Ein Gastkommentar von Claudia Wirz in der NZZ am 21.11.2020. (Lesen Sie hier den Originalbeitrag)
Ein halbes Leben hat man investiert, um Chinesisch zu lernen. Die Beschäftigung mit Chinas alter Kultur war eine Freude. Doch nun greift die KP Chinas nach der absoluten Deutungshoheit über alles Chinesische. Wie wehrt man sich gegen diesen Übergriff?
Literweise Herzblut ist geflossen, um einigermassen passabel Chinesisch zu lernen. Die Faszination der chinesischen Kultur, ihr reiches Schrifttum, die Schönheit ihrer Schriftkunst, ja die Entdeckung eines gänzlich neuen geistigen und ästhetischen Universums – mit alldem sind die ungezählten Stunden zwischen dicken Folianten und klobigen Konkordanzen reichlich entschädigt worden, damals in den Achtzigern. Es war eine Zeit der wohltuend unpolitischen Freude am Objekt der akademischen Begierde. Am Ostasiatischen Institut der Universität Zürich war die Kommunistische Partei Chinas weit weg, politische Korrektheit und Gender-Mainstreaming gab es noch nicht. Man konnte sich auf das Wesentliche konzentrieren und musste nicht «woke» sein.
Wachstum und Wohlstand
Das waren ideale Voraussetzungen, um sich als junger Mensch auf dieses chinesische Abenteuer einzulassen. Aus Karrieregründen kam damals keiner zur Sinologie, schon gar nicht zur «klassischen», die mehr an Denkreisen ins alte China interessiert war als an den Möglichkeiten von Investitionen in einen verheissungsvollen neuen Markt. Die Volksrepublik hatte damals zwar schon grosse Pläne für Wachstum und Wohlstand, und es ging stetig bergauf, doch die globale Marktmacht, mit der sie heute die internationale Gemeinschaft elektrisiert, besass sie noch nicht.
Das Internet brachte nicht die Freiheit, sondern Zensur und Überwachung von monströsem Ausmass.
Die politische Deutungshoheit über (fast) alles Chinesische hatte sich die Volksrepublik hingegen längst gesichert, und zwar mit der Ein-China-Politik, die sich zuallererst im Verhältnis zu Taiwan spiegelt. Taiwan kann so demokratisch und rechtsstaatlich sein, wie es will – wer mit der Volksrepublik diplomatische Beziehungen pflegt, darf die Insel nicht als souveränen Staat anerkennen.
Das hat weitreichende Folgen über das Politische hinaus. Mit dieser Politik bestimmt die Partei über weite Strecken, was chinesisch ist und was folglich eine Einmischung in innere Angelegenheiten darstellt – zum Beispiel das Zeigen der Fahne der chinesischen Republik, die für Taiwan steht, oder öffentliche Bekundungen der Sympathie für die Hongkonger Demokratiebewegung. Damit verwischt sich die Grenze zwischen Staat und Partei. Die Partei ist der Staat und umgekehrt. Die Partei hat immer recht und ist alternativlos.
Myriaden von «Freunden»
Dieses Deutungsmonopol umfasst die Sprache genauso wie die Geschichtsschreibung, den staatlich kuratierten Tourismus und das, was offiziell unter dem Begriff «chinesische Kultur» subsumiert wird. Die Partei definiert auch, wer ein «Freund des chinesischen Volkes» ist. Nach offizieller chinesischer Lesart gibt es weltweit Myriaden von ihnen. «Wir haben Freunde auf der ganzen Welt» («women de pengyou bian tianxia») war während der Mao-Zeit ein bekanntes Propagandalied. Heute ist es der Staats- und Parteichef Xi Jinping, der die Wendung in Fernsehansprachen feierlich rezitiert.
Solche Reminiszenzen an überwunden geglaubte Schrecken lassen nichts Gutes erahnen. Und sie sind zahlreich – auch jenseits der verstörenden Berichte über internierte Uiguren, verschwundene Bürgerrechtsanwälte und verschleppte Demokratieaktivisten. Wer, wie die Schreibende im Jahr 2018, durch eine Verkettung von Umständen in den Genuss einer Flussreise auf einem Schiff kommt, das ausschliesslich für einheimische Passagiere vorgesehen ist, erhält eindrücklichen Anschauungsunterricht zur Volkspädagogik im China Xi Jinpings.
Die Lautsprecher in jeder Kabine versorgen die Gäste von früh bis spät mit Durchsagen. Nein, sie liessen sich nicht abstellen, erklärt ein Steward. An der Abendshow geht es im gleichen Ton weiter. Angestellte im Kostüm der Volksbefreiungsarmee schmettern Lieder über die rote Sonne und schwenken rote Fahnen. Wäre da nicht das augenfällige Desinteresse des ohnehin überschaubaren Publikums, man könnte sich auf einer Zeitreise wähnen. Dass die Präsentation des Staudamms bei Yichang – am Schlusspunkt dieser Reise – zur monumentalen Inszenierung gerät, kann niemanden überraschen. Artig haben wir schon im örtlichen Museum die Bilder bestaunt, die einen ernsthaften Xi Jinping bei der Inspektion zeigen.
Vor Ort prangt den Abertausenden von Besuchern in riesigen Schriftzeichen die Aufforderung entgegen, sich um Genosse Xi zu scharen und für die Partei und einen modernen «Sozialismus chinesischer Prägung» zu kämpfen. Die schriftliche Version ist nötig, damit diese Kernbotschaft in der ohrenbetäubenden Kakofonie der Megafone nicht untergeht. Überhaupt begegnen uns die «Kernwerte des Sozialismus» auf Schritt und Tritt, in archäologischen Stätten genauso wie bei modernen Infrastrukturbauten. Wer behauptet, China sei «gar nicht mehr so kommunistisch» – wie man es gelegentlich von naiven Geschäftsreisenden hört –, wird an jeder Ecke Lügen gestraft, aber eben oft nur auf Chinesisch.
Es gibt auch ein anderes China
Nichts wäre uns damals am Ostasiatischen Institut fremder gewesen als eine solch totalitäre Sicht auf China. Hatten wir nicht gelernt, dass es keinen Anspruch auf absolute Wahrheit gibt? Unsere Instanzen für chinesische Fragen waren deshalb ganz andere als jene der Politik. Wir fanden sie im gesammelten Wissen von gelehrten Männern wie Yang Bojun, Séraphin Couvreur, Wang Li oder James Legge. Dank ihnen erschloss sich uns der Weg zu den Primärquellen, etwa zu den «Überlieferungen des Herrn Zuo zur Frühling- und Herbstperiode» («Chunqiu Zuozhuan»), einem Juwel chinesischer Prosa aus dem vierten vorchristlichen Jahrhundert, welches ein ganz anderes China als das heutige auferstehen lässt. Ja, es gibt auch auf dem Festland ein China, das absolut nicht sozialistisch ist!
Als wir dann Mitte der achtziger Jahre nach China gingen, liessen die staubgrauen Vorstädte und die rauchenden Fabrikschlote in unmittelbarer Nachbarschaft unserer Schule nur wenig Raum für romantische China-Schwärmerei. Das Reisen war unbequem, zeitaufwendig, oft eine Nervenprobe, aber auch äusserst aufschlussreich. Auf einer 72 Stunden dauernden Zugsreise im Liegewagen der harten Klasse lernte man mehr Chinesisch als in sieben Wochen Unterricht im Schulzimmer. Im Zug und auf der Strasse war man ein Exot. Das konnte manchmal etwas anstrengend sein. Die Kost war einfach, und Stromausfälle waren normal.
Der verwundete Drache – China seit Corona
Aber es war eine gute Zeit. Die Kulturrevolution war seit fast zehn Jahren Geschichte, und man hatte das Gefühl, dass die Reise in die richtige Richtung gehe. In den Städten gab es «freie Märkte», und recht frei war man auch im Reisen, Denken, Sprechen und in der Wahl der Lektüre. In unserer Stadt entstand mit grossem Aufwand eine «Strasse der Kultur» mit Dutzenden von Restaurants. «Rambo» kam in die Kinos, ausländische Dirigenten gastierten im Konzerthaus. Die ungezählten Begegnungen mit chinesischen Freunden, Kommilitonen, Lehrern, Mitreisenden oder Zufallsbekanntschaften erweiterten den geistigen Horizont. Als 1988 die meisten von uns das Land nach ein paar Jahren wieder verliessen, hatten wir ein gutes Gefühl.
Doch ein knappes Jahr später fegten die verstörenden Bilder vom Tiananmenplatz all den Zauber weg, wie auch die naive Hoffnung, dass in der Volksrepublik alles immer besser werden würde. Die persönliche Beziehung zum real existierenden China der Kommunistischen Partei begann zu erodieren, während die Liebe zur Sinologie und zum Chinesischen unerschütterlich blieb. Das Internet brachte nicht die Freiheit, wie sich viele im Westen erhofft hatten, sondern Zensur und Überwachung von monströsem Ausmass. Spätestens als in Hongkong gegen massiven Widerstand ein Patriotismus-Unterricht eingeführt werden sollte, schien es unpassend, in der ehemaligen britischen Kronkolonie mit ihrer selbstbewussten kantonesischen Kultur weiterhin Mandarin zu sprechen. Man spürte die tiefe Sorge vieler Hongkonger um ihre Freiheit und die ihrer Kinder.
Konfuzius und Kong Qingdong
Auch im persönlichen Bezug zeigte das offizielle China trotz aller Freundschaftsrhetorik immer wieder sein dezidiert unfreundliches Gesicht. Ein Klassiker ist die Verweigerung von Visa für Journalisten, und zwar selbst dann, wenn sie Teil einer offiziellen Delegation sind, wie eine Kollegin aus dem Hause NZZ vor einigen Jahren erfahren musste – übrigens just im Rahmen des vielgepriesenen Menschenrechtsdialogs. Wer – wie die Schreibende – nach mehrfachem Bitten doch noch Einlass erhält, muss sich auf diverse «Prüfungen» gefasst machen. Ob es klug ist, ausgerechnet Journalisten systematisch zu verärgern?
Von wenig freundschaftlichem Gestus zeugt auch ein unverfrorener Übergriff an einem europäischen Sinologenkongress in Portugal von 2014, bei dem eine hochrangige Funktionärin der Konfuzius-Institute taiwanische Inhalte aus den Tagungsunterlagen entfernte. Danach konnte keiner mehr daran zweifeln, dass es sich bei diesen Instituten um politisch gesteuerte Aussenstellen der Pekinger Zentrale handelt. Mit dem historischen Konfuzius haben weder diese Institute noch solche Rüpeleien etwas zu tun. Dafür umso mehr mit Kong Qingdong. Dieser Nachfahre des Konfuzius gefiel sich im Jahr 2012, die Hongkonger öffentlich als «Hunde» zu beschimpfen und sie wegen ihrer kantonesischen Sprache zu attackieren. Hier ist es also wieder – das vermeintlich einzige China, das standardisiertes Mandarin spricht und regionale Identitäten befehdet.
Die ganze derzeitige Gemengelage, das zunehmend aggressive Auftreten von Chinas Führung gibt – anders als in den Achtzigern – wenig Hoffnung auf eine baldige Wende. Dafür macht es richtig Lust, endlich Kantonesisch zu lernen, und sei es nur aus Solidarität mit einer bedrängten sprachlichen und kulturellen Minderheit und als Zeichen des geistigen Widerstands gegen die unterdrückerischen Praktiken aus Peking. Mandarin zu lernen, war und ist aber trotzdem nicht verkehrt. Denn für den freien Geist gibt es mehr als ein China. Es gibt ganz viele Chinas. Das der Kommunistischen Partei ist nur eines davon und nicht das beste.
Claudia Wirz ist freie Journalistin und Autorin. Als ausgebildete Sinologin schreibt sie regelmässig für die NZZ.
Bild: Zeichnung abgebildet im Originalbeitrag