Rhein-Zeitung, 4.7.15 , Franz Alt –
Geistiger Führer der Buddhisten fordert Revolution der Empathie und des Mitgefühls – Friedensnobelpreisträger wird 80
„Ich kenne keine Feinde. Es gibt nur Menschen, die ich noch nicht kennengelernt habe“, sagte mir der Dalai Lama schon vor mehr als 20 Jahren. Und: „Von seinen Feinden kann man am meisten lernen. In einem gewissen Sinn sind sie unsere besten Lehrer.“ So weise und zugleich realistisch spricht der wohl prominenteste und zugleich auch einer der ältesten Flüchtlinge der Welt nach 56 Jahren im indischen Exil. Obwohl er seit 1959 ausserhalb seiner von China besetzten Heimat leben muss, hegt er keinen Hass gegenüber Chinesen und gegenüber den chinesischen Führern. Im Gegenteil. „Selbstverständlich bete ich auch für die kommunistischen Führer in Peking“, sagt er, der sich selbst manchmal einen „kommunistischen Buddhisten“ oder einen „buddhistischen Kommunisten“ nennt, und fügt lachend hinzu: „In Europa würde ich die Grünen wählen, weil die Umweltproblematik unsere Überlebensfrage ist.“
In 33 Jahren sind wir uns 30-mal begegnet und haben 15 Fernsehinterviews miteinander geführt. Selten hatte ich einen so empathischen und humorvollen Gesprächspartner. Keiner hat mehr gelacht als er. Nicht zufällig gilt er bei Umfragen als sympathischster Mensch der Welt. Dem charismatischen Religionsführer wurde in den vergangenen Jahren eine religionsübergreifende Ethik immer wichtiger. Und heute sagt er sogar: „Ethik ist wichtiger als Religion. Wir kommen nicht als Mitglied einer bestimmten Religion auf die Welt. Aber Ethik ist uns angeboren.“ Immer häufiger spricht er bei seinen weltweiten Vorträgen über eine „säkulare Ethik jenseits aller Religionen“.
Am deutlichsten wurde er im Januar dieses Jahres nach den Anschlägen auf das Karikaturen-Magazin „Charlie Hebdo“ in Paris: „Ich denke an manchen Tagen, dass es besser wäre, wenn wir gar keine Religionen mehr hätten. Alle Religionen und alle heiligen Schriften bergen ein Gewaltpotenzial in sich. Deshalb brauchen wir eine säkulare Ethik jenseits aller Religionen.“
Damit möchte der Dalai Lama auch die mehr als eine Milliarde Atheisten und die immer grössere Zahl von Agnostikern auf unserer Welt ansprechen: „Für eine bessere Welt brauchen wir alle. Der Grund ist ganz einfach: Wir alle sind Brüder und Schwestern.“
Eine der zentralen Überzeugungen des Dalai Lama: In unserem Streben nach Glück und unserem Wunsch, Leid zu vermeiden, sind sich alle Menschen gleich. Daraus resultieren die grössten Errungenschaften der Menschheit. Deshalb sollten wir anfangen, auf der Grundlage einer Identität zu denken und zu handeln, die in den Worten „Wir Menschen“ wurzelt.
Dritter Weltkrieg gegen die Natur
Unser gemeinsames Buch, das jetzt zu seinem 80. Geburtstag in acht Weltsprachen erschienen ist, hat den programmatischen Titel: „Ethik ist wichtiger als Religion“. Kriege im Nahen Osten und in der Ukraine, Bürgerkriege in Afrika und in Afghanistan, der Klimawandel und die Umweltkrise, die globale Finanzkrise und der Welthunger: Eigentlich führen wir den Dritten Weltkrieg gegen die Natur und damit gegen uns selbst, denn wir sind ein Teil der Natur. Das sagt auch Papst Franziskus in seiner neuen Enzyklika. Vielleicht ist es kein Zufall, dass beide Dokumente denselben Geist atmen und zur selben Zeit erscheinen. Der Dalai Lama meint, dass wir ohne eine säkulare Ethik all diese Probleme nicht lösen werden. Was der Dalai Lama in unserem Buch vorschlägt, ist eine Revolution der Empathie und des Mitgefühls – eine Revolution aller bisherigen Revolutionen – eine Revolution der Herzen.
Ethikunterricht in allen Schulen hält der Buddhistenführer heute für wichtiger als Religionsunterricht. Warum? Weil zum Überleben der Menschheit das Bewusstsein des Gemeinsamen, der Zusammengehörigkeit und unsere Geschwisterlichkeit wichtiger sind als das ewige Hervorheben des Trennenden. Seit 2011 ist der Dalai Lama nur noch geistliches Oberhaupt der Tibeter – als Politiker ist er seit vier Jahren pensioniert. Damit enden 500 Jahre Dalai-Lama-Tradition – und das freiwillig. Wann hat es in der Menschheitsgeschichte je einen solchen freiwilligen Machtverzicht gegeben?
Sechs Prinzipien gelten für ihn ganz fundamental: Erstens – das wichtigste ist die Gewaltlosigkeit. Sie ist unter seiner Führung zum Symbol des Freiheitskampfes Tibets geworden. Gelegentlich zitiert er auch die Feindesliebe Jesu aus der Bergpredigt. Ebenso bedeutsam ist für ihn Toleranz. „Kein Weltfrieden ohne Religionsfrieden“, sagt er wie Hans Küng mit seinem Weltethos. Das Prinzip Nummer drei: jede Religion in ihrer Einzigartigkeit akzeptieren. Viertens: Auf die Frage in meiner jüngsten Fernsehsendung, was Religion heute ist, sagt der Papst des Ostens: „Religiös ist, wer mitarbeitet an der Bewahrung der Schöpfung.“ Dabei weist er auf die immer dringlicher werdende Wasserfrage im gesamten Himalaja hin: „Hier geht es um das Überleben von zwei Milliarden Menschen“ und um Millionen künftige Klimaflüchtlinge.
Mit seinem fünften Prinzip hat er gelegentlich Probleme, räumt er ein. Er müsse mehr Geduld lernen. Aber darin habe er ja Übungsmöglichkeiten im Umgang mit chinesischen Politikern. Und lacht schon wieder. Auch über sein sechstes Prinzip – Tod und Wiedergeburt – kann er Witze reissen. Er habe eine Ahnung, was nach dem Tod kommt: „Wenn ich in die Hölle komme, werde ich auf jeden Fall Urlaub beantragen, denn ich will unbedingt wissen, wie es hier auf der Erde weitergeht.“
Der Dalai Lama glaubt, naiv beinah wie ein Kind, an politische Wunder: „Wir werden eines Tages gut mit China kooperieren.“ Wenn man ihn dann ungläubig anschaut, verweist er auf das Wunder der deutsch-französischen Freundschaft oder der deutsch-polnischen Aussöhnung. „Man sieht, es geht auch anders.“
Seine grosse Hoffnung sind zwei Bevölkerungsgruppen in China: die Jugend und die inzwischen 400 Millionen Gläubigen, die sich heute in China zum Buddhismus bekennen und ihn auch praktizieren. In Chinas Kommunismus herrsche ein riesiges geistiges Vakuum. „Was sind schon 65 Jahre Kommunismus gegenüber 1300 Jahren tibetischen Buddhismus?“ Auf dem Dach der Welt spielt sich ein für uns fast unvorstellbarer geistiger Kampf zwischen dem religiösesten Volk der Welt und der zurzeit materialistischsten Ideologie auf unserem Planeten ab. Der Ausgang dieses Ringens wird für die Zukunft der ganzen Welt entscheidend sein. Manche von Ihnen mögen jetzt denken: Das ist doch David gegen Goliath. Sicher, sagt der Tibeter dann – der Ausgang sei ja bekannt.
Religionsführer wirft China kulturellen Völkermord vor
Gewaltlosigkeit heisst für den Dalai Lama jedoch nicht Leisetreterei. Er besteht wie immer auf der Klarheit des Geistes. So wirft er den chinesischen Besatzern kulturellen Völkermord und eine unvergleichliche Kulturbarbarei auf dem Dach der Welt vor. Alexander Solschenizyn dazu: „Der Holocaust, der über Tibet kam, entlarvte das kommunistische China als grausamen und unmenschlichen Henker – brutaler und unmenschlicher als jedes andere kommunistische Regime der Welt.“ In den alten Grenzen Tibets leben etwa sechs Millionen Tibeter. Peking hat allerdings Pläne, dort bis zu 20 Millionen Chinesen anzusiedeln. Immer wieder fragt er, wie verzweifelt eigentlich seine Landsleute sein müssen, wenn sich in den vergangenen vier Jahren 139 Tibeter selbst angezündet haben – aus Protest gegen Chinas Besatzungspolitik.
Auf die Frage, warum er mit fast 80 noch so fit ist, antwortet er: „Das ist ganz einfach – 50 Jahre kein Abendessen.“ Er geht jeden Abend um halb sieben ins Bett. Schläft bis um 3.30 Uhr. Meditiert bis morgens um sieben, frühstückt und beginnt dann mit der Arbeit. Der Dalai Lama verkörpert mehrere ethische und spirituelle Werte: Widerstand gegen Gewaltherrschaft, Kapitalismuskritik ähnlich wie der Papst, seine Tierliebe, sein Engagement für die Umwelt und gegen Atomwaffen. Diese Liste liest sich wie das Programm eines westlichen Linken. Aber er ist ideologisch nicht zu vereinnahmen.
Er ist Verfolgter und Friedensnobelpreisträger, und er gilt als Erleuchteter. Im Kampf um die Seelen ist er unschlagbar. Übrigens: Ein deutscher Intellektueller hat ihn mal gefragt: „Heiligkeit, wie komme ich ganz schnell zur Erleuchtung?“ Seine Antwort: „Am besten gehen Sie zum Arzt und lassen sich eine Spritze geben.“
Das muss man erlebt haben. Im Sommer 2014 in Hamburg. Im Kongresszentrum waren vier Tage hintereinander jeweils 7000 Menschen zu seinen Vorträgen gekommen. Zweimal am Tag. Der Dalai Lama sprach vier Tage lang jeden Tag bis zu sechs Stunden ohne jede Unterlage. Viele lachten, manche weinten, und alle hörten konzentriert zu. Wie macht der Mann das nur?
Am 6. Juli wird der Friedensnobelpreisträger 80 Jahre alt. Er wird kurz danach nach Frankfurt und Wiesbaden kommen – in „meine zweite Heimat“ wie er sagt, um zweimal vor 7000 Menschen zu sprechen.
Franz Alt, Christ und Querdenker: Franz Alt moderierte 20 Jahre lang das Politmagazin Report (ARD). Die Veröffentlichung des Buchs „Frieden ist möglich“, in dem Alt Zweifel an der Politik der Nachrüstung anmeldete, führte zu jahrelangen juristischen Auseinandersetzungen zwischen Alt und dem SWR. Von 1992 bis 2003 leitete Franz Alt die Zukunftsredaktion im SWR und moderierte in 3sat „Querdenker“ und „Grenzenlos“. Seine Bücher wurden in zwölf Sprachen übersetzt. Er befasst sich mit Alternativen der Energieerzeugung, Klimawandel, Ökolandbau und Menschenrechten. Als bekennender Christ begründet Franz Alt sein Engagement für die Ökologie aus seinem Glauben heraus, so in „Der ökologische Jesus“. „Ethik ist wichtiger als Religion“ hat Alt mit dem Dalai Lama verfasst. Das E-Book gibt’s kostenlos in acht Sprachen.
Kurier (A), 6.7.15
Zum 80er wünscht sich der Dalai Lama weniger Religion.
Anlässlich seines 80. Geburtstags erklärte die tibetische Leitfigur dem Journalisten Franz Alt, warum die Welt mehr Ethik statt Religion braucht.
Genau genommen ist der Dalai Lama eine hochstehende Figur einer buddhistischen Denkrichtung (Schule), nicht einmal ihr Führer. In der westlichen Welt ist er trotzdem seit Jahrzehnten der Popstar der Spiritualität, seine Vorträge füllen Hallen.
Zu seinem 80. Geburtstag lässt er die Welt wieder einmal wissen, wie sie zu retten sei. Was man beim Papst eine Enzyklika nennen würde, heisst beim Dalai Lama „Appell“: Dem deutschen Journalisten und langjährigen Vertrauten Franz Alt erklärte er für das Buch „Der Appell des Dalai Lama an die Welt“, wie er den Satz „Ethik ist wichtiger als Religion“ gemeint hat.
KURIER: Ist dieser Satz wirklich so provokant? Der Buddhismus sieht sich ja mehr als ethische Philosophie denn als Religion.
Franz Alt: Natürlich fällt es dem Dalai Lama leichter als dem Papst zu sagen, Ethik sei wichtiger als Religion. Der Punkt ist, dass Religion für den Dalai Lama zum Teil künstlich gemacht ist, Ethik verbindet uns alle. Kein Mensch wird religiös geboren, aber alle als ethische Wesen. Weil jeder eine Mutter hat, die ihn liebt. Daher lieben alle Menschen. Wir brauchen eine säkulare Ethik jenseits der Religionen. In Schulen sei Ethik-Unterricht wichtiger als Religionsunterricht, weil zum Überleben der Menschheit das Hervorheben des Gemeinsamen wichtiger ist als des Trennenden.
Im Buch heisst es, jeder Mensch würde ethische Werte wie Achtsamkeit und Mitgefühl in sich tragen. In Zeiten grausamen Terrors fragt man sich da, ob der Dalai Lama nicht fernsieht?
Was er da sagt, ist ein Gegenprogramm zum IS (Terrorgruppe Islamischer Staat, Anm.): Wer seine ethische Basis für Kompromisse ernst nimmt, tötet nicht Andersgläubige. Er meint aber auch die mangelnde Kompromissfähigkeit in der Politik. Eine Lösung für Griechenland etwa kann nicht an Geld scheitern. Wenn diese Ethik in der Politik Schule machen würde, wären wir ein Stück weiter.
„Durch intensives Meditieren werden wir feststellen, dass Feinde unsere besten Freunde werden können. In einem gewissen Sinne sind sie unsere besten Lehrer.“ Würden Sie dieses Zitat der Familie eines IS-Opfers ins Gesicht sagen?
Der Dalai Lama ist einer der ältesten Flüchtlinge der Welt und lebt seit 56 Jahren im Exil. Was die Chinesen in Tibet angestellt haben, ist ebenso schwerwiegend. Auch dazu sagt er: Keine Gegengewalt. Dem sind nicht alle Tibeter gefolgt, es splitten sich ja Gruppen von ihm ab. Und er betont: Wenn die Mehrheit der Tibeter den Weg der Gewalt richtig fände, würde er auch als Dalai Lama zurücktreten. Als politischer Führer tat er das 2011, was unter politischen Führern auch nicht alltäglich ist.
Sie preisen das Buch mit den Worten an: „Hier ist seine neue Botschaft, welche die Welt verändern kann.“ Dann liest man Zitate wie „Der Unterschied zwischen Ethik und Religion ähnelt dem Unterschied zwischen Wasser und Tee.“ Solche Erkenntnisse ändern die Welt?
Er formuliert Gegenkonzepte. Wenn wir die Welt ändern wollen, müssen wir bei uns anfangen. Er sagt auch: „Durch Nachdenken können wir lernen, dass Geduld das wichtigste Gegenmittel gegen die Wut ist. Zorn über andere hilft wenig, stattdessen sollten wir zusehen, dass wir uns selbst ändern.“
Ein Zitat noch: „Das Leben ist kurz. Wenn wir uns den negativen Emotionen überlassen, vergeuden wir es.“ Fanden Sie solche Sätze nie banal?
Als ich ihn 1986 nach der Katastrophe von Tschernobyl traf, kam mir auch einiges banal vor, das er sagte. Heute nicht mehr. Prediger wiederholen sich, so wie alle Experten bei ihren Themen. Beim Dalai Lama finde ich im Gegenteil, dass seine Theorien immer neu klingen. Weil er Dinge, die ihm wichtig sind, immer in einen aktuellen Kontext stellt. Die Werte sind alt, aber er spricht nicht von gestern, sondern von heute.
Eine Bezeichnung für ihn ist ja auch „Kundün“ (Gegenwart). Sie kennen den Dalai Lama seit 30 Jahren, nennen ihn „Freund“. Hat er sich verändert?
Anfang der 1980er-Jahre war er noch nicht so konziliant, aber irgendwann sagte er sich: Die Chinesen wollen gar keine Unabhängigkeit für Tibet, wir die vollständige, also schlug er den „Dritten Weg“ ein: einen Kompromiss suchen. Über die Jahre sprach er immer von Toleranz, die Gewaltfreiheit der Bergpredigt ist ihm wichtig, die Feindesliebe von Jesus auch. Aber heuer im Jänner erreichte das einen neuen Höhepunkt, als er nach den Anschlägen in Paris sagte: „Ich denke an manchen Tagen, dass es besser wäre, wenn wir gar keine Religionen mehr hätten.“
Solche Sager beeindrucken natürlich. Wie erklären Sie die Faszination für den Dalai Lama? Ist er ein Marketingprodukt?
Das hängt mit unserer Vorstellung von Marketing zusammen. Wir Journalisten sind bei einer Führungsfigur, die ohne Inszenierung auskommt, natürlich kritisch. Die sind ja oft verschrobene Leute mit Marketingsprache. Er braucht das nicht, er ist authentisch. Dazu sein berühmtes Lachen, mit dem jegliche Schwere sofort weg ist. Der Dalai Lama ist ein Mensch, der den Menschen vertraut, deswegen vertrauen sie ihm. Er ist eine Antipersönlichkeit.
Wie nimmt er selbst seine Rolle in der westlichen Welt wahr? Stört ihn, dass viele Anhänger Spiritualität eher als Hobby denn als täglichen Auftrag leben?
Er nimmt das locker. Nach einem Vortrags schrie einmal jemand: „Heiligkeit, können Sie uns noch einen Rat fürs Leben geben?“ Er hielt inne und sagte: „Oh nein, da fällt mir jetzt nichts ein.“
Hier kann der Appell kostenlos heruntergeladen werden: http://www.beneventobooks.com/