Chinas Präsident in Deutschland: Der dreifache Xi Jinping

28. März 2014

Spiegel, 28.3.14, Bernhard Zand –
Chinas Präsident Xi Jinping ist ein grosser Wirtschaftslenker und Geostratege: Kanzlerin Merkel und Bundespräsident Gauck empfangen in Berlin aber auch einen Machthaber, der auf Forderungen nach Menschenrechten gnadenlos mit einer Verhaftungswelle antwortet.

In Deutschland haben sich zwei Bilder von China festgesetzt, und sie dominieren jede Debatte über das Land. Das eine ist das eines effektiv durchregierten Wunderlands, von dessen Wachstum die Weltwirtschaft abhängt. Das andere ist das einer Despotie, deren Bürger von ihrer Regierung unterdrückt, vergiftet und bestohlen werden und am liebsten alle auswandern würden. Keines der beiden Bilder ist ganz falsch, dennoch sind es Karikaturen.

Am Freitag kommt Chinas Präsident Xi Jinping zu seinem ersten Staatsbesuch nach Deutschland. Er wird seinen Amtskollegen Joachim Gauck und Kanzlerin Angela Merkel treffen, eine Rede über „Chinas Rolle in der Welt“ halten, ein neues Konsulat eröffnen und den Duisburger Hafen besuchen. Dort trifft dreimal die Woche ein Frachtzug aus der 8000 Kilometer entfernten Millionenstadt Chongqing ein – und fährt wieder zurück.

Von welchem der beiden China-Bilder sollten seine Gastgeber sich leiten lassen, was sollen sie welchem der drei Xi Jinpings sagen: dem Wirtschaftslenker, dem Geopolitiker und dem Machthaber?

Erfolg ist dem Wirtschaftsreformer Xi Jinping zu wünschen. Der Aufschwung seines Landes hat eine halbe Milliarde Menschen aus der Armut geholt und Millionen reich gemacht, doch die Grenzen dieses Aufschwungs sind weit überschritten. Er hat Familien zerrissen, die Umwelt ruiniert und einen Berg von Schulden angehäuft, über dessen Höhe nur spekuliert werden kann.

Im November setzte Xi ein Paket von Reformen durch, die aus der Werkbank China ein modernes Unternehmen machen sollen, eine Fabrik mit gut bezahlten Angestellten und einwandfreien Russfiltern. Sein Plan läuft darauf hinaus, den korrupten, ressourcengierigen Staat aus der Wirtschaft zurückzudrängen und den Konsum zu fördern. Was immer sie im Einzelnen monieren – im Grundzug stimmen auch die meisten Wirtschaftswissenschaftler des Westens diesem Plan zu. Einen besseren hat jedenfalls keiner.

China braucht Amerika und Europa als Partner

Skeptisches Wohlwollen hat auch der Aussenpolitiker Xi verdient. Peking strebt, entgegen anderslautender Gerüchte, nicht nach der Weltherrschaft, zumindest nicht in der analogen Welt. Dafür wäre seine Armee trotz ihrer Aufrüstung auch nicht stark genug. Tatsächlich ist der seit letztem Jahr grösste Ölimporteur und die grösste Handelsnation der Welt auf Partner angewiesen: auf Amerika, das auch Chinas Energiekorridore sichert, und auf Europa, das ihm den Grossteil seiner Waren abkauft.

Wie die Krise in der Ukraine zeigt, ist es mitunter sogar möglich, dass Peking sich aus seiner Allianz mit Moskau löst: Bei der Krim Abstimmung im Sicherheitsrat enthielt sich China der Stimme. Peking tritt seinen asiatischen Nachbarn gegenüber ruppig, ja anmassend auf. Doch Aggressionen, wie sie Russland in Georgien und auf der Krim beging, hat China jenseits seiner Grenzen seit Jahrzehnten nicht begangen.

Aggressiv ist Chinas Regime vor allem im Inneren. Darauf sollten Gauck und Merkel den Machthaber Xi Jinping ansprechen. Denn viele, die das noch wagen, gibt es nicht mehr.

Umso mehr gibt es, die dieser Fürsprache bedürfen. Seit Xi Jinping sein Amt antrat, rollt eine Welle von Verhaftungen über das Land wie seit dem Tiananmen-Aufstand vor 25 Jahren nicht mehr. Dutzende von Bürgerrechtlern und liberalen Bloggern sind seit März 2013 festgenommen worden, zahlreiche Akademiker und Journalisten wurden kaltgestellt.

Kinder mussten sechs Stunden still auf dem Sofa sitzen

Für eine von ihnen kommt jede Fürsprache zu spät: Vor zwei Wochen starb die Menschenrechtlerin Cao Shunli, 53. Im September wurde die schwer Leber- und Tuberkulosekranke vor einem Flug nach Europa abgefangen, im Oktober unter dem Vorwurf verhaftet, „Streit zu suchen und öffentliches Ärgernis zu provozieren“. Bis wenige Wochen vor ihrem Tod verweigerten ihr die Behörden die Einlieferung in ein Krankenhaus. Am 14. März durfte ihr Bruder Caos Leichnam sehen: „Sie war so abgemagert, ich konnte den Anblick nicht ertragen.“

Für einen anderen ist es – vielleicht – noch nicht zu spät. Der Wirtschaftswissenschaftler Ilham Tohti, der sich für die ethnische Minderheit der Uiguren einsetzt, sitzt seit Januar im Gefängnis. Als die Behörden nach der Verhaftung seine Wohnung räumten, mussten seine Söhne, 4 und 7 Jahre alt, sechs Stunden lang still auf einem Sofa sitzen. „Seid ihr keine Menschen?“, habe sie die Polizisten gefragt, sagt seine Frau Nu’er. Tohti ist des Separatismus angeklagt; ihm droht die Todesstrafe.

Chinas Aussenministerium ahnte, dass Xi Jinping auf seiner Europa-Reise durch die Niederlande, Frankreich, Deutschland und Belgien mit Demonstrationen zu rechnen hat. Es legte deshalb Wert darauf, dass „die Sicherheit und Würde“ des Präsidenten gewahrt werde – mit anderen Worten, dass die Demonstranten so weit wie möglich von Xi fernzuhalten seien.

Weder in den Niederlanden noch in Frankreich hat Xi Jinping öffentlich über die Menschenrechtslage in China gesprochen. Seine deutschen Gastgeber sollten ihn an die „Sicherheit und Würde“ von Ilham Tohti und die anderen Bürgerrechtler erinnern, die in den Kerkern sitzen.

Ob sie das öffentlich tun oder hinter verschlossenen Türen, sollten sie für jeden Einzelnen entscheiden. Über den Künstler Ai Weiwei, der seit drei Jahren auf seinen Pass wartet und gern nach Berlin käme, um kommende Woche seine Ausstellung zu eröffnen, sollten sie laut reden. „Menschenrechte unter dem Tisch zu verhandeln“, sagte Ai dem SPIEGEL, „ist eine Beleidigung derer, um die es geht.“