Eine Heiligkeit ganz ohne Berührungsängste: Hoher Besuch an der Uni in Bern

21. April 2013

Berner Zeitung, 18.4.13, Sarah King  –

Das Oberhaupt der Tibeter besuchte im Rahmen seiner Schweizreise auch Bern. Gestern sprach er an der Universität über eine Zukunft ohne Gewalt und mit Bildung für alle. Dabei konnte sich niemand seiner Ausstrahlung entziehen.

«Nein! Ich will kein Treffen mehr mit dem Dalai Lama.» Ein bestimmter Unterton begleitet Tendöl Namselings (54) Worte. Der Raum ist erfüllt von einem Duftgemisch aus Räucherstäbchen und Cappuccino. «Es gibt so viele andere, die ihn brauchen. Mir hat er vor 32 Jahren die Zukunft geschenkt.» Geräuschlos stellt die zierliche Tibeterin ihre Tasse auf den Tisch.

Hoher Besuch an der Uni

Geräuschlos wie sonst selten ist es am Dienstag um 10 Uhr auch im Vorlesungssaal des Länggasser Fabrikgeländes. 540 Augenpaare verfolgen auf der Leinwand, wie der Dalai Lama mit Polizeieskorte vorfährt.

«Bitte – setzen Sie sich», sagt er zum Publikum, das ihn wie zuvor instruiert stehend empfängt. Auch sonst ist der Dalai Lama nicht verlegen, die Sitzordnung umzustellen: Universitätsrektor Martin Täuber beordert er neben sich auf die Bühne. «Sonst fühle ich mich so alleine da oben.»

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Schon vor 3 Jahren wollte «Seine Heiligkeit» an der Berner Universität einen Vortrag halten, musste aber aus gesundheitlichen Gründen absagen. Heute sei seine Verfassung «very good», abgesehen von einem kleinen Knieproblem. Am Reden hindere ihn das nicht. Und reden will er über nachhaltige Zukunft, gewaltlose Konfliktlösung und den Wert der Bildung. Der 14.Dalai Lama gilt selbst als Gelehrter und kritischer Denker. Eine Ehre für die Universität Bern? «Wir freuen uns sehr über seinen Besuch», sagt Christoph Pappa, Generalsekretär der Universität. «Einerseits bieten wir als einzige Universität der Schweiz tibetischen Buddhismus als Vorlesung an, andererseits lassen wir uns auch die Ausstrahlung von Dalai Lama gerne gefallen.»

Enorme Anziehungskraft

Seine Wirkung ist unbestritten. Weltweit hat er unzählige Anhänger, seine Vorträge sind schon weit im Voraus ausgebucht. Auch der Vorlesungssaal ist bis auf den letzten Platz besetzt: Zu den Anwesenden gehören Studierende, Mitarbeiter und Ehrengäste wie der Erziehungsdirektor Bernhard Pulver, «als Schirmherr der Uni», wie er sagt.

Die Anziehungskraft des Dalai Lama liegt womöglich in seiner Gelassenheit: Entspannt sitzt er in einem Sessel und gibt sich einfach menschlich: Er tätschelt Täubers Hand, bezeichnet George Bush als seinen Freund (auch wenn er «Vorbehalte gegen seine Methoden» habe) und lacht viel. Weder sieht man ihm Müdigkeit an vom vielen Reisen, noch Trauer oder Wut darüber, dass er und viele seiner Landesgenossen ihre Heimat nicht betreten dürfen. Jährlich legt er Tausende von Kilometern zurück, um die Menschen Frieden und Achtsamkeit zu lehren, und selbst während sich in Tibet die Menschen aus Verzweiflung ob der Unterdrückung selbst verbrennen, bewahrt er die Ruhe: «Wenn jemand eine Person umbringt, bekommt er die Todesstrafe. Wenn aber einer Zehntausende umbringt, ist er ein Held.» Fast beiläufig fügt er an: «Etwas stimmt mit diesem Konzept nicht.»

Wissenschaftlich erforschte Gründe für die Anziehungskraft des Dalai Lama erfuhren Interessierte vor dem Besuch im Rahmen der von der Universität durchgeführten öffentlichen Tibet-Vorträge. Eva Funk zum Beispiel, Doktorandin am Institut für Religionswissenschaft, untersuchte die Repräsentation des tibetischen Buddhismus in den Schweizer Medien. «Der Dalai Lama verkörpert moralische Grösse, bedingungslose Toleranz, Weisheit, Mitgefühl sowie den friedlichen, gewaltlosen Widerstand Tibets.»

Absage an die Gewalt

Die Gewaltlosigkeit betont der Dalai Lama mehrmals: «Gewalt bringt nur Leid. Was es braucht, ist Frieden. Und Frieden heisst nicht, Problemen aus dem Weg zu gehen oder sie gewaltsam zu entfernen, sondern miteinander in Dialog zu treten.» Inspiriert von Mahatma Gandhi, lebt der Dalai Lama nach dem Grundsatz, sich für sein Volk einzusetzen, ohne dabei jemanden zu verletzen. Dafür erhielt er 1989 den Friedensnobelpreis.

Auch Namseling lebt als tibetische Buddhistin nach dem Grundsatz ihres religiösen Oberhaupts. «Die Wahrheit ist mächtiger als jede Waffe» ist in ihrem Laden zu lesen. «Der Dalai Lama hat gesagt, die Chinesen seien unsere Brüder und Schwestern.» Sie zuckt mit den Schultern. «Aber die Brüder und Schwestern töten uns.»

Die leisen Meditationsklänge sind für eine Weile das einzige Geräusch im Laden. Bei Namselings Geburt 1959, im Jahr des Aufstands, befand sich der Dalai Lama auf der Flucht ins indische Exil, in seinem Gefolge Namselings Vater, der Kabinettsmitglied im alten Tibet war. Die Mutter und der Bruder wurden verhaftet. Oft habe Namseling als Kind vor dem Gefängnis an der Strasse gestanden, wenn Leichen auf Lastwagen abtransportiert wurden. «Ich hatte jedes Mal unglaubliche Angst, dass ich das lange Haar meiner Mutter entdecke.»

«We have to think!» Der Dalai Lama zeigt auf die Studierenden. «Bald ist es eure Verantwortung, Probleme konfliktfrei zu lösen.» Bei der Bildung müsse man ansetzen, diese solle nicht nur wirtschaftlich orientiert sein, sondern auch menschliche Werte vermitteln. Sie basiere auf einer säkularen Ethik: Verschiedene religiöse Werte haben nebeneinander Platz und werden respektiert. Diese Haltung möchte Erziehungsdirektor Pulver auch in der Politik verwirklicht sehen: «Nicht Macht gewinnen, um anderen die Position aufzuzwingen», sondern verschiedene Positionen respektieren. «Der Kompromiss ist der Gewinn.»

Mit diesem Denken, so hofft der Dalai Lama, werde künftig statt in Waffen in Technologie investiert, die unseren Globus nachhaltig gesund hält.

Namseling rückt näher zum Ofen. «Unter Aufsicht des Militärs musste meine Mutter Wasser schöpfen gehen. Als mein Bruder aus dem Gefängnis entlassen wurde, setzte ich mich an den Fluss. Ich warf einen Stein ins Wasser und rief: Er ist frei!», sodass sie es hören konnte. Namseling bekam ein Visum, konnte 1981 in die Schweiz reisen und lebt heute in Bern. Sie erinnert sich gerne an ihre Heimat. Dort leben möchte sie aber nicht mehr. «China gewährt den Tibetern keine Freiheiten. Ich möchte dies meinen Kindern nicht antun.» Dafür besucht Namseling Vorträge des Dalai Lama. «Ich verstehe nicht immer alles, aber die Atmosphäre ist so schön.»

Mit dieser Meinung steht Namseling nicht alleine da. Auch Rektor Martin Täuber zeigt sich nach dem Vortrag begeistert von der Ausstrahlung des Dalai Lama. «Und es war auch eindrücklich, wie ruhig und aufmerksam die Studierenden waren.»

Achtung vor allem Leben

Eine davon ist die 22-jährige Sonja Krauer. Im Rahmen ihres Studiums besuchte sie Seminare über den Buddhismus. In ihrer Bachelorarbeit interessiert sie das Verhältnis vom Dalai Lama zu Tieren, «zum Beispiel, warum er nicht Vegetarier ist und wie sich das mit den Werten des Buddhismus vereinbaren lässt.» – «20 Monate lang lebte ich als Veganer.» Der Dalai Lama lacht. «Dann wurde ich gelb wie ein Buddha!» Der Arzt verordnete Fleisch. Nichtsdestotrotz: «Den Vegetarismus sollte man propagieren.» Nach buddhistischen Normen ist das Mitgefühl auch für Tiere ein zentrales Element. Nicht zuletzt stellt das Tier eine Existenzform dar, die der Buddhist bei der Wiedergeburt annehmen kann. Der Dalai Lama wurde in den letzten 600 Jahren 14-mal als Mensch wiedergeboren. Ob er auch ein 15.Mal zurückkommt, lässt er noch offen. Er selbst verrät nur: «Ich bin bald 78. I’m ready to say bye-bye.»

Namseling aber ist überzeugt, dass er wiederkommt: «Der Dalai Lama muss noch vielen Lebewesen eine Zukunft schenken.» Und wie schenkte er sie ihr nun damals? «Er hat mir erklärt, wer mein Vater ist. Er sei ein guter Mensch gewesen.»