Unter dem seltsamen Titel «Dalai Lama missbraucht Kinderrechte» haben die chinesische Nachrichtenagentur Xinhua und die Zeitung «China Daily» über die neueste Kritik des Pekinger Aussenministeriums am geistlichen Oberhaupt der Tibeter berichtet. Demnach wurde an einer Pressekonferenz des Aussenministeriums unter Bezugnahme auf in der NZZ publizierte Artikel dem Dalai Lama vorgeworfen, er habe in den 1960er Jahren Hunderte von tibetischen Familien auseinandergerissen, Kinder gezwungen, ihre Eltern zu verlassen, und eine Schweizer Kampagne zur Adoption sogenannter tibetischer Waisen orchestriert.
Fragwürdige Initiative
Die Vorwürfe basieren auf zwei in der NZZ am 11. und 12. September erschienenen Artikeln über die «Aeschimann-Pflegekinder» aus Tibet. Der Industrielle Aeschimann brachte zwischen 1961 und 1964 in privater Absprache mit dem Dalai Lama 200 tibetische Kinder zur Adoption in die Schweiz. Viele von ihnen waren allerdings keine Vollwaisen. Tatsächlich war die damalige Aktion unter verschiedenen sozialen und rechtlichen Aspekten fragwürdig und wurde auch, wie in den NZZ-Artikeln dargelegt, von der offiziellen Schweiz nur mit grössten Vorbehalten toleriert. Der Industrielle Aeschimann konnte das Einverständnis der Eidgenossenschaft für sein vorwiegend aus persönlichen Interessen genährtes Projekt dank seiner guten Vernetzung mit den Bundesbehörden und einer geschickten Medienkampagne erreichen. Mit der viel grösseren offiziellen Aktion der Schweiz zur Aufnahme tibetischer Flüchtlinge hatte die private Aeschimann-Initiative nichts zu tun.
Nach der Besetzung Tibets und der Flucht des Dalai Lama mit seiner Anhängerschaft nach Indien herrschte etliche Verwirrung und grosses Elend in den indischen Flüchtlingslagern. Dass der Dalai Lama in dieser Situation auf den Zug, den Aeschimann bereitstellte, aufsprang, ist verständlich. Jedenfalls kam der Antrieb für die fragwürdige Aktion vor allem vonseiten Aeschimanns. Die nachfolgenden offiziellen Bemühungen der Schweiz zur Linderung der Flüchtlingsnot richteten sich vorwiegend an vollständige Familien. Die Aeschimann-Initiative ist also nur eine kleine Episode in der tibetischen Flüchtlingsgeschichte. Überdies bewerten die direkt betroffenen Tibeter ihr Schicksal nicht durchwegs als negativ. Im Gegenteil sind viele dankbar dafür, auf diesem Weg eine neue Heimat gefunden zu haben, die ihnen privates und berufliches Wohlergehen ermöglichte.
«Waisen fabriziert»
Das chinesische Aussenministerium spricht davon, der Dalai Lama habe Waisen fabriziert, um junge Talente für seine Unabhängigkeitsbewegung zu gewinnen. Dies ist die alte Propaganda-Leier, mit der verdrängt werden soll, dass das geistliche tibetische Oberhaupt seit den achtziger Jahren glaubhaft erklärt, dass es nicht nach Unabhängigkeit und Separation strebt, sondern bloss nach einer angemessenen Form von Autonomie für Tibet.
Die Aeschimann-Aktion diente jedenfalls nicht der Heranbildung von separatistischen Aktivisten. Allenfalls ging es dem Dalai Lama um die Ausbildung einer Generation, die er als durch die Wirren gefährdet erachtete. Vor allem aber war diese private Initiative der etwas verfehlte Versuch, Gutes zu tun, verbunden mit dem persönlichen Wunsch der Aeschimanns nach Adoptivkindern.