Gefangen und gefoltert: «Die Sportler sollten Olympia boykottieren»

10. Januar 2022

Lesen Sie hier das Original-Interview von Sebastian Bräuer, erschienen in der NZZ am Sonntag, 08.01.2022. Foto: Valeriano Di Domenico

Vor den Sommerspielen 2008 drehte der Tibeter Dhondup Wangchen einen kritischen Film, wurde gefoltert und zu sechs Jahren Haft verurteilt. Er sagt, ihm fehle jedes Verständnis dafür, dass die Winterspiele 2022 erneut in Peking stattfinden.

Einige Monate vor den Olympischen Sommerspielen 2008 reis­te Dhondup Wangchen mit einer Videokamera durch Tibet, um Meinungen seiner Landsleute über den Anlass einzuholen. Es entstand der knapp 25 Minuten lange Dokumentarfilm «Leaving Fear Behind», eine Anklage gegen das chinesische Regime. Manche der Interviewten kritisierten die Vergabe der Wettkämpfe nach Peking, andere beschrieben Beispiele für Unterdrückung oder forderten teils unter Tränen die Rückkehr des Dalai-­Lama. Das geistliche Oberhaupt der Tibeter lebt seit Jahrzehnten im Exil.

Wangchen war sich bewusst, mit dem Projekt nicht nur sich selbst in Gefahr zu bringen, sondern sämtliche Personen, die in dem Film zu sehen sind. Als er einen Protagonisten warnte, nicht für seine Sicherheit garantieren zu können, antwortete dieser, er nehme sogar den Tod in Kauf, falls es gelinge, die Dokumentation dem Dalai-Lama zu zeigen.

NZZ am Sonntag: Was war Ihre Motivation, den Film zu drehen?

Dhondup Wangchen: Als China den Zu­schlag erhielt, die Olympischen Spiele 2008 auszutragen, gab es grosse Verlautbarungen. Es hiess, die Spiele stünden für Frieden. Die Redefreiheit werde gewährleistet sein. Ich wollte das überprüfen. Es zeigte sich: Die Menschen in Tibet leben weder in Frieden noch in Freiheit.

Dachten Sie damals, Olympia könnte wegen der globalen Aufmerksamkeit dazu beitragen, dass sich tatsächlich Dinge ändern?

Viele Tibeter hatten diese Hoffnung. Einige glaubten den Versprechungen im Zusammenhang mit Olympia. Das stellte sich jedoch als fatal heraus. Denn sobald sie für ihre Rechte demonstrierten, wurden sie ­verhaftet und gefoltert. Mehr als 150 Tibeter haben sich seitdem selbst in Brand gesteckt. Ich sehe da einen Zusammenhang. Erst machte man ihnen Hoffnungen auf mehr Freiheit. Dann wurden sie in die Verzweiflung getrieben, weil sich die Versprechungen als falsch erwiesen.

Einer der Befragten verlangt in dem Film, dass sämtliche Chinesen das tibetische Gebiet verlassen sollten. Sehen Sie das auch so? Die Forderung kann als aggressiv empfunden werden.

Ich teile die Forderung, denn es besteht ein deutliches Missverhältnis. Auf jeden einzelnen Tibeter, der dort lebt, kommen sehr viele Chinesen. Wer eine Arbeit finden möchte oder auch nur Gemüse auf dem Markt kaufen will, muss chinesisch sprechen. Wie soll ein tibetischer Nomade da bestehen können?

Sie fürchten um die tibetische Kultur. Woran machen Sie das fest?

Es wird systematisch versucht, die tibetische Identität auszulöschen. Kinder werden ihren Eltern weggenommen und in Internate gesteckt, in denen sie nicht nur auf Chinesisch unterrichtet, sondern regelrecht indoktriniert werden. Wer zu Hause ein Bild des Dalai-Lama hat, kommt ins Gefängnis. Menschen wird verboten, Mönch zu werden. Die Situation ist unerträglich. Seit 2013, als Xi Jinping in Peking an die Macht kam, ist alles noch schlimmer geworden, Tag für Tag wird es schlimmer.

Im Zusammenhang mit dem Filmdreh wurden Sie festgenommen. Was passierte dann?

Sie nahmen mich in ein Zimmer ohne Fenster. Ich wurde an einen Stuhl gefesselt, dann schlugen sie mich mit Fausthieben gegen den Kopf. Ich bekam Elektroschocks in den Hals. Ausserdem erhielt ich in den ersten Tagen nichts zu essen und wurde am Schlafen gehindert. Sie hatten aber nichts gegen mich in der Hand, das mussten sie irgendwann einsehen. Die Kassetten mit den ­Aufnahmen hatten wir bereits ins Ausland geschickt, ich hatte sie nicht mehr bei mir.

Die Foltermethoden nannte auch Amnesty International in Berichten über Ihren Fall. Am 13. Juli 2008 konnten Sie laut der Organisation kurzzeitig fliehen. Wie kam es dazu?

Ich wurde in jener Nacht in einem Gästehaus der Sicherheitskräfte festgehalten und teilte das Zimmer mit drei Aufsehern. Nach einer Weile kamen wir uns näher. Man gab auch mir Alkohol zu trinken. Später wettete einer der anderen Gefangenen mit mir, dass ich nicht den Mut habe davonzulaufen. Das spornte mich an. Es gelang mir, mich zu befreien und zu fliehen. Draussen lieh ich mir Geld, um Anrufe machen zu können. Ich erreichte meinen Cousin Jamyang Tsultrim, der in der Schweiz lebt. Er sagte mir, dass die Kassetten an einem sicheren Ort seien. Nach dieser guten Nachricht übergab ich mich wieder den Sicherheitskräften.

Warum taten Sie das?

Die Behörden hatten mir gesagt, dass ich nur bis nach den Olympischen Spielen ­festgehalten werde und danach eine Art Entschädigung erhalte.

War das eine bewusste Lüge?

Zu diesem Zeitpunkt kannten sie den Inhalt des Films noch nicht. Als er veröffentlicht wurde, hatten sie Beweismittel. Dann kamen wieder Befragungen, spät in der Nacht.

Sie wurden wegen «Staatsgefährdung» verurteilt und kamen bis 2014 ins Gefängnis. Hatten Sie Angst, die Haft nicht zu überstehen?

Das Leben im Gefängnis war brutal. Wir mussten 15 bis 16 Stunden pro Tag arbeiten und zum Beispiel Militärkleidung herstellen. Wer einen Fehler machte, wurde bestraft oder gefoltert. Ich merkte aber rasch, dass ich besser behandelt wurde als andere Gefangene, weil mein Fall international bekannt war. Jeden Monat mussten wir schriftlich geloben, unsere Straftaten nicht zu wiederholen. Als Tibeter mussten wir den Dalai-Lama denunzieren und ihn einen Separatisten nennen. Viele Tibeter weigerten sich und büssten dafür. Das ist der Hauptgrund, warum sie bis heute in Gefängnissen sterben. Mit mir gingen die Behörden glimpflicher um. So blieb ich am Leben.

Drei Jahre nach Ihrer Freilassung entkamen Sie in die USA. Wie gelang Ihnen das?

Ich hatte nicht vor zu fliehen, eigentlich wollte ich mich weiter für die Bewahrung unserer Kultur engagieren und neue Projekte anstossen. Aber ich musste feststellen, dass ich permanent überwacht wurde und mich nicht mehr frei bewegen konnte. Vielen anderen ging es auch so. Mithilfe von internationalen Organisationen konnte ich ohne Pass über Vietnam und Thailand in die Schweiz gelangen, von dort kam ich nach San Francisco.

Dort sahen Sie Ihre Familie wieder, es muss ein Moment grosser Freude gewesen sein.

Leider mit einer grossen Einschränkung. Meine Mutter, zu der ich ein sehr enges Verhältnis hatte, war damals schwer krank. Sie lebte in Australien. Ich bemühte mich von den USA aus um eine Einreisegenehmigung in der grossen Hoffnung, sie nochmals sehen zu können. Erst stimmten die australischen Behörden der Reise zu, aber plötzlich zogen sie die Erlaubnis wieder zurück. Ich bin überzeugt, dass Australien Ärger mit der chinesischen Regierung befürchtete. Warum sollten sie sonst innerhalb von einigen Tagen ihre Meinung ändern? Meine Mutter starb wenige Monate später. Nichts bereue ich in meinem Leben so sehr wie die Tatsache, sie nicht mehr gesehen zu haben.

Sie erhielten in den USA Asyl. Ist es Ihnen gelungen, dort ein neues Leben aufzubauen?

Ich kann dort mit meiner Familie wohnen. Aber selbst in den USA gibt es in der tibetischen Gemeinschaft Spione. Manchmal werde ich übers Handy bedroht oder bekomme vulgäre Botschaften zugeschickt. Einmal wurden beim Auto meiner Frau alle vier Reifen zerstochen. Warum gerade bei ihr? Der Wagen ist alt, und es stehen viel schönere Fahrzeuge in der Strasse.

In den letzten Wochen sorgte das Schicksal der chinesischen Tennisspielerin Peng Shuai für Aufsehen. Nachdem sie
einem hochrangigen Parteifunktionär sexuelle Nötigung vorgeworfen hatte, war ihr Aufenthaltsort zeitweise un- bekannt, ihre Profile in sozialen Netzwerken wurden gelöscht. Wie beurteilen Sie ihren Fall?

Wir müssen grosse Angst um sie haben. Peng Shuai ist mittlerweile auf der ganzen Welt bekannt. Dass die chinesische Regierung eine derart prominente Persönlichkeit verschwinden lässt, illustriert den dortigen Umgang mit solchen Skandalen. In anderen Ländern würden die von ihr erhobenen ­Anschuldigungen untersucht, und wenn sie sich als wahr herausstellten, hätte das für den Beschuldigten Konsequenzen. Er müsste sich mindestens entschuldigen. Nicht so in China.

Vor Weihnachten erklärte Peng in einem Interview, sie sei falsch verstanden worden. Sie behauptete, den Vorwurf der sexuellen Nötigung gar nicht erhoben zu haben.

Mit absoluter Sicherheit wurde sie genötigt, das so zu sagen. Sie tat es nicht aus freien Stücken. Peng wird China künftig nicht mehr verlassen können, wenn sie überhaupt am Leben bleibt. Das sind die Konsequenzen für Anschuldigungen gegen einen hohen Parteifunktionär.

Bereits im November telefonierte Thomas Bach, der Präsident des Internationalen Olympischen Komitees, mit der Spielerin. Anschliessend erklärte das IOK, Peng sei wohlauf und in Sicherheit. Wie ist das zu bewerten?

Thomas Bach verhält sich wie eine Marionette der Kommunistischen Partei. Im Jahr 2008 hiess es, man wolle China die Möglichkeit geben, sich zu öffnen. Seitdem ist fast alles schlimmer geworden. Nicht nur für die Tibeter, denken Sie auch an den Umgang mit den Uiguren in Xinjiang und an die Situation in Hongkong. Trotz allem erlaubt Thomas Bach dem unterdrückerischen Regime in wenigen Wochen, die Olympischen Spiele ein weiteres Mal auszutragen. Wenn er keine Marionette ist, wer dann?

Derzeit sind Sie drei Monate lang in Europa. Ihre Unterstützer versuchen, Sie mit Sportfunktionären in Kontakt zu bringen. Sollten Sie Bach treffen, was würden Sie ihm sagen?

Ich würde versuchen, ihn auf seine enorme Macht und auf seinen Einfluss aufmerksam zu machen. Er hat die Möglichkeit, für die universellen Menschenrechte einzutreten, denn an den Olympischen Spielen kommt unter dem Dach seiner Organisation die ganze Welt zusammen.

Wie sollte er seine Macht nutzen?

Im Jahr 2022 gibt es keine Rechtfertigung mehr für Olympische Spiele in China. Peking muss sie entzogen bekommen. Sie sollten verlegt werden. Olympia wird als friedliches Fest bezeichnet. Solange Menschen nicht die gleichen Rechte haben, kann von wirklichem Frieden keine Rede sein.

Eine Absage wird so kurzfristig kaum noch passieren, abgesehen davon stellt sich aber auch die Frage: Würde sie an den Verhältnissen im Land tatsächlich etwas ändern?

Es würde den unterdrückten Tibetern oder Uiguren sehr helfen, wenn die Olympischen Spiele nicht in China stattfänden.

Das Land hätte dann keine Möglichkeit, den Anlass zur Propaganda zu nutzen. Wenn man die Veranstaltung in China lässt, wird für uns alles noch schlimmer.

Die Menschenrechtssituation in China wird intensiv diskutiert, gerade auch wegen der nahenden Winterspiele. Manche Beobachter setzen darauf, dass Veränderungen angestossen werden, weil die Welt genau hinschaut.

Das wurde uns 2008 auch erzählt, und das Gegenteil ist passiert. Es ist genau umgekehrt. Die Spiele in China zu veranstalten, kommt einem Einverständnis mit der Politik der dortigen Regierung gleich. Man beugt sich einem Regime, das Menschen einsperrt und tötet.

In einigen Ländern wie den USA und Japan haben Politiker erklärt, die Wettkämpfe nicht zu besuchen. Halten Sie das für richtig?

Das Fernbleiben dieser Politiker ist ein klares Signal, dass sie sich zur Einhaltung der Menschenrechte bekennen. Natürlich ist das für die chinesische Regierung unangenehm. Ein diplomatischer Boykott ist das Mindeste.

Was raten Sie nominierten Sportlern? Einige mögen sich angesichts der Zustände im Land unwohl fühlen, aber sie sind Profis, für viele ist Olympia der Karrierehöhepunkt.

Ich habe mit ein paar Athleten gesprochen. Sie sagen, dass sie am Entscheid des IOK, nach Peking zu gehen, nichts ändern können. Am besten wäre, wenn sie nicht antreten. Die Sportler sollten Olympia ­boykottieren. Wenn sie auf die Teilnahme nicht verzichten wollen, sollten sie ihre Redefreiheit nutzen, um darauf hinzuweisen, was zum Beispiel in Tibet passiert. Millionen Menschen leiden. Die Sportler sollten für jene sprechen, deren Stimmen nicht gehört werden.

Wäre das, wenn überhaupt, nicht eher die Aufgabe von Verbandsvertretern?

Diese müssen anders agieren als der deutsche Sportfunktionär, mit dem ich vor kurzem zu tun hatte. Als ich ihn auf die Lage in Hongkong ansprach, sagte er, er wisse nicht wirklich Bescheid darüber, aber er habe Vertrauen in die chinesische Regierung. In gewisser Weise war ich froh über seine Ehrlichkeit. Andere weichen aus und äussern sich unverbindlich, wenn es um Menschenrechte geht. Dieser Mann liess keine Zweifel, dass er sich nicht besonders dafür interessiert. Hoffentlich ist er eine Ausnahme.

Auch der langjährige IOK-Mann Richard Pound erklärte, er wisse zu wenig über den Sachverhalt, um sich über Chinas Umgang mit den Uiguren äussern zu können. Verlangen Sie von Funktionären, zu jeder heiklen politischen Frage Position beziehen zu müssen? Sie würden ihren Kompetenzbereich ausdehnen.

In diesem Fall würde es reichen, die Nachrichten einzuschalten und sich die Berichte über die bestehenden Internierungslager anzuschauen. Das ist nicht zu viel verlangt.

Glauben Sie, eines Tages wieder nach Tibet zurückkehren zu können?

Ich habe grosse Hoffnungen, dass wir zusammen mit dem jetzigen Dalai-Lama zu dessen Lebzeiten nach Tibet zurückzukehren können. Alle Tibeter innerhalb und ausserhalb des Landes teilen diese Hoffnung.