Freitag verabschiedet hat, übt die Schweiz schärfere Kritik an den Menschenrechtsverletzungen als auch schon. Zeichnet sich hier ein Kurswechsel ab?
Die Kritik, die wir immer geäussert haben, wird präziser und expliziter. Das ist kein Kurswechsel. Was wirklich neu ist: Mit der China-Strategie erhält die Schweiz einen Orientierungsrahmen für ihre Beziehungen zu China. Darin werden die Dinge jetzt beim Namen genannt, klar in der Sprache, diplomatisch in der Umsetzung. Konkret heisst das: Das Thema Menschenrechte ist nicht mehr eine exklusive Aufgabe des Aussendepartements, sondern eine Aufgabe des gesamten Bundesrats. Auch Kantone, Städte, Wissenschaft und Wirtschaft können einen Beitrag zum Schutz der Grundrechte leisten.
Auch die Wirtschaft?
Ja. Auch die Wirtschaft. Wir erhoffen uns vom Einbezug aller Akteure eine grössere Durchschlagskraft beim Thema Menschenrechte, wie das auch der Aktionsplan des Bundesrates für Wirtschaft und Menschenrechte vorsieht.
Sie haben neun Tage vor der Verabschiedung der China-Strategie den chinesischen Aussenminister Wang Yi angerufen. Warum das?
Es ist Usus in der Diplomatie, dass man vor der Verabschiedung eines so wichtigen Dokuments, wie es die China-Strategie ist, das betroffene Land vorinformiert. Das gilt nicht nur für China, das gilt auch für andere Länder. Man macht das, um unerwartete Reaktionen zu vermeiden. Ich sagte meinem Amtskollegen am Telefon: Wir verabschieden eine China-Strategie und sprechen darin auch Dinge an, die China unangenehm sind.
War es nicht so: Sie haben den chinesischen Aussenminister am Telefon vorsorglich beschwichtigt?
Das ist Sinn und Zweck dieser Telefonate. Man macht das in der Diplomatie, um die gegenseitige Beziehung nicht zu stören.
Wie hat Wang Yi reagiert?
Er hat die Ankündigung ohne Überraschung zur Kenntnis genommen. Sie entsprach ja dem, was ich ihm bereits 2019 gesagt habe. Aber er hat sich auch bedankt. Er empfand meinen Anruf als respektvoll.
Nach Ihrem Telefongespräch hat das chinesische Aussenministerium eine Medienmitteilung veröffentlicht. Darin war vor allem von den guten Wirtschaftsbeziehungen die Rede. Von Ihrer Kritik an den Menschenrechtsverletzungen stand kein Wort.
China ist in seinen Verlautbarungen frei.
Die chinesische Medienmitteilung könnte man aber auch so interpretieren: Schaut her, das alles steht auf dem Spiel, wenn ihr uns zu scharf kritisiert.
Es ist auch in unserem Interesse, dass der Dialog zwischen den beiden Ländern nicht abbricht.
Die Schweiz ist wirtschaftlich von China abhängig, etwa bei Medikamenten oder Medizinalprodukten. Macht sie das erpressbar?
Ganz Europa, ja die ganze Welt ist ein Stück weit erpressbar geworden. In der Corona-Pandemie sahen Sie das am Beispiel der Schutzmasken. Hier waren alle von China abhängig. Deshalb ist jetzt das Thema: Wie kann die Schweiz bei gewissen Gütern mehr Autonomie erhalten, damit wir in Krisen weniger von anderen Staaten abhängig sind.
Pflegt die Schweiz – in Anbetracht der Menschenrechtslage – zu enge Wirtschaftsbeziehungen zu China?
In der China-Strategie haben wir genau diesen Zielkonflikt thematisiert: Einerseits einen Marktzugang zu China haben und andererseits unsere Werte selbstbewusster vertreten.
Konkret zeigt sich der Zielkonflikt in Xinjiang. Nestlé hat sich jetzt aus der uigurischen Provinz zurückgezogen. Begrüssen Sie diesen Schritt?
Das ist genau der Ansatz der Schweiz und das Ziel der China-Strategie: Unternehmen übernehmen Verantwortung. Ich begrüsse das. Wenn Unternehmen die Verantwortung nicht übernehmen, greift der Staat ein und reguliert. Die Selbstregulierung ist in einer liberalen Demokratie wie der Schweiz aber immer die beste Lösung.
Kritisieren Sie die Schweizer Unternehmen, die noch immer in Xinjiang Geschäfte machen?
Wir beobachten diese Unternehmen, aber wir kritisieren sie nicht. Das ist nicht Aufgabe des Staats. Wir können Anreize schaffen, damit es anders wird.
Die Hoffnung auf eine Demokratisierung dank marktwirtschaftlicher Öffnung habe sich nicht realisiert, stellen Sie in Ihrer Strategie fest. «Weder Handel noch Internet haben zu einem entsprechenden Wandel Chinas geführt.» Das Prinzip Wandel durch Handel ist gescheitert?
Nein, das wäre übertrieben. Das Prinzip Wandel durch Handel hat China geholfen, eine Milliarde Menschen aus der Armut zu befreien. Meinen Sie aber mit Wandel die Entwicklung hin zu einer demokratischen Gesellschaft, wurde das nicht erreicht. Aber die Schweiz war auch nicht immer da, wo sie heute ist: Zum Beispiel durften die Frauen bis vor 50 Jahren nicht abstimmen. Das war auch eine Menschenrechtsverletzung.
Allerdings durften die Frauen für das Stimmrecht schon damals demonstrieren und kamen nicht in Umerziehungslager.
Was ich sagen will: Eine Demokratisierung erfolgt nicht über Nacht. Wenn die Verhältnisse in China nicht so sind, wie wir es wünschen, heisst das nicht, dass das Prinzip gescheitert ist. Immerhin: Eine Milliarde Menschen bewegen sich heute relativ frei in China.
Die soziale Überwachung der Bevölkerung in China spricht allerdings nicht für eine grosse Freiheit.
Ja, diese Probleme existieren. Das bestreite ich nicht. Aber die chinesische Bevölkerung lebte vor fünfzig Jahren in so tiefer Armut, dass die Leute ihre Dörfer nicht verlassen konnten. Das hat sich verbessert. Wir müssen dem Land respektvoll begegnen und ihm Zeit lassen. Was wird in zwanzig Jahren sein, wenn der Wohlstand in China weiter steigt? Werden die Leute dann immer noch schweigen?
Und was tut die Schweiz bis dann: Warten Sie zwanzig Jahre?
Gegenfrage: Was ist besser, jetzt empörungsgetrieben den Dialog abbrechen wegen der Menschenrechtsverletzungen und der Lage der Uiguren? Oder langfristig beharrlich den Dialog suchen und die Probleme ansprechen? Wir müssen die Geduld haben, dass die Reise in die richtige Richtung geht. Und wir hoffen, mit unserem Engagement hier einen Beitrag leisten zu können.
Die USA haben Sanktionen gegen mehrere Führungspersonen in Peking ergriffen, die EU diskutiert ebenfalls darüber. Wie stellt sich die Schweiz dazu?
Die Schweiz übernimmt automatisch Sanktionen der Uno. Von gleichgesinnten Partnern wie der EU übernehmen wir Sanktionen auf freiwilliger Basis. Von den USA dagegen haben wir noch nie Sanktionen übernommen.
Die EU und die USA sind uns als Demokratien doch viel näher als China. Müsste sich der Bund nicht mit diesen Mächten verbünden, um über Sanktionen und politischen Druck in China mehr Veränderungen zu bewirken, als das jetzt der Fall ist?
Wir koordinieren uns bereits sehr eng mit europäischen Ländern und – etwas weniger – mit den USA. Die Frage der Sanktionen wird zurzeit im Wirtschaftsdepartement analysiert. Aber die Schweiz macht grundsätzlich eine eigenständige Aussenpolitik. Das ist herausfordernd, aber das ist auch unser Wille.
Fürchten Sie nicht, dass die USA oder auch die EU Druck auf die Schweiz ausüben werden, damit wir ihre Sanktionen übernehmen?
Dieser Druck der USA hat schon in den letzten Jahren zugenommen. Wir konnten es bisher aber vermeiden, uns auf eine der beiden Seiten schlagen zu müssen. Dies, weil wir sowohl zu den USA als auch zu China gute Beziehungen pflegen. Natürlich stehen wir, was die gemeinsamen Werte betrifft, den USA viel näher. Aber wir wissen auch, dass China eine eminent wichtige Rolle spielt in der Welt. Wir brauchen China in einem umfassenden Multilateralismus, in dem sich alle Staaten auf gemeinsame Vereinbarungen verpflichten.
Geregelte Beziehungen mit der EU werden in der derzeitigen geopolitischen Situation noch wichtiger, heisst es in der China-Strategie. Diese Beziehungen sind aber infrage gestellt, der Rahmenvertrag mit der EU steht vor dem Scheitern. Wie geht es weiter?
Wenn das Rahmenabkommen scheitert, stehen wir dort, wo wir heute stehen. Und heute haben wir geregelte Beziehungen zur EU, wir haben mehr als 140 völkerrechtliche Verträge, die weiterhin gelten. Der Bundesrat will mit dem Rahmenabkommen den bilateralen Weg konsolidieren und weiter ausbauen.
Kritiker des Rahmenabkommens bringen den Ausbau des Handels mit China als Alternative ins Spiel. Ist das für Sie eine Option?
Die Schweiz liegt in Europa, wir stehen uns kulturell und wirtschaftlich viel näher, das ändert nicht. Auch nicht im 21. Jahrhundert, das viele wegen des Aufstiegs Chinas und anderer Volkswirtschaften in dieser Region als das asiatische Jahrhundert sehen. Freihandelsabkommen mit solchen Staaten helfen uns, unsere Klumpenrisiken zu reduzieren. Es gibt auch hier kein Entweder-oder.
Zum Schluss zu den Olympischen Spielen 2022 in Peking: Wie steht der Bundesrat zu den Boykottaufrufen?
Die Schweiz folgt dem Aufruf zum Boykott im Allgemeinen nicht. Auch die offizielle Schweiz wird in Peking vertreten sein. Aber es ist noch offen, auf welcher Stufe: Planen wir einen Besuch des Bundespräsidenten, oder ist bloss die Organisation Präsenz Schweiz vor Ort? Das sind sehr wichtige Symbole, die wir aussenden. Es ist aber noch nichts entschieden.