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«Ich werde von China als Gefahr für seine Propaganda angesehen»

Tibeter-Protest gegen Beijing 2022

Lesen Sie hier den Originalbeitrag von Vincenzo Capodici, publiziert: am 25.01.2022 in der BaZ. Bilder vom Originalbeitrag: Urs Jaudas.

Dhondup Wangchen erlitt Folter und Gefängnis, weil er einen China-kritischen Dokfilm über Tibet realisiert hatte. Jetzt wirbt er für einen Boykott der Olympischen Winterspiele in Peking.

China ist sein Albtraum und Tibet seine Mission. Dhondup Wangchen reist seit Jahren durch die Welt, um über den Unrechtsstaat China zu berichten. Der 47-jährige Tibeter erzählt über seine Leidenszeit als politischer Gefangener und über den kulturellen Genozid in seiner früheren Heimat. In diesem Winter ist er in Europa unterwegs: Er wirbt für einen Boykott der Olympischen Winterspiele in Peking, die am 4. Februar beginnen.

Wangchen hat kein Verständnis, dass diese Sportgrossveranstaltung in China stattfinden kann – und dass die allermeisten Regierungen keine klare Haltung zeigen. «Ein diplomatischer Boykott wäre das Mindeste, was die internationale Gemeinschaft tun könnte», sagt Wangchen in einem Gespräch mit unserer Zeitung in Zürich. Auf Einladung des Vereins Tibeter Jugend in Europa (VTJE) mit Sitz in Zürich weilte er kürzlich in der Schweiz.

«Die Wahrheit über China muss ausgesprochen werden», betont Wangchen. «Die Menschenrechtslage in Tibet wird immer schlechter.» Es gehe aber um viel mehr: die Uiguren, auch die Mongolen, ausserdem um Hongkong und Taiwan. Dass die Regierung in Peking die Aufklärung des Pandemie-Ursprungs in Wuhan behindere, zeige, dass China kein Partnerland für demokratische, freiheitliche Länder sein könne, erklärt Wangchen. (Lesen Sie zum Thema auch den Artikel «Wo bleibt denn die Souveränität der Schweiz?»)

Falsche Versprechen vor Olympia

Der Tibet-Aktivist, der in den USA lebt, findet es beschämend, dass das Internationale Olympische Komitee (IOK) sich für die chinesische Propaganda einspannen lasse. Dabei würden auch falsche Versprechen gemacht. Ein weiteres Mal. Dies sei bereits bei den Olympischen Sommerspielen 2008 in Peking passiert.

Zum damaligen sportlichen Grossanlass hatten das chinesische Regime und das IOK die Losung «Eine Welt, ein Traum» herausgegeben. Verlautbarungen der kommunistischen Partei hatten zudem die Hoffnung geweckt, dass die Olympischen Spiele Menschenrechte und Meinungsfreiheit mit sich bringen würden.

Wangchen, ein Bauer aus Ost-Tibet, war damals in seinen Anfängen als Aktivist. 2007 beschloss er, einen Dokumentarfilm über die Lage in Tibet zu drehen. Mit einem Mitstreiter befragte er Alte und Junge, Mönche und Nomaden, Bauern und Stadtbewohner über ihre Lebenssituation und ihre mit Olympia verbundenen Erwartungen.

Das Resultat war ein 25-minütiger Film mit dem Titel «Leaving Fear Behind» («Die Angst hinter sich lassen») – ein Videodokument, das der chinesischen Regierung nicht gefallen konnte. «Wir Tibeter haben keinen Grund zum Feiern», sagt zum Beispiel eine Auskunftsperson im Film. Oder auch: «Unsere Sprache ist in Gefahr. Es gibt keine Religionsfreiheit.» Der Film ist im Internet zu finden, etwa auf den Videoplattformen von Youtube und Vimeo.

Quelle: Youtube/Journeyman.tv

Aufgrund der politischen Brisanz des Films hatten Wangchen und sein Helfer vorgesorgt. Sie übergaben das Rohmaterial mit über 100 Interviews einer Kontaktperson, die dieses über Umwege an einen in der Schweiz lebenden Cousin von Wangchen zukommen liess. Mit der Unterstützung von Exil-Tibetern in der Schweiz konnte der Film fertiggestellt werden.

Wenige Monate vor den Olympischen Sommerspielen 2008 in Peking brachte die Filmdoku Wangchen in grösste Schwierigkeiten. Jemand muss ihn bei den chinesischen Behörden denunziert haben. Es war der 26. März 2008, als er in der Provinz Qinghai von Polizisten verschleppt wurde. In einem «Hotel» habe man ihm einen Sack über den Kopf gestülpt und ihn in ein eisernes Foltergestell gesteckt und fixiert, erzählt Wangchen.

«Ich wurde sieben Tage und sieben Nächte gefoltert.»Dhondup Wangchen

Mit einem solchen «Tigerstuhl» werden Opfer unter anderem zu schmerzhaften Haltungen gezwungen. Beim Verhör habe man ihn mit Fäusten am Kopf traktiert und ihm Elektroschocks in den Hals verpasst. «Ich wurde sieben Tage und sieben Nächte gefoltert.» Kein Schlaf, kein Essen, kein Anwalt.

Schliesslich wurde der Filmemacher in einem Geheimprozess wegen Anstiftung zum Separatismus zu einer Gefängnisstrafe verurteilt. Sechs Jahre und drei Monate verbrachte Wangchen im Gefängnis Nummer 1 der Stadt Xining. Die Haftstrafe bedeutete tägliche Zwangsarbeit von bis zu 16 Stunden, dazu gehörte etwa die Anfertigung von Soldatenuniformen.

Teil des Gefängnisalltags waren auch Umerziehungslektionen. «Man wollte uns zum Beispiel beibringen, dass der Dalai Lama ein Staatsfeind Chinas ist», berichtet Wangchen. Sein Fall löste damals internationale Proteste aus, Amnesty International startete eine Kampagne. Doch Chinas Regime liess das alles kalt.

Am 5. Juni 2014 wurde Wangchen aus der Haft entlassen. In Freiheit leben konnte er aber nicht in seiner Heimat. «Ich durfte nicht reisen ohne Erlaubnis der Behörden, und ich durfte keine Freunde treffen.» Weil sich sein Leben nach der Haftentlassung «wie ein zweites Gefängnis» anfühlte, entschied er sich im Dezember 2017 zur riskanten Flucht aus China. Sein Weg in die Freiheit führte über mehrere asiatische Länder. Um diese Route für zukünftige Flüchtlinge zu schützen, möchte Wangchen seinen Fluchtweg nicht bekannt geben.

Schliesslich klappte es mit der gewünschten Spezialbewilligung für die Einreise in die USA. Es war ein Wiedersehen mit seiner Familie nach langer Zeit. Seine Frau und seine vier Kinder hatten bereits 2012 politisches Asyl in den USA erhalten, nachdem sie vor 2008 aus Tibet nach Indien geflüchtet waren. Wangchens Familie lebt heute in San Francisco. Weil seine Frau arbeitet und das Familieneinkommen sichert, kann er sich der politischen Arbeit widmen.

Wangchen besucht zahlreiche Länder und führt viele Gespräche. Mal tritt er in einem Ausschuss des US-Kongresses auf, mal hält er eine Ansprache am Genfer Gipfel für Menschenrechte. Er spricht mit Politikern und mit Sportfunktionären. In Interviews und Reden fordert er Regierungen und Sportverbände auf, im Umgang mit Peking stets die Bedeutung der Menschenrechte zu betonen. China-kritische Politiker haben ein Gehör für seine Anliegen, Funktionäre von olympischen Verbänden deutlich weniger. Sie weichen meistens aus, oder sie geben sich machtlos, wie Wangchen mehrmals feststellen musste auf seiner laufenden Europa-Tour.

Trotzdem lässt er sich nicht entmutigen. Auch nicht durch den Umstand, dass er immer wieder von chinesischer Seite schikaniert und belästigt wird. Er berichtet von zerstochenen Autoreifen in seiner neuen Heimat, von Versuchen, seinen Ruf zu beschädigen, von Beleidigungen, auch von Drohungen. «Ich werde offenbar von China als Gefahr für seine Propaganda angesehen. Das heisst, dass meine Arbeit erfolgreich ist.»

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