Ein Gespräch mit dem Karmapa Orgyen Trinley Dorje: „Wir müssen reden“

16. Juni 2014

Die Zeit, 12.6.14, Petra Pinzler und Thomas E. Schmidt –

Ein junger Tibeter in Mönchsrobe begeistert den Westen. Er trägt den Titel Karmapa und könnte die Zukunfte des Buddhismus sein. Ein Gespräch mit Orgyen Trinley Dorje

Vor diesem Sanften Mann fürchten sich die mächtigen Nationen China und Indien – denn als religiöser Lehrer ist er die Hoffnung der jungen Tibeter, und als Wachstumskritiker zieht er bei seinen öffentlichen Reden Tausende Menschen an. Bisher durfte Orgyen Trinle Dorje nicht nach Europa reisen, jetzt war er zum ersten Mal in Berlin. Beim Interview trägt der Karmapa ein weinrotes Mönchsgewand, eine gelbe Schärpe hängt über seinen Schultern, der Kopf ist rasiert. Seine grossen Themen sind Liebe und Mitgefühl, Ökologie sowie Frauenrechte. Er ist ein Star des globalisierten Glaubens, aber tritt wie ein einfacher Mönch auf. Zur Begrüssung in Berlin schüttelt er den Redakteuren die Hand und sagt freundlich „Guten Morgen“. Begleitet wird er von zwei Nonnen, die eine wird für ihn übersetzen. Er versteht zwar Englisch, doch er antwortet lieber auf Tibetisch. Nur manchmal, wenn eine Frage ihn besonders bewegt, reagiert er spontan auf Englisch.
DIE ZEIT: Euer Heiligkeit, wie fühlt man sich als Auserwählter? Haben Sie gespürt, dass Sie, gerade Sie, der neue Karmapa sind?

Karmapa: Es war ein sehr seltsames Gefühl. Dass ich mit sieben Jahren plötzlich das Oberhaupt unserer Glaubensgemeinschaft wurde, hat mich und meine Eltern vollkommen überrascht und verwundert. Ich stamme aus einer nomadischen Familie aus dem Osten von Tibet. Meine Familie ist zwar sehr religiös, es hing auch immer ein Bild meines Vorgängers an unserem Altar, aber niemals hatte ich daran gedacht, etwas mit den Sechzehnten Karmapa zu tun zu haben. Ich war damals, als ich erwählt wurde, noch ein Kind und erlebte die neue Situation mit meinem kindlichen Verstand. Ich hoffte vor allem, dass ich viele Spielsachen bekommen und viel Spass haben würde mit neuen Spielkameraden.

ZEIT: Und, hatten Sie Spass?

Karmapa: Nein, es war überhaupt nicht lustig.

ZEIT: Was passierte?

Karmapa: Ich wurde von Mönchen abgeholt und in ein tibetisches Kloster gebracht, das ich nicht kannte, weit weg von zu Hause, hoch in den Bergen. Ich musste alles, was mir vertraut war, zurücklassen, meine Eltern, meine Freunde, die Heimat. Am Tag meiner Ankunft in Tshurphu erwarteten mich eine Menge Menschen. Im Kloster wurde ich sofort in den vierten Stock gebracht, in den Trakt, der dem Karmapa vorbehalten ist. Auch dort warteten überall Unbekannte. Sie waren viel älter als ich, sie wirkten sehr ernst und beobachteten mich die ganze Zeit. In jener Zeit war ich oft traurig. Denn zuvor konnte ich ja überall frei herumrennen, jetzt musste ich plötzlich still sein und viel lernen. Ich fühlte mich wie in einem Käfig.

Karmapa_Urgyen_Trinley_Dorje1

ZEIT: Haben Sie manchmal überlegt, davonzulaufen?

Karmpapa: Ja, einige Male schon. (Der Karmapa sagt diesen Satz spontan auf Englisch und beginnt so auch die nächste Antwort, bevor er wieder tibetisch spricht.)

Zeit: Und was hat Sie dazu bewogen, am Ende doch zu bleiben?

Karmapa: Ich weiss es nicht genau. (er zögert) Es gab ja keinen Ort, an die ich hätte flüchten können. Nach und nach habe ich mich an die Situation gewöhnt. Ausserdem haben mich meine Eltern sehr darin bestärkt, im Kloster zu bleiben und meine Aufgabe aufzunehmen. Sie hielten das für sehr wichtig, und ich bin ihnen dafür dankbar. Nach einer gewissen Zeit spürte ich, dass nicht nur meine Eltern Herzenswärme haben. Es sorgten und kümmerten sich ja auch viele andere Menschen um mich. Nach und nach bekam ich neben meinen leiblichen viele andere Eltern.

ZEIT: Mit dem Buddhismus verbindet man in den westlichen Kulturen vor allem Friedfertigkeit und Ausgeglichenheit. Besassen Sie diese Eigenschaften, oder mussten Sie sie im Laufe der Zeit erwerben?

Karmapa: Wissen Sie, ich bin noch nicht sehr alt. Aber ich habe viel erlebt, auch viel Schlechtes, etwa meine überstürzte Flucht aus Tibet in aller Heimlichkeit. Ich bin älter, als meine Lebensjahre es erscheinen lassen. Dass ich das alles überstehen konnte, hat natürlich mit dem Buddhismus zu tun. Ich kann Ihnen aber nicht wirklich erklären, wie das funktioniert. Vielleicht hängt es mit meiner buddhistischen Prägung zusammen. Es hat nichts damit zu tun, dass ich häufig bete. Ich habe den Dharma, die Lehren des Buddha, schon kennengelernt, als ich noch sehr klein war. Ich trage sie im Herzen und im Geist. Sie geben mir Stärke.

ZEIT: Gibt es etwas, was wir im Westen vom Buddhismus lernen sollten?

Karmapa: Wenn wir an Religion denken, dann fallen uns oft vor allem Regeln, Rituale und Gewohnheiten ein. Ich glaube aber, dass Spiritualität in unser aller Natur liegt, dass wir ganz spontan über sie verfügen. Sie ist ein tiefes Wissen, das Menschen schon sehr früh erfahren haben, als es noch keine festen religiösen Lehren gab. Alle Religionen wurzeln in diesem Wissen. Über die Zeit hinweg erstarrte die Spiritualität jedoch in Traditionen, und wir haben unseren spontanen Zugang zu ihr verloren. Buddhas wichtigste Lehren haben alle mit dem wirklichen, mit dem tatsächlichen Leben zu tun.

ZEIT: Wie sollen wir das verstehen?

Karmapa: Es ist sinnvoll, diese Lehren zu studieren, wenn wir beispielsweise wissen wollen, warum wir anderen Menschen mit Mitgefühl und liebevoller Zugewandheit begegnen sollen. Die wirkliche Motivation für diese Haltung sollte aber aus unserer eigenen Erfahrung kommen. Wenn wir unsere Erfahrungen zur Grundlage unseres Handelns machen, dann merken wir auch, dass wir als Menschen für andere Menschen mitverantwortlich sind. Dass wir unserem Leben einen Sinn geben können. Dass wir Fehler machen, aber aus ihnen lernen können, und dass die Spiritualität uns dabei hilft. Sie macht uns Mut. Statt uns zu fragen, was Buddha uns lehren kann, sollten wir besser fragen: Was kann die Wirklichkeit uns lehren? Buddha hilft uns nur dabei, die Realität zu unserem Lehrer zu machen.

ZEIT: Aber es gibt doch ganz unterschiedliche Realitäten. Es macht einen riesigen Unterschied, ob man in einem Kloster in Tibet lebt oder in Berlin-Mitte. Haben wir alle Zugang zur Spiritualität – und ist sie immer dieselbe?

Karmapa: Es stimmt, wir kommen aus ganz unterschiedlichen Kulturen. Wir haben sehr unterschiedliche Erfahrungen gemacht und vertreten verschiedene Meinungen. Deswegen gibt es ja auch unterschiedliche spirituelle Wege und unterschiedliche Religionen. Ich persönlich glaube, dass es nicht gut wäre, wenn es auf der Welt nur eine Religion gäbe. Aber trotz aller Unterschiede gibt es auch Gemeinsamkeiten.

ZEIT: Welche?

Karmapa: Die Erfahrungen der Menschen ähneln sich doch insofern, als wir alle glücklich sind und nicht leiden wollen. Und wir wollen geliebt werden. Die Religionen sprechen an, was uns als Menschen vereint. Wir vergessen das bloss immer wieder, weil wir uns zu sehr auf das konzentrieren, was uns unterscheidet. Deswegen trennen Religionen oft mehr, als sie vereinen.

ZEIT: Heute spitzt sich dieses Problem zu: Die Menschen bekämpfen sich im Namen der Religion.

Karmapa: Das ist schon sehr lange so. Es ist lächerlich und gefährlich zugleich. Ich bin davon überzeugt, dass es Religionskämpfe in der Vergangenheit noch häufiger gab als heute. Heute ermöglichen die modernen Medien es nur, dass wir mehr davon erfahren. Deswegen ist es umso wichtiger, dass wir offen miteinander umgehen. Wir müssen reden. Es beginnt bereits damit, dass sich Menschen aus unterschiedlichen Kulturen regelmässig und vor allem persönlich treffen. Wissen Sie, das Wort „Religion“ wirkt auf mich inzwischen ählich unpersönlich wie „Politik“ oder „Business“. Doch in Wahrheit geht es beim Glauben um unsere ganz persönliche Ethik, um unser individuelles Wertesystem.

OLYMPUS DIGITAL CAMERA
Der Karmapa lebt heute in Indien, im indischen Gyuto Kloster in Dharamsala, nicht weit vom Wohnsitz des Dalai Lama entfernt. Offiziell gilt er als Flüchtling, argwöhnisch beäugt von der chinesischen Regierung. Die befürchtet, dass er zum Führer des tibetischen Widerstandes werden könnte. Auch deswegen äussert er sich nicht zu politischen Fragen. Doch er ist aktiv im Umweltschutz, er verwandelt die Klöster seines Ordens nach und nach in kleine Umweltzentren. Dort unterweisen die Mönche und Nonnen seines Ordens die Menschen der oft sehr armen Gegenden nicht mehr nur in religiösen Fragen, sie zeigen ihnen auch, wie sich die Natur mit einfachen Mitteln besser schützen lässt. Der Karmapa selbst ist seit ein paar Jahren überzeugter Vergetarier. Und er setzt sich aktiv dafür ein, dass Frauen im Buddhismus mehr Rechte bekommen.

ZEIT: Der Buddhismus gehört zu den ältesten Religionen der Welt, und er muss, wie jede Religion, immer aktualisiert werden. Wie sehr sind Sie in Traditionen gefangen, und wie frei sind Sie, moderne Antworten auf moderne Fragen zu geben?

Karmapa: Wir glauben gern, dass Religion irgendwie altmodisch ist. Aber vielleicht brauchen wir gerade jetzt das alte Wissen. Wir Menschen haben zwar unblaubliche Fortschritte in Bildung, Wissenschaft und Technologie gemacht. Zugleich haben wir uns aber in anderen Bereichen rückwärts bewegt. Denken Sie nur daran, wie wir mit der Umwelt umgehen und wie stark unser Leben heute vom Konsum bestimmt ist. Viele moderne Technologien, all die Handys und Computer sorgen doch nur dafür, dass unsere Wünsche und Begierden immer grösser werden. So werden wir unfrei und laufen in die falsche Richtung. Der Glaube kann uns auf einen anderen Weg führen, zu uns selbst zurück. Wir müssen ihn nur neu und modern ausdrücken. Ich hoffe, dass ich dazu in der Lage bin.

ZEIT: Sie plädieren eindringlich dafür, dass wir unseren Umgang mit der Natur verändern. Muss ein moderner religiöser Führer heute ein Umweltaktivist sein?

Karmapa: Das weiss ich nicht. Lassen Sie mich auch diese Frage aus meiner Erfahrung heraus beantworten. Ich komme aus einer sehr entlegenen Gegend in Tibet. Wir leben als Nomaden, im Einklang mit der Natur. In meiner Kindheit habe ich ihre Schönheit unmittelbar erfahren Dieser direkte Kontakt fehlt heute vielen Menschen. Mir liegt die Umwelt aus ganz persönlichen Gründen am Herzen. Ich bin aber auch fest davon überzeugt, dass sie das wichtigste politische Thema des 21. Jahrhunderts ist.

ZEIT: Die meisten Ökonomen würden sagen, dass Sie als Kind von Nomaden in einem unterentwickelten Land in einer wenig entwickelten Gesellschaft gelebt haben.

Karmapa: Was heisst denn unterentwickelt? Ich habe ehrlich gesagt Mitleid, wenn ich manche scheinbar „entwickelte“ Lebensweise betrachte. Es gibt in der sogenannten Ersten Welt viele Menschen, die angeblich viele Freunde haben, aber keine Zeit mit ihnen verbringen. Sie sehen ihre angeblichen Freunde nie, sie kommunizieren mit ihnen nur über Bildschirme. Sie haben Kontakt zu Dingen, nicht zu anderen Menschen. Bitte verstehen Sie mich nicht falsch. Sicher ist mancher Fortschritt gut. Aber innere Zufriedenheit hängt von etwas anderem ab. Wir müssen die richtige Balance wiederfinden.

ZEIT: Sie haben in diesem Gespräch oft von Iher „persönlichen'“ Ansicht gesprochen. Wie vereinbaren Sie sie mit den Zwängen, die sich aus Ihrer Rolle als spiritueller Führer ergeben? Gibt es da einen Widerspruch?

Karmapa: Nein. Denn als spiritueller Führer ist es für mich wichtig, authentisch zu bleiben. Der zu sein, der ich bin. Ich will direkt mit Menschen in Kontakt treten, von Herz zu Herz, anstatt ihnen etwas vorzugeben. Manchmal erhalte ich den Ratschlag, weniger offen zu sein, nicht alles direkt auszusprechen, denn es könnte ja missverstanden oder sogar missbraucht werden. Ich möchte aber offen sein, ich möchte Gefühle zeigen.

ZEIT: Dann lassen Sie uns am Ende über das Glück sprechen. Was macht Sie glücklich?

Der Karmapa schweigt. Dann atmet er tief aus, reibt sich den Kopf und dann das Herz.

Karmapa: Das is eine grosse Frage. Ich glaube, das Glück hängt nicht von der Erfüllung unserer Wünsche ab. Ich musste viele Jahre warten, bis ich nach Europa kommen durfte. Jetzt hier zu sein entschädigt mich für viele Opfer, zum Beispiel dafür, meine Familie und Tibet verlassen zu haben. Aber ist das Glück? Früher hatte ich grosse Hoffnungen für mich persönlich und für die Welt. Aber es gehört zum buddhistischen Weg, seine Wünsche zu zügeln Heute versuche ich, weniger Erwartungen an andere heranazutragen und stattdessen ihre Hoffnungen zu erfüllen, ihnen zu zeigen, dass es jemanden gibt, der sie liebt und sich um sie sorgt. Wenn ich merke, dass mir das gelingt: Ja, das macht mich zufrieden und glücklich.
Der Karmapa

Er ist 29 Jahre alt und nach dem Dalai Lama der zweithöchste spirituelle Führer im tibetischen Buddhismus. Er wird nicht gewählt, sondern gefunden. Der Karmapa ist das Haupt der Karma-Kagyü-Schule. Seit 900 Jahren gilt jeder in diesem Amt als Reinkarnation seines Vorgängers.

Der amtierende Karmapa ist der siebzehnte Wiedergeborene. Er wurde durch eine Weissagung seines Vorgängers entdeckt. Da lebte der siebenjährige Orgyen Trinley Dorje noch als Sohn von Nomaden im Osten Tibets. Die Lehrer seines Ordens durften ihn in China nicht unterrichten. Mit vierzehn Jahren floh er über den Himalaya nach Indien, wo er heute in der Nähe des Dalai Lama lebt. Der Karmapa schweigt zur Politik. In den USA, in Südamerika und nun auch in Europa erklärt er die Lehren Buddhas. Ein Streit über die Rechtmässigkeit seiner Inkarnation ist beendet. Die theologischen Autoritäten des Buddhisms erkennnen den Karmapa an.