Geheime Asyl-Abteilung des Bundes gerät unter Beschuss

26. Oktober 2020

Vertrauliche Akten des Staatssekretariats für Migration gelangen an die Öffentlichkeit. Wissenschafter begutachten sie – und kommen zu einem vernichtenden Befund. 

Lesen Sie hier den Originalbericht von Lukas Häuptli, erschienen in der NZZ am 25.10.2020.

Die Abteilung hat ihre Büros draussen im Berner Vorort Wabern, heisst offiziell Fachstelle Lingua und ist kaum jemandem bekannt. Doch im Schweizer Asylwesen spielt sie eine wichtige Rolle. Ihre Experten und Expertinnen machen Sprach- und Wissens-Analysen zu Asylsuchenden, deren Herkunft nicht vollständig geklärt ist. Etwa bei Gesuchstellern, die angeben, aus Eritrea, Syrien oder Tibet in die Schweiz geflüchtet zu sein. In vielen Fällen sind die Berichte der Experten ausschlaggebend für die Ablehnung der entsprechenden Asylgesuche.

Dass die Abteilung niemand kennt, ist Absicht. Das Staatssekretariat für Migration hält die Namen der mehr als 100 Experten und Expertinnen, die für die Fachstelle arbeiten, geheim. In den Akten tauchen sie nur unter Abkürzungen wie «AS13» oder unter Pseudonymen auf. Das geschehe zum Schutz der Experten, sagt Lukas Rieder, Sprecher des Staatssekretariats. «Im Fall einer Identifikation besteht ein hohes Risiko, dass die Sicherheit der sachverständigen Personen nicht mehr gewährleistet ist und diese Druckversuchen von verschiedenen Seiten ausgesetzt werden.»

Doch das Staatssekretariat für Migration geht noch weiter. Es hält auch sämtliche Analysen, welche die Abteilung über Asylsuchende macht, unter Verschluss. Die Gesuchsteller und Gesuchstellerinnen erhalten nur eine kurze Zusammenfassung der mehrseitigen Berichte.

Experte «AS19»

Jetzt aber sind mehrere Dokumente der Fachstelle Lingua durch ein Leck an Dritte gelangt. Unter den Akten befindet sich auch ein als vertraulich klassifizierter Bericht des Experten «AS19» über einen tibetischen Asylsuchenden. Unterschrieben ist das 15-seitige Dokument mit Jakob Schreiner – einem Pseudonym, wie das Staatssekretariat für Migration in einem Brief an den Gesuchsteller einräumte.

Über Umwege gelangte der vertrauliche Bericht an eine Gruppe von Tibetologie-Professoren und -Lehrbeauftragten an Universitäten in Bern, Leipzig und Paris. Die vier Wissenschafterinnen und Wissenschafter, die seit Jahren, ja Jahrzehnten zur tibetischen Sprache, Kultur und Geschichte forschen, prüften den Bericht und verfassten ein Gutachten dazu. Ihr Befund ist vernichtend: Sie schreiben von «substanziellen Defiziten» im Lingua-Bericht, von «nicht akzeptierbaren Fehlern» und von «so vielen Mängeln, dass eine neutrale und objektive Evaluation nicht möglich ist».

Eine der Gutachterinnen, Karénina Kollmar-Paulenz, geht im Telefongespräch noch weiter. Sie ist Professorin für Religionswissenschaft und zentralasiatische Kulturwissenschaft an der Universität Bern und sagt: «Der Bericht des Experten ‹AS19› hält wissenschaftlichen Ansprüchen in keiner Art und Weise stand. Er ist in der Tibetologie offenbar auf dem Forschungsstand der achtziger Jahre stehengeblieben.»

Überhaupt rätseln die vier Wissenschafterinnen und Wissenschafter über die Identität des Experten des Staatssekretariats. «Die internationale Tibetologie-Szene ist überschaubar», sagt Kollmar-Paulenz. Niemand aber kenne einen Tibetologen, auf den die Angaben des Staatssekretariats für Migration passten, die in einer ebenfalls öffentlich gewordenen Kurzbiografie zu «AS19» stehen. «Das alles macht uns schon sehr stutzig. Und es legt die Frage nahe: Wer ist dieser Experte überhaupt?»

Die Nähe zu China

Noch bemerkenswerter ist eine andere Feststellung der vier ­Tibetologen aus der Schweiz, Deutschland und Frankreich. «Es ist offensichtlich, dass der Experte ‹AS19› sehr chinafreundlich ist», sagt Karénina Kollmar-Paulenz. «Eine Reihe seiner Aussagen tönen wie die offizielle chinesische Staatspropaganda.»

Das Staatssekretariat für Migration stellt allerdings kategorisch in Abrede, dass der Experte eine auffallende Nähe zu China habe. «Dieser Vorwurf entbehrt jeder Grundlage», sagt Sprecher Lukas Rieder. Immerhin will die Behörde den Vorwürfen der vier Wissenschafter und Wissenschafterinnen nachgehen: «Die vorgebrachten Punkte werden zurzeit sorgfältig geprüft», erklärt Rieder. «Sollte sich herausstellen, dass Qualitätsmängel bestehen, werden erforderliche Massnahmen getroffen.»

Daneben weist er darauf hin, dass die Fachstelle Lingua seit Jahren «Analysen von hoher Qualität» mache und dass deren Arbeit «regelmässigen Überprüfungen» unterliege. Genau das bezweifelt aber die Berner Professorin Karénina Kollmar-Paulenz: «Der Fall legt nahe, dass das Staatssekretariat für Migration im Bereich seiner Lingua-Berichte kein oder ein nur ungenügendes Qualitätsmanagement betreibt.»

Wie häufig Lingua-Analysen in Asylverfahren zur Anwendung kommen, gibt das Staatssekretariat für Migration nicht bekannt. Es ist zumindest nicht selten, wie ein Blick in die Entscheid-Datenbanken des Bundesverwaltungsgerichts zeigt. Dieses ist erste und einzige Beschwerdeinstanz im Asylwesen. Allein seit Anfang Jahr spielten in rund fünfzig Fällen Lingua-Berichte eine Rolle. Und in der Regel eine entscheidende. Das Bundesverwaltungsgericht selbst hat mehrmals festgehalten, dass den Lingua-Analysen ein «erhöhter Beweiswert» zukomme.

«Die Lingua-Analysen des Staatssekretariats für Migration haben in vielen Asylverfahren ein sehr grosses Gewicht», sagt dazu der Luzerner Anwalt Hannes Munz, der oft abgewiesene Asylsuchende vertritt. «In zahlreichen Fällen führen sie zu einem ablehnenden Entscheid.»

Foto vom Originalbeitrag: Die Schweiz gewährt nur zehn bis zwanzig Prozent aller tibetischen Gesuchsteller Asyl. Viele der anderen weist sie aufgrund einer sogenannten Lingua-Analyse aus dem Land (Symbolbild).