Lesen Sie den Originalbericht von Johannes Ritter, Zürich, erschienen in der FAZ am 12.04.2021, hier.
Schließt die Schweiz sich den Sanktionen der EU wegen der Menschenrechtsvergehen in Xinjiang an? Aus wirtschaftlichen Interessen scheut die Regierung noch zurück. Derweil weiten die Chinesen ihren Einfluss aus.
„Die Menschenrechtslage in China hat sich verschlechtert.“ Dieser schnörkellose Satz aus der offiziellen China-Strategie, welche die Schweizer Regierung Mitte März erstmals formuliert hat, mag nur das Offensichtliche benennen. Für die Schweiz jedoch ist er eine kleine Sensation. In dem 40 Seiten starken Papier werden die Missstände in der Volksrepublik ungewohnt deutlich angesprochen. Dort hätten sich die autoritären Tendenzen verstärkt, heißt es. Die Bürger seien wohlhabender, aber nicht freier geworden. Wie kaum ein anderer Staat nutze China die Digitalisierung zur gesellschaftlichen Disziplinierung. In dem Bericht werden die staatliche Zensur, die Einschränkung der Meinungs- und Medienfreiheit in Hongkong sowie der Einfluss der Kommunistischen Partei (KP) auf Bildung und Forschung thematisiert.
Vor zwei Jahren, bei einem Besuch des Schweizer Finanzministers Ueli Maurer in Peking, hörte sich das noch anders an. Er selbst könne gar nicht beurteilen, ob sich die Menschenrechtslage wirklich so stark verschlechtert habe, gab er zu Protokoll. Der Minister von der nationalkonservativen Schweizerischen Volkspartei (SVP) sprach damals in seiner Rolle als Schweizer Bundespräsident – das Amt ist in der Schweiz ein Wanderpokal, der jedes Jahr von einem der sieben ranggleichen Regierungsmitglieder zum nächsten gereicht wird. Die brutale Repression der Uiguren und deren Zwangsinternierung in Lagern in Xinjiang waren schon damals gut belegt.
Schmusekurs mit China
Maurer nahm damals unter anderem an einer Konferenz zur Neuen Seidenstraße teil, jenem gigantischen Infrastrukturprojekt, das Chinas geopolitischen Einfluss enorm erweitert hat. Auch die Schweiz hofft, davon zu profitieren. Etwa durch Aufträge an heimische Unternehmen und durch Kreditvergaben von Schweizer Banken. Darin liegt auch der Grund für Maurers Schmusekurs: China ist hinter der EU und den Vereinigten Staaten der drittwichtigste Handelspartner der Schweiz. Mit diesem will es sich die exportabhängige Eidgenossenschaft nicht verscherzen. Seit 2014 sind beide Länder über ein Freihandelsabkommen verbunden.
Doch nun ist die Stimmung arg getrübt. Der Schweizer Außenminister Ignazio Cassis (FDP) ahnte schon, dass sich Peking über das neue China-Papier ärgern würde. Daher rief er vor dessen Veröffentlichung seinen Amtskollegen Wang Yi an, „um unerwartete Reaktionen zu vermeiden“, wie er festhielt. Es brachte nichts. Die Chinesen reagierten empört und bliesen über ihren Botschafter in der Schweiz, Wang Shihting, zur Offensive.
In einer Online-Pressekonferenz wies Wang die „unbegründeten Anschuldigungen und Angriffe auf das politische System, die Minderheitenpolitik sowie die Menschenrechtslage Chinas“ aggressiv zurück. Der Westen verbreite „schamlose Lügen“ über die Uiguren-Provinz Xinjiang. Dem Zürcher „Tagesanzeiger“ sagte er zudem, dort gebe es keine Internierungs- oder Umerziehungslager und weder Zwangsarbeit noch Völkermord. Er wies zudem Vorwürfe zurück, China betreibe in der Schweiz Wissenschafts- und Wirtschaftsspionage und überwache die chinesischen Bürger im Land.
Tatsächlich war von 2015 bis 2020 ein Abkommen in Kraft, das es Beamten des chinesischen Ministeriums für öffentliche Sicherheit erlaubte, in die Eidgenossenschaft einzureisen, um „die schweizerische Seite bei der Identifikation von mutmaßlich chinesischen Staatsangehörigen mit irregulärem Aufenthalt in der Schweiz zu unterstützen“. Der Prorektor der Universität Zürich, Christian Schwarzenegger, monierte damals, dass in öffentlichen Veranstaltungen seiner Hochschule, die sich um China drehten, Beamte der chinesischen Botschaft zugegen seien. Das unterbinde kritische Wortmeldungen chinesischer Studenten.
Die sogenannte Einheitsfront
Ralph Weber, Professor am Europainstitut der Universität Basel, hat eine Studie zur wachsenden Einflussnahme Chinas in der Schweiz geschrieben. Im Gespräch mit der F.A.Z. sagt er: „Die KP will die Landsleute in der Schweiz auf Linie bringen und zugleich wichtige Akteure aus Gesellschaft, Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Medien zu Fürsprechern Chinas machen.“ Dazu setze die Partei neben Botschaften und Konsulaten zum Beispiel die sogenannte Einheitsfront ein. Diese Abteilung der KP arbeite mit dem von ihr gesteuerten Netzwerk außerhalb Chinas (auch in Deutschland) mit legalen Mitteln, oft im Kleinen, nur bei genauerem Hinsehen und mit Fachwissen erkennbar. In der Schweiz spinne die Einheitsfront ihr Netz unter anderem in Freundschaftsgesellschaften, Wirtschaftsverbänden, Studenten- und Wissenschaftsvereinigungen sowie Technologie- und Berufsverbänden.
Die Bemühungen des chinesischen Parteistaats reichen aber weit über die Einheitsfront hinaus. Es geht ihm laut Weber vor allem um eine Beeinflussung der gesellschaftlichen Eliten und darum, den Diskurs über China zu steuern. Auch wolle man den Technologietransfer und die eigene Regelsetzungsmacht befördern. „Wer hierbei willentlich kooptiert wird“, betont Weber, „ist oft kaum festzustellen.“ Es handele sich keinesfalls nur um Chinesen. Auch ein Allgemeinverdacht gegen die chinesischen Mitbürger sei fehl am Platz: „Das unterschätzt die Subtilität und Perfidität dieser Einflusssysteme und spielt der Partei sogar in die Hände.“
Unter Einfluss der chinesischen Botschaft
Wie weit der Arm Chinas schon reicht, hat Weber selbst erfahren. Auf Einladung der Gesellschaft Schweiz-China (GSC), die sich als Brückenbauer zwischen den Kulturen versteht, hielt Weber im November 2019 einen öffentlichen Vortrag in Luzern. Anhand einer Analyse der ideologischen Sprache des chinesischen Staatschefs Xi Jinping wies er auf Parallelen zu Mao und Stalin hin. Dies veranlasste die chinesische Botschaft, die zwei Diplomaten in die Veranstaltung entsandt hatte, zu einer Intervention bei der GSC. Diese sagte einen zweiten öffentlichen Vortrag ab, den Weber später in Zürich halten sollte.
Die 1945 gegründete Gesellschaft Schweiz-China bezeichnet sich als unabhängig. Aber im Vorstand der GSC sitzen auffallend viele Personen, die unternehmerisch mit der Volksrepublik verbunden sind. Präsident Andries Diener ist Partner beim Immobilieninvestor Asia Green Real Estate, der Ableger in Hongkong, Schanghai, Chengdu und Guiyang hat. Relevant ist dies insofern, als die Gesellschaft einen engen Draht zur Politik hat: Sie führt das Sekretariat der parlamentarischen Gruppe Schweiz-China, in der parteiübergreifend die Positionen der Volksvertreter in Bern gegenüber China erörtert werden. Statt sich mit unabhängigen Fachleuten zu umgeben, hat sich die Gruppe organisatorisch an Interessenvertreter der Wirtschaft gebunden, die sich offenkundig von der chinesischen Botschaft beeinflussen lassen.
Zu groß ist die Angst vor Vergeltungsmaßnahmen
Dies hat an Brisanz gewonnen, seit die EU wegen der Menschenrechtsvergehen in Xinjiang Sanktionen gegen China erlassen hat. Die Schweiz steht jetzt vor der Frage, ob sie den etwas schärferen Tönen in ihrem China-Papier nun Taten folgen lässt und sich den Sanktionen anschließt. Die Antwort darauf ist ein Eiertanz. Politiker verschiedener Couleur haben sich für eine härtere Gangart ausgesprochen. Cédric Wermuth, Ko-Präsident der Sozialdemokratischen Partei, verlangt die Anerkennung des Völkermords an den Uiguren und fordert, dass sich die Schweiz den EU-Sanktionen anschließt. Auch Grüne und einzelne FDP-Politiker plädieren für Sanktionen. Doch in der Mitte- und der SVP-Fraktion will man das vermeiden und allenfalls verhindern, dass EU-Maßnahmen via Schweiz umgangen werden können.
Insgesamt spricht derzeit wenig dafür, dass die Regierung Sanktionen verhängt. Zu groß ist die Angst vor Vergeltungsmaßnahmen, die der heimischen Wirtschaft schaden könnten, zumal die Schweiz als kleines Land wenig entgegenzusetzen hätte. Man hat in Bern noch vor Augen, wie das ähnlich kleine Norwegen jahrelang von China abgestraft wurde, nachdem der Friedensnobelpreis an den Regimekritiker Liu Xiaobo gegangen war. Allerdings hat das skandinavische Land jüngst trotzdem den Mut gefunden, sich den EU-Sanktionen anzuschließen. Die Vereinten Nationen haben die Schweizer Regierung inzwischen in einem Schreiben aufgefordert, ihre Haltung mit Blick auf die Zwangslager in Xinjiang kundzutun.
Unternehmen halten sich mit Kritik zurück
Wie sehr die Regierung darauf bedacht ist, die Chinesen nicht vor den Kopf zu stoßen, zeigt auch ein Interview von Cassis mit der Schweizer „Handelszeitung“. Auf die Frage, ob China eine Diktatur sei, antwortete der Außenminister: „Ich würde China nicht als Diktatur bezeichnen, weder rechtlich noch politisch.“ Der oberste Schweizer Diplomat bedient mit solchen Äußerungen nicht zuletzt das traditionelle Selbstverständnis und den Ruf der Schweiz als neutrales Land – womit seit jeher ein gehöriger Opportunismus einhergeht. An anderer Stelle bestätigt er indirekt, wie gründlich die Eidgenossen das chinesische Prinzip von Zuckerbrot und Peitsche verinnerlicht haben: „China ist ein feiner Beobachter der Schweiz. Die Regierung gewährt unseren Firmen dosiert Vorteile, wenn sie sehen, dass wir ihnen entgegenkommen.“
Die Schweizer Unternehmen, die mit China im Geschäft sind, halten sich ohnehin mit öffentlicher Kritik an dem zunehmend autoritären und aggressiven Kurs der Staatsregierung zurück. Einige gewähren Peking sogar indirekt Zutritt zu ihren höchsten Organen, wie Ralph Weber in seiner Studie herausgearbeitet hat. In den Verwaltungsräten von Nestlé, Credit Suisse, UBS und Swiss Re sitzen chinesische Staatsbürger, die verschiedenen Fraktionen der Politischen Konsultativkonferenz des Chinesischen Volkes (CPPCC) angehören. In die CPPCC komme nur, wer die Parteilinie vertrete, sagt Weber.
Keine Produkte mehr aus Xinjiang
Die KP versuche damit, einflussreiche Personen, darunter eben auch Geschäftsleute, für ihre Zwecke und Ziele einzuspannen. „Die CPPCC ist der Einheitsfront zuzuordnen.“ Eine besondere Nähe zur Partei zeigt Li Shan, der seit 2019 im Verwaltungsrat der Großbank Credit Suisse (CS) sitzt. Der 57 Jahre alte Chinese ist Mitgründer der pekingtreuen Partei Bauhinia in Hongkong. Auf die Frage, wie sich diese Rolle mit den Werten einer Schweizer Bank vertrage, sagte ein CS-Sprecher bloß ausweichend: „Wir äußern uns nicht zu außerbetrieblichen oder privaten Tätigkeiten unserer Verwaltungsratsmitglieder.“
Während Credit Suisse Li Shans Zugehörigkeit zur CPPCC im Internet offen ausweist, fehlen derlei Hinweise auf den Seiten, wo UBS und Swiss Re über ihre chinesischen Verwaltungsräte Fred Hu und Raymond K.F. Ch’ien informieren. Nestlé wiederum benennt das entsprechende Mandat der langjährigen Verwaltungsrätin Eva Cheng. Auf die Frage, ob man nicht eine Einflussnahme der KP auf Cheng befürchte, gab sich ein Sprecher überzeugt, „dass alle Mitglieder des Verwaltungsrats die Interessen von Nestlé“ verträten. Zugleich bestätigte er, dass sein Konzern keine Produkte mehr aus Xinjiang beziehe.
Die Gefahr abgestraft zu werden
Weber erkennt die Logik hinter der Rekrutierung parteinaher Verwaltungsräte durchaus an: „Die Unternehmen brauchen ein Netzwerk von Beziehungen, die in China zwangsläufig in die Kreise der alles beherrschenden KP reichen müssen, um wertvoll fürs Geschäft zu sein.“
Diese Form von Verflechtung habe aber ihren Preis. Je enger die Verbindung werde und je mehr man in sie investiere, umso schwieriger werde es, sich wieder zu lösen, und umso größer sei die Gefahr, für unerwünschtes Verhalten abgestraft zu werden. „Wie groß das Machtgefälle zwischen der Staatsregierung und den Unternehmen bereits ist, zeigen die jüngsten Boykottaufrufe gegen H&M, Adidas und Nike.“ Auch in Deutschland sei China über die Einheitsfront und andere Kanäle sehr aktiv, sagt Weber unter Verweis auf Studien der Politologin Didi Kirsten Tatlow.
Quelle: F.A.Z.
Foto vom Originalbeitrag: Picture-Alliance