Am 14. und 15. November kamen beim Geneva Forum 2019, organisiert von der Central Tibetan Administration (CTA), zum Thema «Chinas High-Tech-Unterdrückung und Religionsfreiheit» Menschen unterschiedlichster Hintergründe zusammen, um ihr Wissen und ihre Erfahrung miteinander zu teilen. Was Referenten und Teilnehmende verband, war echte Solidarität und der Wille für Menschenrechte, Werte und Freiheit einzustehen. «Wir sind hier, um die Welt zu warnen, denn was in Tibet geschah, wird auch hier passieren. Die Überwachung in Tibet begann vor Jahrzehnten und wird jetzt zu Ländern in Ihrer Nähe exportiert.» (Sikyong Dr. Lobsang Sangay) Eine Umdefinierung der Menschenrechte und der Versuch Chinas, den Vereinten Nationen eine Neustrukturierung aufzuzwingen, sind die wahren Bedrohungen für die ganze Welt.
Rund 130 Personen verfolgten die Berichte und Diskussionen der 16 Sprecher, u. a. moderiert von Repräsentanten des Office of Tibet (OOT), der CTA und der Internationalen Tibet Kampagne (ICT). Eröffnet wurde die Veranstaltung mit einer Ansprache von Sikyong Dr. Lobsang Sangay, dem Präsidenten der CTA, sowie mit einer Botschaft von S. H. dem Dalai Lama und einem Grusswort von Ständerat Carlo Sommaruga, mit der Warnung und dem Aufruf an die Nationen, sich gegen uneingeschränkten Machtmissbrauch des Staates zu mobilisieren. Beendet wurde die Veranstaltung am zweiten Tag mit einer gemeinsamen Erklärung und Forderung an China, sofort die Menschenrechtsverletzungen, Überwachung und Unterdrückung zu beenden, und einem Appell an alle anderen Nationen, sich für Freiheit, Werte und Rechte aller Menschen einzusetzen. Schlussworte von Dr. Lobsang Sangay und Ständerat Robert Cramer rundeten das Forum ab. Letzterer betonte die Wichtigkeit von Konferenzen wie dieser als sinnvolles Instrument der Einflussnahme vor allem auch durch die Resolution und Deklaration am Ende der Veranstaltung.
Schwerpunkte des Forums lagen auf vier Querschnittsthemen bezüglich Chinas Hightech-Repression: Technologie und die Zukunft der Menschenrechte, High-Tech-Unterdrückung von Gläubigen in China, Pekings Export von Überwachungstechnologie und die Auseinandersetzung mit Ängsten vor einer von China bestimmten Welt nach Orwell.
Im ersten Panel, moderiert von Sonam Frasi, Repräsentant des Dalai Lama für Nordeuropa, wurde die rasche Verbreitung von High-Tech-Unterdrückungs-Taktiken und -Technologien in dem von China kontrollierten Tibet, Ostturkestan (chin.: Xinjiang) und Hongkong diskutiert. Weitere Themen waren der chinesische Plan für 2020 zur Vervollständigung des Sozialkredit-Systems für die gesamte chinesische Bevölkerung, der Export von wichtigen individuellen Überwachungstechnologien in Länder mit autoritären Regimes und die dringende Notwendigkeit, sich dem autoritären Trend zu stellen und ihm entgegenzutreten.
Die internationale Gemeinschaft und die Regierungen müssen sich intensiv und kritisch mit ihrer China-Politik der letzten Jahrzehnte auseinandersetzen und für die Zukunft die richtigen Schlussfolgerungen und Lehren daraus ziehen. Das heutige China und sein Verhalten anderen Staaten gegenüber entwickelte sich auch durch die internationale Haltung und Politik China gegenüber, so Kelsang Gyaltsen, der ehemalige Gesandte S.H. des Dalai Lama.
Edward Chin, Menschenrechtsaktivist im Konvent des «2047 HK Monitor» in Hongkong, zeigte den Export von Überwachungsinstrumenten und das gewalttätige Vorgehen gegen die Demonstranten in Hongkong auf. Auch er beschrieb willkürliche und ungerechtfertigte Staatsgewalt gegen Personen, um diese einzuschüchtern. Und er legte den Unterschied zwischen der Tibet- und der Hongkong-Frage dar: Honkong beansprucht «Ein Land – Zwei Systeme», während Tibet nie Teil Chinas war und ihm deshalb Eigenständigkeit zustehe.
Hilary Miller, Vertreterin der Menschenrechts-NGO «United Nations Watch» mit Sitz in Genf, kritisierte die Einschüchterungstaktiken und die negative Beeinflussung des Menschenrechtsrates der Vereinten Nationen durch China.
«China ist Mitglied des 47-köpfigen UN-Menschenrechtsrates und spielt aus unzähligen Gründen eine negative Rolle. Seine verlängerte Mitgliedschaft im Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen (UNHRC) ist absurd, da China einer der weltweit schlimmsten Menschenrechtsverletzer ist.»
Als sie über die verschiedenen Mittel sprach, wie China den UNHRC negativ beeinflusse, sagte sie: «China wählt systematisch den falschen Weg, wenn es um eine Resolution zu den Menschenrechten geht. China unterbricht Gastredner und versucht Verteidiger während der Ratssitzungen einzuschüchtern. China versucht schon lange, UN-Beamte dazu zu drängen, Dinge zu tun, die gegen die Ethikverfahren der UN verstossen. Schliesslich unterstützt China die Heuchelei und koordiniert Abstimmungen mit anderen schlechten Akteuren, um eine falsche Darstellung der Realität seiner Menschenrechtssituation zu schaffen.»
Filip Jirouš von der Charles Universität Prag extrahierte den Kerngedanken hinter Chinas ehrgeizigen Bestrebungen, Marktführer und wissenschaftlicher Vorreiter im Bereich der künstlichen Intelligenz zu werden. Darüber wolle die Kommunistische Partei Chinas (CCP) erreichen, «was Lenin und Mao tun wollten, nämlich die volle Kontrolle über Staat, Wirtschaft, die Menschen und ihr Denken zu übernehmen». Sie benutzen Ostturkestan als Laboratorium für die Implementierung des digitalen Leninismus, was bedeute, dass die totale Überwachung der Uiguren der Testlauf für die totale Überwachung Chinas und weltweit sei. Mit der Begründung, Kriminalität zu bekämpfen, werde ein System der lückenlosen Kontrolle eingeführt. «Man kann nicht länger Handel mit China betreiben, ohne daran beteiligt zu sein, was in Ostturkestan geschieht».
Das zweite Panel, moderiert von Karma Choeying (Abteilung Information und Internationale Beziehungen, CTA) beschäftigte sich mit der High-Tech-Unterdrückung von Gläubigen in China, der lückenlosen Überwachung jedes Lebensaspekts dieser Menschen, der Verschleppung in Konzentrationslager aufgrund ihrer Religionszugehörigkeit und der Ausbeutung von Gefangenen durch Zwangsarbeit und Organausschlachtung.
Bhuchung K. Tsering (Vize-Präsident der Internationalen Tibet Kampagne ICT) beschrieb die Merkmale tibetisch-religiöser Identität und Chinas invasives Verhalten. «China versuchte, monastische Strukturen zu zerstören, wo immer es konnte, und versuchte, den Buddhismus durch den Kommunismus zu ersetzen. Das ist nicht gelungen. Die Tibeter behielten ihre Identität und belebten den Buddhismus immer wieder. China erkannte, dass es seine Politik ändern musste und wechselte die Strategie: Kontrolle über den Buddhismus.» Jetzt beansprucht die CCP die Autorität für Klostererziehung, Klosterleben und Anerkennung religiöser Lehrer.
Annie Yang wurde nur aufgrund ihrer Zugehörigkeit zur Falun Gong-Religion festgenommen und ohne Gerichtsprozess oder Urteil in ein Arbeitslager verschleppt. Dort wurde sie ihrer grundlegenden Menschenrechte beraubt und gefoltert. Falun Gong-Praktizierende werden unrechtmässig verhaftet, missbraucht und getötet, um Handel mit ihren Organen zu betreiben. Auch diese Gruppe unterliegt der totalen Kontrolle und Überwachung durch Gesichtserkennung, Kameras, Handyüberwachung etc.
«Ostturkestan ist zum am stärksten überwachten Staat geworden, die Menschen haben überhaupt keine Freiheit und werden in Konzentrationslager gebracht, wo ihnen Organe entnommen werden, die dann als ‹Halal›-Organe verkauft werden.» So beschreibt Dolkun Isa (Präsident des World Uyghur Congress) die Situation. Wie Filip Jirouš, bestätigt auch er, dass Ostturkestan der Testlauf für alle chinesischen Überwachungs- und Unterdrückungsmethoden geworden ist.
Des Weiteren werden Uiguren jeglicher Rechte beraubt, müssen aufdringliche Hausbesuche von chinesischen Beamten, Vergewaltigungen und Zwangsverheiratungen über sich ergehen lassen. «Sie kommen ins Haus und bleiben sogar bis zu einem Monat. Sie überwachen und bestimmen alles und wir können nichts ablehnen. Wir werden gezwungen, Schweinefleisch zu essen oder Alkohol zu trinken. Du musst alles tun, sonst wirst du als Terrorist bezeichnet und in ein Konzentrationslager abtransportiert.»
Marco Respinti (Leitender Direktor und Herausgeber von «Bitter Winter») bestätigt die Beschreibungen seiner Vorgänger durch eigene Recherchen und fügt dem u. a. hinzu, dass die CCP Religionen in Kategorien einteilt, je nachdem, wie rigoros sie diese verfolgen. «Jede Handlung oder Gruppe, die nicht in Übereinstimmung mit der CCP ist, kann als «Xie Jiao» (schlechter Kult) gekennzeichnet und gnadenlos [MO1] werden.» Diese Bezeichnung kann willkürlich gesetzt und Menschen deswegen getötet werden, es hat nicht zwangsläufig etwas mit Religion zu tun, es kann jede Gruppe treffen.
Am zweiten Tag des Forums berichteten ausgewiesene Spezialisten über die chinesische Überwachungstechnologie und deren Export, wobei das dritte Panel von Thinley Chukki (Spezialistin für Menschenrechte, Tibet Büro Genf) moderiert wurde.
Zunächst zeigte Tenzin Dalha (Wissenschaftlicher Mitarbeiter, Tibetisches Institut für Politikwissenschaft im Bereich Digitale und chinesische Internetsicherheit), mit welchen Mitteln die CCP die Bevölkerung lückenlos überwacht. China stützt sich dabei auf das 2017 in Kraft gesetzte Sicherheitsgesetz, das den Begriff der Sicherheitsbedrohung sehr weit und unscharf fasst. Da sind zum einen Überwachungskameras mit Gesichtserkennung, deren Einsatzrate in chinesischen Städten weltweit am höchsten ist. Als zweites ist die Überwachung der Handys zu nennen, die erlaubt, alle Bewegungen des Handybesitzers zu erfassen. Ein weiteres wirksames Instrument stellt das seit der Olympiade 2008 eingeführte «Sozialkredit-System» dar, das loyales Verhalten gegenüber der Regierung belohnt, als regierungskritisch betrachtetes Verhalten aber mit dem Entzug grundlegender Rechte, wie der Bewegungsfreiheit, bestraft. Eine weitere invasive Massnahme ist die Entnahme von DNA bei Gesundheitskontrollen, eine Massnahme, die nun auch nach China einreisenden Touristen droht.
Was die Überwachung in Tibet betrifft, wurden diese Massnahmen durch den zuständigen Parteisekretär Chen Quanquo eingeführt. Sie erwiesen sich als so erfolgreich, dass er nun dieselben Massnahmen in Ostturkestan gegen die Uiguren eingeführt hat. Es gelingt damit, die fundamentalen Rechte der Freiheit in Ausdruck, Bewegung und Versammlung zu unterdrücken.
China will diese Repressionsmassnahmen in andere Länder exportieren, beispielsweise entlang der Seidenstrasse als «Digital Silk Road». Einzelne Länder haben chinesische Überwachungsmassnahmen bereits unter dem Begriff «Smart City» übernommen, zum Beispiel Pakistan, Kenia oder die Philippinen, wo in der «Bonifacio Global City» bereits eine Überwachung während 24 Stunden an sieben Tagen möglich ist.
Dr. Chien-Yuan Tseng (Vorstand der Neuen Schule für Demokratie und Kommunalberater der Stadt Taipeh) legte dar, wie China in Taiwan Einfluss zu nehmen versucht, indem es «den Feind ohne Kampf besiegt». Im Vordergrund stehen ökonomische Massnahmen wie beispielsweise die Unterstützung mittelloser Tempel, dadurch aber Einflussnahme auf die Print-Medien durch gekaufte Seiten und Fake News in der beliebten «China Times». (Anmerkung tf-Redaktion: Weltwoche-Artikel-Serie)
Ein dritter Bericht von Oberstleutnant a.D. Vinayak Bhat zeigte anhand eindrücklicher Fotos, wie sich die chinesische Politik der religiösen Unterdrückung und der globalen Überwachung anhand von Satellitenbildern einwandfrei belegen lässt. In Tibet lässt sich erkennen, dass am heiligen See Lhamo La-tso ein Überwachungsposten erbaut und das Chokorgyel-Kloster zerstört wird. In Urumqi werden Moscheen und Minarette zerstört und durch Han-Architektur ersetzt und für den Bau einer Strasse werden Gräber exhumiert. Weitere Bilder belegen, dass China von Schiffen aus oberhalb und unterhalb des Meeresspiegels überwacht. Auch baut es ein System mit teilweise bewaffneten Satelliten auf. Es wird klar, dass die chinesische Regierung die weltweite Überwachung in der Luft, auf dem Land, über und unter dem Wasser anstrebt. Dabei sind Länder wie Pakistan, Sri Lanka, Kambodscha, Namibia und Djibouti bereits in diese Massnahmen einbezogen.
Ein erschütterndes Zeugnis erlebter Unterdrückung legte mit leiser Stimme die ehemalige «singende Nonne» Phuntsog Nyidron – «die am längsten inhaftierte weibliche politische Gefangene» –, übersetzt von Kalden Tsomo vom Tibet Bureau Genf, ab. Sie wurde wegen regierungskritischer Demonstrationen 17 Jahre in chinesischen Gefängnissen festgehalten und dabei auf grausame Weise gefoltert.
Das vierte Panel am Nachmittag, moderiert von Kelsang Gyaltsen, war dem Thema gewidmet, wie man der Angst vor einer chinesisch-dominierten Orwell’schen Gesellschaft begegnen kann.
Dazu äusserten sich vor allem Politiker; als Erster Mikulas Peksa, ein tschechisches Mitglied des Europa-Parlaments. Er sieht die «Great Internet Firewall» Chinas, welche die Sichtweise der dortigen Bürger stark einschränke, als Realität. Durch sein wachsendes Gewicht als Handelspartner erkaufe sich China immer mehr Einfluss, auf Kosten der Freiheit in europäischen Ländern. Denn der ökonomische Erfolg korrumpiert uns und macht China zur Bedrohung der Freiheit auf der ganzen Welt, die sich immer mehr in Richtung von Orwell’s Vision bewegt.
Die Menschenrechts-Advokatin Sarah Brooks, die im internationalen Dienst für Menschenrechte tätig ist, stellte anschliessend die Frage, ob die UNO mit ihrem System der Menschenrechte Anlass zur Hoffnung geben könne. Sie sieht insofern positive Signale, als sich einzelne Länder gegen den chinesischen Einfluss zu wehren beginnen und damit der Druck auf China zunimmt. Dazu trage auch der internationale Tag für die Opfer von Zwangsverschleppungen bei. Die Tibeter/-innen selbst sind in der Beurteilung der UNO unterschiedlicher Auffassung. Die einen betrachten sie als wirkungslos, die anderen als ein wichtiges Organ.
Garnett Genius, ein Mitglied des kanadischen Parlaments und der dortigen Tibet-Parlamentariergruppe warnt vor der Gefahr, dass bei uns die finanziellen Interessen überwiegen, wir deshalb die Verletzung von Grundrechten in Kauf nehmen und so unsere Seele verkaufen. Mit anderen Worten: Wir müssen entscheiden, welchen Preis wir für den Schutz der Menschenrechte zu zahlen bereit sind.
Tashi Phuntsok, der Vertreter des Dalai Lama im Tibet-Büro von Brüssel, stellte seinerseits die Frage, ob China allein an der Entwicklung zur Welt von Orwell schuld sei oder ob wir nicht eine Mitschuld tragen. Wenn nämlich eine Demokratie nicht mehr in der Lage ist, legitime Anliegen ihrer Bürger/-innen zu beantworten, werden autoritäre Alternativen attraktiv.
Im Schlusswort warnt Präsident Dr. Lobsang Sangay, was heute in Tibet passiere, sei keine tragische Ausnahme, sondern könne auch uns passieren, besonders wenn sich einzelne Länder dem Druck Chinas beugen, doch: «Wir sitzen alle im gleichen Boot».
Zum Schluss wurde als Resultat der Tagung eine Resolution mit einem Forderungskatalog verabschiedet.
Die Teilnahme am Geneva Forum wurde zu einer tiefbewegenden, betroffen machenden und erkenntnisreichen Erfahrung, die in vieler Hinsicht die Augen öffnete. Es war unmöglich, nicht von den Beiträgen der Referentinnen und Referenten bewegt oder berührt zu werden. Menschenrechtsexperten/-innen, Wissenschaftler/-innen, Aktivistinnen und Aktivisten, Mitglieder zivilgesellschaftlicher Gruppen, Regierungsvertreter, Diplomaten und Betroffene kamen zu Wort und liessen keinen Zweifel am Ausmass, der Tragweite und Skrupellosigkeit der Expansions- und Unterdrückungspolitik Chinas. Besonders die Gefahr durch Missbrauch mittels High-Tech-Methoden zur totalen Überwachung und Verfolgung wurde dramatisch bewusst. Allerdings wurde auch deutlich, dass die Vereinten Nationen und die einzelnen Staaten ihrer Verantwortung nicht nachkommen, die Einhaltung der Menschenrechte von China vehement einzufordern. China, das auf unfassbare Weise Menschen unterdrückt, kontrolliert und willkürlich kriminalisiert, wird nicht zur Rechenschaft gezogen. Viele Volksvertreter, Geschäftsführer und Institutionen erliegen der Verführung von Reichtum, Macht und Erfolg, die eine Zusammenarbeit mit China verspricht, ungeachtet der Mittel und Gewalt, auf denen solche Gewinne beruhen, ausschliesslich angetrieben von Eigennutz.