Penpa Tsering kritisiert Chinas Tibet-Politik als kulturellen Genozid. Er hofft auf internationalen Druck, um Peking zu Verhandlungen zu bringen – und auf Schweizer Standhaftigkeit.
Lesen Sie hier das Interview von Vincenzo Capodici, erschienen im Tagesanzeiger am 09.11.2021. Foto: Dominique Meienberg
Penpa Tsering spricht mit Sorge über das Schicksal der Tibeter in China. «Die Chinesen töten langsam, aber konsequent unsere Sprache, unsere Kultur, unsere Religion, unsere Lebensweise», sagt der neue Chef der tibetischen Exilregierung im Gespräch mit dieser Zeitung. Die Sinisierung beginne bereits im Kindergarten, wo die kleinen Tibeter Mandarin lernen müssten. Ausserdem betreibe Peking eine aggressive Ansiedlung von Chinesen in Tibet. «Es leben bereits mehr Chinesen als Tibeter in Tibet», sagt Tsering. «Wir sind nicht gegen eine multikulturelle Gesellschaft, sondern gegen die Dominanz einer Mehrheit über eine Minderheit.»
All diese Entwicklungen kämen für das tibetische Volk einem «kulturellen Genozid» gleich. «Wir haben keine Zeit mehr», sagt der in einem Flüchtlingslager im indischen Exil geborene Tsering. In Indien, in Dharamsala, befindet sich auch der Sitz der tibetischen Exilregierung. Im letzten Frühling ist der 55-jährige Tsering von den Exiltibetern zum neuen Sikyong gewählt worden, einer Art tibetischem Premierminister. Der frühere Sprecher des Exilparlaments folgte auf Lobsang Sangay, der zehn Jahre im Amt war.
Der «mittlere Weg» will keine Sezession oder Unabhängigkeit, sondern weitreichende Autonomie und Freiheitsrechte.
Als Premier der Exiltibeter reist Tsering um die Welt, um für eine friedliche Lösung des tibetisch-chinesischen Konflikts zu werben und um internationale Unterstützung zu mobilisieren. Tsering ist ein Verfechter des «mittleren Weges», der zwar keine Sezession oder Unabhängigkeit von China anstrebt, aber weitreichende Autonomie und Freiheitsrechte für das tibetische Volk einfordert. Der «mittlere Weg» war einst vom Dalai Lama, dem religiösen Führer der Tibeter, vorgeschlagen worden.
«Seine Heiligkeit ist nicht Teil des Problems, wie die chinesische Regierung es behauptet», betont Tsering. «Der Dalai Lama ist Teil der Lösung.» Eine friedliche Lösung der Tibet-Frage zu Lebzeiten des Dalai Lama sei von überragender Bedeutung. «Wäre er nicht mehr da, wäre dies ein grosser Rückschlag für unsere Sache», sagt Tsering. «Seine Heiligkeit hat uns allerdings den richtigen Weg vorgegeben und uns gelehrt, Verantwortung zu übernehmen.» Der Dalai Lama ist inzwischen 86 Jahre alt. Obwohl er seit 62 Jahren im indischen Exil lebt, ist er in Tibet noch omnipräsent.
Für seine fünfjährige Amtszeit hat der neue Sikyong der Exiltibeter ein zentrales Ziel: Er will Verhandlungen mit der chinesischen Regierung erreichen. «Wir wollen für Tibet eine Lösung, die für beide Seiten stimmt.» Zuletzt hat es von 2002 bis 2010 offizielle Gespräche zwischen den Exiltibetern und Peking gegeben. Seither herrscht Funkstille.
Momentan sehen Beobachter höchstens Chancen für Gespräche auf inoffiziellen Kanälen. Zu gross sind die Meinungsunterschiede in zentralen Fragen, etwa wie viel Autonomie Tibet haben soll oder wo genau Tibets Grenzen liegen. Und derzeit dominieren die Hardliner in der chinesischen Führung.
Weitere Repressionen in Tibet zu befürchten
Einer dieser Hardliner ist seit dem letzten Monat der neue Parteichef Tibets: Wang Junzheng. Der ehemalige Sicherheitschef der Region Xinjiang gilt als einer der Architekten des berüchtigten Lagersystems, in dem Hunderttausende Uiguren weggesperrt wurden. In diesen Lagern müssen die Insassen Indoktrinierung und Zwangsarbeit über sich ergehen lassen.
«Das ist typisch für Chinas Führung, wie sie mit Tibet umgeht», sagt der Chef der tibetischen Exilregierung zur Berufung des neuen Tibet-Statthalters der Kommunistischen Partei. Tsering befürchtet, dass es weitere Restriktionen für das tibetische Volk geben wird. Ob in Tibet Lagersysteme wie in Xinjiang eingerichtet werden sollen, kann er nicht abschätzen. Auch weil im bereits total überwachten Tibet «kaum Informationen nach draussen dringen».
Wer Informationen an Verwandte oder Bekannte im Ausland weitergebe, müsse mit harten Strafen rechnen. Ins Ausland reisen könnten die Tibeter auch nicht, «weil ihnen die Reisepässe abgenommen worden sind», wie der Sikyong im Gespräch ausführt. Obwohl die Lage in Tibet immer düsterer werde, «werden wir als Buddhisten unseren Weg der Gewaltlosigkeit weiter beschreiten».
Tsering spricht Klartext über China – nicht nur wenn es um Tibet geht. Er verurteilt die Menschenrechtsverletzungen an den Uiguren und in Hongkong, ebenso das aggressive Verhalten Chinas gegenüber Taiwan oder Indien sowie die chinesische Propaganda in aller Welt. «Die Chinesen lügen die ganze Zeit», sagt Tsering. Und weiter: «Sie missachten internationale Abkommen. Sie halten sich nur daran, wenn diese ihnen nützlich sind.»
Der Westen komme nicht mehr um die Feststellung herum, dass China sich nicht wie erhofft entwickelt habe. Die wachsende China-Skepsis in den USA und in Europa will die Tsering-Regierung nutzen, um die Anliegen der Tibeter voranzubringen. In der internationalen Gemeinschaft gebe es wieder ein wachsendes Interesse an der Tibet-Frage, sagt Tsering. Es brauche aber konkrete Taten.
Etwa Druck, der Peking wieder an den Verhandlungstisch mit den Tibetern bringt. Oder eine westliche Politik, die nicht nur Handel mit China forciert, sondern gleichzeitig die Beachtung von Menschen- und Freiheitsrechten einfordert.
Auf seiner Mission für ein autonomes Tibet war der Sikyong in der vergangenen Woche auch in der Schweiz unterwegs. Bei seinem fünftägigen Besuch nahm Tsering an einem Tibet-Forum in Genf teil und sprach mit Schweizer Parlamentariern in Bern, er traf sich mit Mitgliedern der Gesellschaft Schweizerisch-Tibetische Freundschaft und trat in Zürich an einem Anlass des Vereins Tibeter Jugend in Europa auf. Auf die Frage, ob er auch von Bundesräten empfangen worden sei, antwortet Tsering ausweichend. Er habe in der Schweiz mit «relevanten Personen und Behörden» Kontakt gehabt.
«Wir sind den Schweizern sehr dankbar», sagt Tsering. Dankbar für die Bemühungen um eine friedliche Lösung in der Tibet-Frage, aber auch für die freundliche Aufnahme von Flüchtlingen aus Tibet seit den 1960er-Jahren. In der Schweiz leben heute über 7500 Tibeter. Sie gelten als sehr gut integriert. Hängig sind derzeit die Asylgesuche von rund 200 Tibetern, die derzeit als Sans-Papiers in der Schweiz leben.
Tibeter in der Schweiz werden von chinesischen Funktionären überwacht und eingeschüchtert.
Sorge bereitet Tsering, dass die tibetische Gemeinschaft in der Schweiz – wie auch in anderen Ländern, wo Tibeter leben – zunehmend von Funktionären oder Informanten der chinesischen Regierung beschattet und eingeschüchtert werde. «Uns sind solche Fälle bekannt», sagt Tsering. Tibet-Aktivisten in der Schweiz müssten etwa damit rechnen, dass ihre Verwandten in Tibet Probleme bekämen, wenn sie an Demonstrationen teilnähmen. Bekannt sei auch die chinesische Einflussnahme auf Medien, Universitäten und Banken.
Klare Haltung gegenüber China nötig
«Wo bleibt denn die Souveränität der Schweiz?», fragt Tsering. Die Schweiz habe ein Freihandelsabkommen mit China abgeschlossen. Dies dürfe aber nicht dazu führen, dass die Schweizer sich im eigenen Land chinesischem Druck beugten. «Man kann nicht immer nur an Geschäfte und Profit denken. Der Schweiz geht es doch bereits sehr gut. Noch mehr Geld und noch mehr materieller Wohlstand – das macht auch nicht glücklich.»
Handel mit China ist nach Ansicht von Tsering durchaus in Ordnung, wenn dies mit einer Diskussion über Menschenrechte, Freiheit und Demokratie verbunden wird. Der Westen müsse trotz wirtschaftlicher Interessen seine Werte auch gegenüber China verteidigen. Und dies müsse kein Nachteil sein, meint der Chef der Tibeter Exilregierung. «Denn China respektiert nur Stärke, keine Schwäche.»
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Vincenzo Capodici ist Redaktor im Ressort International. Seit 2007 für Tamedia tätig mit Schwerpunkt Onlinejournalismus, u.a. News-Redaktor, Reporter und 12-App-Produzent. Er ist Mitglied des Tamedia-weiten Netzwerks «Neue Formen & Storytelling». @V_Capodici
Weitere Veröffentlichungen des Interviews finden Sie auch hier:
https://www.tagesanzeiger.ch/chef-der-exiltibeter-die-chinesen-luegen-die-ganze-zeit-759964178392
https://www.bazonline.ch/chef-der-exiltibeter-die-chinesen-luegen-die-ganze-zeit-759964178392
https://www.bernerzeitung.ch/ausland/asien-und-ozeanien