Nachdem sich die Behörden rühmten, dass Tibet für 920 Tage ohne Corona-Infektion blieb, traten Anfang August die ersten Fälle auf. Darauf reagierten die Behörden mit drastischen Massnahmen wie Ausgangssperren, Reiseverboten und «Desinfektionsmassnahmen». Auch wurden mehrere Funktionäre wegen angeblicher Unfähigkeit ihrer Ämter enthoben.
Drohungen und Sanktionen gegen «Verbreitung von Gerüchten»
Nun, mehr 6 Wochen später, liegen zahlreiche, teilweise dramatische Schilderungen und Beschwerden von Betroffenen über die Situation im sozialen Netzwerk Weibo vor. Dieses geschah trotz einer deutlichen Warnung der Internet-Administration der «Autonomen Region Tibet» (TAR). Am 9. August warnte das Amt ausdrücklich, «Gerüchte» über die Pandemie zu streuen, denen man «mit Härte» begegnen müsse. Einzelne User von Weibo wurden laut Regierungsmitteilungen offenbar schon bestraft. Chinesische Medien warnten Betroffene davor, «auf ihre Daumen [zum Schreiben] aufzupassen, damit sie nicht in Schwierigkeiten geraten». Eine Tibeterin zeigte Fotos von sich mit Blutergüssen, weil sie verprügelt wurde, nachdem sie sich über die Zustände in Isolation beschwerte.
Schilderungen der Missstände
Die Weibo-Beiträge üben trotz Drohungen teilweise heftige Kritik an den Behörden und bezichtigten sie der Gleichgültigkeit und Inkompetenz.
Viele Tibeterinnen und Tibeter klagen, dass sie in Isolation ohne ausreichende Ernährung und medizinische Hilfe blieben. Oft gebe es nur eine Mahlzeit am Tag. Das Spital in Lhasa sei voll, und Infizierte würden stattdessen in ein Isolationszentrum gebracht, wo sie erst 3 Tage später medizinisch betreut wurden. Viele beschweren sich, weil Anfragen nach medizinischer Hilfe ignoriert wurden. Eine Schwangere habe in Isolation eine Fehlgeburt erlitten, weil ihr medizinische Hilfe verweigert wurde. Ein User beklagte sich, dass er nun 34 Tage in Isolation sei und sich 24 Tests unterziehen musste, und nur der letzte sei positiv ausgefallen. Umgekehrt mussten Personen mit Symptomen mehrere Tage warten, ehe sie überhaupt getestet wurden.
Behörden sollen ganze Familiengemeinschaften auffordern, in Isolation zu gehen, gleichgültig ob sie positiv oder negativ getestet sind. Die Aufforderung enthielt auch eine versteckte Warnung, dass diejenigen, die trotz negativem Test nicht freiwillig in Isolation gehen, bei einem späteren positiven Test in schlechtere Unterkünfte müssten. Auf der Fahrt würden positiv und negativ Getestete ohne Abstandsregelung im gleichen Bus zu den Unterkünften gefahren und dort auch in Betten nebeneinander untergebracht. Ein User schilderte, dass die Betroffenen im Bus nach Ankunft im Isolationszentrum noch 5 Stunden warten mussten, ehe ihnen eine Unterkunft zugewiesen wurde. Mehrere berichteten, dass sie auch nach Ankunft zunächst negativ getestet wurden, sich aber später ansteckten. Die Unterkünfte, in denen Isolierte untergebracht werden, sind teilweise nur Rohbauten. Fotos auf Weibo zeigen Räume mit nackten Wänden, in denen in engem Abstand Reihen von Betten stehen. Ein Foto zeigt eine völlig verschmutze und überflutete Toilette. Auf Weibo gibt mehrere Berichte und Fotos von vergammelten Nahrungsmitteln, die geliefert wurden. Es kursieren Bezeichnungen wie «Schweineställe» für diese Unterkünfte.
Nahrungsmittel werden im Lockdown knapp
Auch Wanderarbeiter und -arbeiterinnen sowie freiwillige Helfer und Helferinnen beschwerten sich über ihre Situation. Zwar nicht in Isolation, könnten sie wegen des Lockdowns und der Reisebeschränkungen kaum noch Nahrungsmittel oder Benzin einkaufen. Angesichts des akuten Mangels seien die Preise für die wenigen Güter so stark gestiegen, dass ihnen demnächst das Geld ausginge.
Entschuldigungen und Ablenkung
In einer ungewöhnlichen Wendung gab der Vizebürgermeister von Lhasa Missstände zu und entschuldigte sich für die Umsetzung des Lockdowns: «Im Namen der Stadtregierung möchte ich mich bei den Menschen aller ethnischen Gruppen zutiefst entschuldigen.» Die Beschwerden hätten die Unzulänglichkeiten und Schwächen der Stadtverwaltung aufgezeigt.
Nachdem ähnliche Schilderungen und Beschwerden auch aus Xinjiang auf Weibo begannen, griffen die Zensoren zu einem Ablenkungsmanöver und überschwemmten die Plattform zunächst mit Tourismustipps, dann tagelangen Beiträgen zum Tod von Elisabeth II. Sarkastisch bemerkte der chinesische Journalist Chu Yang, der Tod der Queen habe Weibo gerettet.
Tibetan Centre for Human Rights and Democracy, 18. September 2022 // Nau.ch, 20. September 2022 // Dr. Uwe Meya
Fotos: Screenshot Weibo