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Kein Doktortitel wegen eines Tweets: So weit reicht Chinas Einfluss auf Schweizer Hochschulen

Ein Schweizer Doktorand twittert kritisch über China. Danach will seine Professorin an der Universität St. Gallen nichts mehr mit ihm zu tun haben – sie fürchtet, kein Visum mehr zu bekommen. 

Lesen sie hier den Originalbeitrag erschienen in der NZZ am 03.08.2021. Text: Larissa Rhyn, Katrin Büchenbacher; Illustrationen: Christoph Fischer.

Als Oliver Gerber* zum ersten Mal hört, dass seine Tweets ihn seinen künftigen Doktortitel kosten könnten, sitzt er in seinem alten Kinderzimmer. Es ist der 28. März 2020, 21 Uhr 50. In Gerbers Postfach geht eine E-Mail seiner Betreuerin von der Universität St. Gallen (HSG) ein. Betreff: «Sehr dringend: Beschwerde aus China wegen Ihrem Twitter».

Gerber klickt die E-Mail auf seinem Smartphone an. Die Professorin schreibt, sie habe «aufgeregte Mails aus China» erhalten: Gerber verbreite «Neonazi-ähnliche Inhalte» auf Twitter. Das sei gefährlich, auch für sie: «Am Ende kann sogar möglicherweise ich wegen Ihnen kein Visum für China bekommen. Das geht entschieden zu weit und ich müsste unser Betreuungsverhältnis beenden.» Er solle seine politische Ausdrucksweise in der Öffentlichkeit sofort mässigen. Sie habe «keine Lust wegen einem meiner Doktoranden solche Mails zu bekommen».

Oliver Gerber muss die Nachricht zweimal lesen. Er twittert seit zehn Tagen, ihm folgen weniger als zehn Personen. Klar, er hat die chinesische Regierung scharf kritisiert. So postete er beispielsweise am 21. März auf Englisch: «Die Kommunistische Partei Chinas machte den Kampf gegen Covid-19 zum Plan B. Dieser würde nur zum Tragen kommen, wenn Plan A – Vertuschung – scheitert. So handeln paranoide Feiglinge. Sie haben weder meinen Respekt noch meine Dankbarkeit verdient. #ChinaLiedPeopleDied».

Das sollen «Neonazi-ähnliche» Inhalte sein? Gerber glaubt an ein Missverständnis. Er antwortet um 23 Uhr 11, will wissen, von wem die «aufgeregten Mails aus China» stammen. Er fragt, ob seine Professorin die Tweets überhaupt gelesen habe. Und er beschuldigt sie, «der immer aggressiveren chinesischen Zensur auf den Leim gegangen» zu sein. Trotzdem deaktiviert er sein Twitter-Konto.

Knapp 48 Stunden hört Oliver Gerber nichts mehr. Dann meldet sich die Professorin wieder. Ihr Tonfall ist distanziert, auf Gerbers Fragen geht sie nicht ein. Sie setzt die zweite Betreuerin der Arbeit in Kopie und schreibt, sie wünsche ihm viel Glück mit seinem «chinesischen Studium». Und weiter: Es «besteht kein Betreuungsverhältnis zwischen Ihnen und uns.»

Es ist die letzte E-Mail, die Gerber auf seinem HSG-Account erhalten wird. Am nächsten Tag hat er keinen Zugriff mehr auf die Nachrichten. Ein IT-Techniker sagt ihm am Telefon, sein Account existiere gar nicht. Gerber sagt: «Es fühlte sich an, als sei ich über Nacht eliminiert worden.»

Bildung ist zentral für Chinas globale Machtstrategie. Die chinesische Regierung will das Bild kontrollieren, welches die Welt vom Land hat. Dazu nimmt sie im Ausland Einfluss – und schreckt auch vor Repressionen nicht zurück. Anfang Jahr hat das chinesische Aussenministerium allen Forschern des grössten auf China spezialisierten Forschungsinstituts in Europa verboten, ins Land einzureisen. Solche Machtdemonstrationen schüchtern Forscherinnen und Forscher weltweit ein – insbesondere, wenn sie darauf angewiesen sind, beruflich nach China zu reisen. Das kann dazu führen, dass sie präventiv kritische Themen meiden.

Die Zusammenarbeit zwischen schweizerischen und chinesischen Universitäten ist eng, es gibt inzwischen über fünfzig Kooperationsabkommen. Schweizer profitieren von Auslandsaufenthalten und können in der Forschung auf grosse Datenmengen zugreifen, zum Beispiel, um Krebstherapien zu entwickeln. Aber welchen Preis hat diese Zusammenarbeit?

Es gibt erst wenige Personen in der Schweiz, die Versuche der chinesischen Einflussnahme an Universitäten offenlegen und kritisieren. Oliver Gerbers Fall zeigt aber, dass Chinas aggressive Aussenpolitik Einfluss darauf haben kann, wie Wissenschafter in der Schweiz sich öffentlich äussern und wie sie mit kritischen Voten ihrer Studenten umgehen. Er zeigt, dass manche Wissenschafterinnen und Wissenschafter bereit sind, sich und andere einzuschränken, um China nicht zu verärgern.

Oliver Gerber heisst eigentlich anders. Weil die Familie seiner Partnerin in China lebt und mit Repressionen rechnet, wenn sein Name in der Zeitung steht, möchte er anonym bleiben. Aus diesem Grund wird auch die Professorin nicht namentlich genannt. Die NZZ hat mit beiden Seiten gesprochen. 

Gerber wirft der HSG vor, dass sie ihn wegen seiner kritischen Tweets hinausgeworfen hat. Der NZZ liegen Kopien dieser Tweets sowie Gerbers Korrespondenz mit der Professorin und anderen HSG-Vertretern vor. Sie stützen weitgehend die Position des ehemaligen Doktoranden. Die Universität St. Gallen beharrt jedoch auf einer anderen Version: Gerber habe selbst entschieden, nicht mehr an der HSG zu studieren.

Wie begründet die HSG dies? Von wem hat die Professorin die «aufgeregten Mails aus China» erhalten? Und was bedeutet das für die Meinungs- und Forschungsfreiheit in der Schweiz?

Die Vorgeschichte

Oliver Gerber hat einen naturwissenschaftlichen Hintergrund, und das merkt man an der Art, wie er seine Geschichte erzählt: strukturiert, akribisch dokumentiert und mit Distanz. Als ob das alles jemand anderem passiert wäre. 

Dass ihn die Ereignisse dennoch stark beschäftigen, zeigt sich daran, wie oft er wiederholt: «Ich kann nicht fassen, dass so etwas in der Schweiz passiert ist.» Sein dreijähriger Forschungsaufwand: zerstört wegen eines Tweets.

Im Frühling 2017 beginnt Gerber sein Doktoratsstudium an der HSG. Er forscht im Bereich Umweltverschmutzung. Sein Thema ist für China heikel, trotzdem ist für Gerber früh klar: Er will das Land verstehen, will vor Ort forschen und nicht vom Schreibtisch in St. Gallen aus. Er bewirbt sich auf Stipendien und wird von der Betreuerin unterstützt. Im Empfehlungsschreiben schreibt sie: «Er ist dazu in der Lage, eine hochkarätige Forschungskarriere zu verfolgen.»

Gerber bekommt ein Stipendium der chinesischen Regierung an einer Universität in Wuhan – und zwar für drei Jahre, statt wie ursprünglich geplant nur für eines. Im September 2018 fliegt er nach Wuhan, schnell schliesst er Freundschaften und verliebt sich. 

Ein chinesischer Professor findet sein Doktoratsthema «langweilig» – ein Euphemismus für zu regierungskritisch. Er muss für sein Stipendium auch Kurse besuchen und kann nicht glauben, wie stark die Zensur den Universitätsalltag prägt. Als er einen Essay über Umerziehungslager einreicht, erhält er die schlechteste Note. In einer E-Mail an seine Professorin in St. Gallen schreibt er: «Vielleicht habe ich einfach Pech gehabt.»

Wie China durch Bildung Einfluss nimmt

China ist vor der Pandemie zu einer beliebten Destination für Studentinnen und Studenten aus aller Welt geworden. 2018 betrug deren Zahl fast eine halbe Million. Knapp 13 Prozent erhielten ein Stipendium von der chinesischen Regierung. Dafür wählt China gezielt Studierende von Ländern aus, in denen es politische Interessen verfolgt.

Chinas Wirtschaft wächst rasant. Aussenpolitisch tritt das Land immer aggressiver auf. Westliche Medien berichten ständig über Menschenrechtsverletzungen wie die Straflager in Xinjiang. Das alles weckt Ängste in Bezug auf China. Die Regierung ist sich dessen bewusst. 

Sie weiss aber auch, dass Chinas Geschichte viele fasziniert. Deshalb hat China die Konfuzius-Institute ins Leben gerufen. Weltweit gibt es mehr als 500 davon, in über 150 Ländern. Angesiedelt auf dem Campus ausländischer Universitäten sollen die Institute chinesische Sprache und Kultur lehren. Sie sind dem chinesischen Bildungsministerium unterstellt, das Personal und Gelder zur Verfügung stellt. In der Schweiz gibt es nur noch ein solches Institut, an der Universität Genf. Das zweite war in der Universität Basel angesiedelt und wurde im vergangenen Herbst geschlossen. 

Auch in den USA wurde in den letzten Jahren jedes vierte Konfuzius-Institut dichtgemacht. Die Universitäten wollten keiner Institution mehr Legitimität verleihen, die grundlegend andere Werte verteidigt. Während im Westen Forschungs- und Meinungsfreiheit wichtige Grundprinzipien sind, wird Bildung in China unter der Herrschaft von Staats- und Parteichef Xi Jinping stark politisiert. So hat die prestigeträchtige Fudan-Universität in Schanghai den Begriff Meinungsfreiheit in ihren Statuten durch «Xi Jinpings sozialistische Ideologie» ersetzt.

Der folgenschwere Entscheid

Oliver Gerber fliegt kurz vor Weihnachten 2019 zurück in die Schweiz, ursprünglich plant er nur einen kurzen Familienbesuch. Doch dann bricht die Coronavirus-Pandemie aus. Am 23. Januar wird über Wuhan ein strikter Lockdown verhängt. Gerber bleibt in der Schweiz. Er fängt an, sich Gedanken zu machen, wie es nach seinem Doktorat weitergehen soll. Seine Freundin rät ihm, sich auf Social Media zu vernetzen.

Bevor Gerber ein Twitter-Konto eröffnet, sucht er Rat bei seiner Professorin, weil er weiss, dass sie im sozialen Netzwerk aktiv ist. Er fragt per E-Mail: «Betreiben Sie einen gewissen Grad an Selbstzensur? Denken Sie, es wäre für mich zu gefährlich, ein Twitter-Konto zu eröffnen?»

Obwohl er keine Antwort erhält, beginnt er Mitte März zu twittern. Zu diesem Zeitpunkt steht China im Fokus als Ort des Ausbruchs der Corona-Pandemie. Gerber sieht seine Chance, sich als China-Experte zu positionieren. Gleichzeitig nimmt es ihn auch emotional mit, was in Wuhan passiert – in der Stadt, in die er zurückkehren will, wo er Freunde und eine Partnerin hat. Sein Twitter-Kanal wird zu einem Ventil: Er kritisiert die anfängliche Verschleierung der Corona-Epidemie durch die chinesische Regierung, die Repression in Xinjiang und Xi Jinping.

Als seine Freundin einige der Tweets sieht, ist sie schockiert. Sie bittet ihn am Telefon, damit aufzuhören. Nicht weil sie bei allem anderer Meinung wäre. Sondern weil sie sich vor Repressionen der chinesischen Regierung fürchtet. «Ich bin in der Schweiz, nicht in China», antwortet er. «Hier kann ich sagen, was ich will.»

Schweizer Hochschulen und ihre China-Connection

Die Kooperationen zwischen chinesischen und Schweizer Universitäten sind in den letzten Jahren ausgebaut worden. Die HSG hat fünfzehn Abkommen und damit fast doppelt so viele wie die ETH. An der HSG gibt es zudem seit acht Jahren ein «China Competence Center», dessen Ziel es ist, die «produktiven Beziehungen zu China zu stärken und zu vertiefen». Auf Anfrage heisst es in St. Gallen, man habe nie Probleme bei Kooperationen mit chinesischen Universitäten festgestellt. 

Letztes Jahr warnte der Schweizer Nachrichtendienst in einem Lagebericht vor chinesischen Spionen, die sich als Studenten oder als Forscher tarnen. Kürzlich waren die Verbindungen von Schweizer Hochschulen zu China auch im Parlament ein Thema. Zwei Parlamentarierinnen fragten in Vorstössen nach den Grundsätzen und Richtlinien der Zusammenarbeit. Der Bundesrat antwortete, die Hochschulen müssten selbst abwägen, welche Kooperationen sie eingingen. Es gebe keine «konkreten Rückmeldungen von Einflussnahmen im Sinne der Beschneidung akademischer Freiheiten».

Ralph Weber, China-Experte und Professor an der Universität Basel, kritisiert, die Schweizer Universitäten durchleuchteten ihre ausländischen Partner oft zu wenig – insbesondere die chinesischen. In manchen Wirtschaftszweigen sei es normal, dass bei wichtigen Geschäften geprüft werde, unter welchen Zwängen ein Partner funktioniere. «Bei vielen Hochschulen vermisse ich ein solches Vorgehen.»

Aus Webers Sicht braucht es klare Regeln und vor allem rote Linien. Sonst sei die Gefahr gross, dass sich Schweizer Hochschulen sagten: «Das ist China, da geht es nun einmal nicht anders.» Und deshalb bei den eigenen Werten Kompromisse machen würden. Die Schweizer Universitäten scheinen das Problem erkannt zu haben: Sie wollen im Rahmen der Dachorganisation der Schweizer Hochschulen erstmals gemeinsame Richtlinien zur Zusammenarbeit mit China entwickeln.

Der Konflikt

Nachdem Gerber die E-Mail gelesen hat, in der seine Professorin schreibt, es «bestehe kein Betreuungsverhältnis» mehr, wendet er sich verzweifelt an seinen Vater. Dieser nimmt Kontakt zu einem Anwalt auf. Auf Anraten seiner Freundin stellt Oliver Gerber noch am selben Abend ein Dossier mit E-Mails zwischen ihm und seinen wichtigsten Kontaktpersonen an der HSG zusammen. Sein Anwalt schreibt in den kommenden Wochen mehrere Briefe an die Unileitung.

Gerbers Ziel ist, dass er weiter an der HSG studieren kann. Aber die Uni argumentiert, die Professorin habe ihn nicht hinausgeworfen, sondern er sei schon längst auf eigenen Wunsch exmatrikuliert gewesen. Tatsächlich ist Gerber ab dem Herbstsemester 2019 nur noch an der chinesischen Universität eingeschrieben, nicht an der HSG. Dazu hatte ihm der Manager der Doktoratsprogramme an der HSG geraten. Er schrieb per E-Mail, so könne die Maximaldauer für den Abschluss nicht auslaufen, während Gerber in China sei. «Das Exmatrikulieren lässt dir auch alle Wahl.» Die Reimmatrikulation sei zwar wie eine neue Bewerbung – mit der Unterstützung seiner Professorin sei dies jedoch kein Problem.

Gerber folgt diesem Rat und exmatrikuliert sich vorübergehend in St. Gallen. Der Programm-Manager schreibt: «Eine weise Entscheidung.» Auf der Website der Uni wird Gerber vorerst weiterhin als Doktorand aufgeführt. Die Professorin betreut ihn wie zuvor – bis zur Beschwerde wegen seines Tweets. Sie fordert ihn beispielsweise nach einem Skype-Treffen auf, eine Gliederung zu senden. Am 21. Februar 2020, wenige Wochen bevor sie das Betreuungsverhältnis für inexistent erklärt, schreibt sie: «Es ist ja grossartig, wie gut Sie in China bereits vorangekommen sind!» 

Obwohl Gerber all dies dokumentieren kann, bleibt die Universität im Frühling 2020 bei ihrer Position, dass er längst kein HSG-Doktorand mehr gewesen sei, als es wegen seiner Tweets zum Bruch gekommen sei. Auch der Ombudsmann der Universität will den Fall aus diesem Grund nicht behandeln. Die HSG informiert Gerber, dass er sich komplett neu bewerben müsse, wenn er weiterstudieren wolle. Und dass er einen neuen Professor suchen müsse, der ihn betreuen würde.

Auf welchen Tweet sich die «aufgeregten Mails aus China» beziehen und von wem sie stammen, teilt die Professorin erst auf Anfrage der NZZ mit. Sie habe eine Nachricht von einem chinesischen Doktoranden erhalten, der an einer kanadischen Uni forsche. Die E-Mail liegt der NZZ vor, der Name des Absenders wurde jedoch geschwärzt – laut der Professorin auf Wunsch des Verfassers.

Der Verfasser beschuldigt Gerber einer «rassistischen Attacke auf das chinesische Volk». Er bezieht sich auf einen spezifischen Tweet: eine Karikatur, die Gerber als Antwort auf den Tweet eines anderen Users gepostet hatte. Sie zeigt eine Comicfigur, die abgeändert wurde und stereotype chinesische Merkmale hat: gelber Hautton, Schlitzaugen. Im Frühling 2020 zirkulierte diese Zeichnung auf Social Media und wurde von einigen Nutzern als rassistisch eingestuft. Gerber sagt, er habe die Karikatur nur wegen ihrer politischen Aussage geteilt. Thematisiert wird Chinas Haltung zu Taiwan und Hongkong. «Im Nachhinein sehe ich ein, dass ich die Darstellung der chinesischen Person zu wenig hinterfragt habe.»

Die Professorin sagt, sie habe Gerber darauf hingewiesen, dass er sich auf Twitter nicht mehr als HSG-Doktorand ausgeben dürfe, weil er sich im Vorjahr exmatrikuliert habe. «Dies hat rein gar nichts mit den Themen China oder Zensur zu tun.» Es sei ein Versehen gewesen, dass sie im Plural von «aufgeregten Mails aus China» schrieb, obwohl sie nur eine E-Mail erhalten habe– und zwar aus Kanada. Sie habe klarmachen wollen, dass weitere Reaktionen zu erwarten seien. Die Formulierung «dann müsste ich das Betreuungsverhältnis beenden» habe sich auf die informelle Beratung bezogen, die sie «auf Bitte des Doktoranden» geleistet habe. Dass Gerber auf der Website der HSG bis Ende März als solcher aufgeführt gewesen sei, liege schlicht an einem Versäumnis.

Weiter erklärt die Professorin, das Vertrauensverhältnis sei belastet gewesen, weil sich Gerber ein Jahr zuvor bei einem Gespräch «im Ton vergriffen» und ihr erklärt habe, er wolle sein Doktorat an der HSG in keiner Form mehr weiterführen und brauche sie nicht mehr als Doktormutter. Gerber bestreitet dies. Er habe lediglich einmal überlegt, einen Doppelabschluss beider Universitäten anzustreben. In den E-Mails zwischen den beiden aus dem Jahr 2019, die der NZZ vorliegen, gibt es keinen Hinweis auf Spannungen.

Ob die Professorin «aufgeregte Mails aus China» erhalten hat, wie sie selbst schrieb, lässt sich nicht abschliessend beurteilen. China kann jedoch auch mit der Politik der Visums-Vergabe Druck ausüben. Die erste Mail der Professorin zeigt deutlich, dass sie fürchtete, wegen Gerbers Tweets kein Visum für China mehr zu bekommen. Das erklärt auch, wie schnell sie den Kontakt abbrach – ungeachtet der Tatsache, dass Gerber sein Twitterprofil sofort deaktivierte. Waren zusätzlich wirtschaftliche Interessen im Spiel? Die HSG sagt, der Fachbereich der Professorin habe nie Gelder oder andere Unterstützungsleistungen von chinesischen Firmen oder anderen chinesischen Akteuren erhalten.

Das Nachspiel

Wie schätzt die HSG den Fall heute ein? Der Prorektor Ulrich Schmid sagt: «Die HSG bekennt sich vorbehaltlos zur Freiheit von Lehre und Forschung. Die Forschungsfreiheit ist hier aber in keiner Weise tangiert, da es sich um private Äusserungen des ehemaligen Doktoranden handelt, welche er über ein soziales Netzwerk publiziert hat.» Die Tweets könne man nicht kommentieren. «Die Tatsache aber, dass sie offensichtlich für grosse Diskussion gesorgt haben und als rassistisch wahrgenommen wurden, rechtfertigt das Begehren der Professorin, sich klar davon zu distanzieren.»

Schmid betont, Gerbers Betreuung nach der Exmatrikulation sei «rein freiwillig» gewesen sei und habe «informellen Charakter» gehabt. Es sei «gutes Recht» der Professorin, diese jederzeit zu beenden, wenn das Vertrauensverhältnis gestört sei. Weiter habe Gerber kein vollständiges Gesuch zur erneuten Immatrikulation gestellt, sondern versucht, seine Reimmatrikulation zu erzwingen. 

Im Frühsommer 2020 entschied Gerber, die juristischen Bemühungen aufzugeben. Er sagt, er habe das Immatrikulationsgesuch nicht vervollständigt, weil er keinen neuen Betreuer gefunden habe: «Es gab keinen anderen Professor im gleichen Fachbereich, bei dem ich meine Arbeit hätte fertig schreiben können. Das Thema zu wechseln, hätte bedeutet, nach dreieinhalb Jahren wieder bei null anzufangen. Das kam für mich nicht infrage.»

Gerber hat sich lange überlegt, ob er den Fall öffentlich machen soll. Er erhofft sich eine Debatte darüber, wie China an Schweizer Universitäten Einfluss nimmt. 

Heute sagt Gerber, mit dem Twittern angefangen zu haben, sei ein Fehler gewesen. Dass er deswegen drei Jahre Forschungsarbeit verlieren konnte, macht ihn noch immer fassungslos. Ja, er habe einen chinakritischen Pfad eingeschlagen und einmal eine Karikatur geteilt, die er heute nicht mehr teilen würde. «Aber ich habe doch nichts verbrochen.»

Gerber hat sein Doktorat aufgegeben. Er sagt: «Ich will mich nicht zensieren müssen – schon gar nicht in der Schweiz». Mittlerweile hat er eine Stelle gefunden, die nichts mit China zu tun hat.

* Name der Redaktion bekannt.

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