„Irren Götter nie, Eure Heiligkeit?“ Interview mit dem Dalai Lama

12. Januar 2014

Focus, 9.12.13
Das geistliche Oberhaupt der Tibeter, der Dalai Lama, lobt den neuen Papst und hofft in der Tibet-Frage auf 400 Millionen chinesische Buddhisten.
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„Sie müssen sich durchchecken lassen“, sagt Tempa Tsering, Repräsentant des Dalai Lama in Indien, ein wenig verlegen. „Das will die indische Security so.“ Zwei junge Tibeterinnen stellen einen altmodischen grünen Wandschirm auf. Dahinter streichen sie uns eine Sekunde lang über den Körper, werfen für eine weitere Sekunde einen Blick in unsere Handtaschen, und das war’s. Nur das Handy sollen wir ausschalten. Dann geleitet uns Tempa Tsering in einen Empfangsraum des Dalai Lama. Der geistliche Führer der Tibeter ist in einer Jugendherberge von Rohini, einem Vorort von Neu-Delhi, abgestiegen. Wie immer bei längeren Aufenthalten in Indiens Hauptstadt wohnt er in diesem Gebäude zusammen mit rund 230 tibetischen Studenten, die in Delhi ein Studium absolvieren.

Wir warten über eine Stunde: Seine Heiligkeit empfängt gerade Buddhisten aus China und den USA. Dann dürfen wir in den Audienzsaal. Der Dalai Lama begrüsst uns mit Handschlag, während glückselig lächelnde Besucher den Raum verlassen. „Näher, näher“, sagt er und bietet uns einen Platz auf dem Sofa ganz dicht neben sich an.

Eure Heiligkeit, Sie sind der beliebteste geistliche Führer der Welt. Jetzt haben Sie einen Konkurrenten in Rom.

Das ist toll. Wir brauchen nämlich neue Führer, die mit beiden Beinen auf der Erde stehen. Geistliche neigen dazu, in ihrem eigenen Kokon zu leben. Wir müssen aber mit der Öffentlichkeit kommunizieren. Ich habe gerade Papst Franziskus geschrieben, nachdem er diesen deutschen Bischof suspendiert hatte. Wie hiess der noch?

Tebartz-van Elst.

Aha, ja. Das war eine sehr gute Entscheidung. Man muss manchmal hart durchgreifen, um die Kirche zu schützen. Wenn Religionsführer Einfachheit predigen, sollten sie selbst auch so leben.

Papst Franziskus hat zeitweise mehr Follower bei Twitter als Sie. Und manche Sätze könnten auch von Ihnen stammen.

Er scheint ein sehr pragmatischer und energischer Mensch zu sein. Ich hoffe, ich kann ihn bei meinem nächsten Italien-Besuch im kommenden Jahr treffen. Ich habe um eine Audienz gebeten.

Er hat einen „Toleranzgipfel“ der Weltreligionen vorgeschlagen. Kann ein solches Treffen wirklich zu mehr Toleranz beitragen?

Also, ich würde jedenfalls daran teilnehmen. Aber wir dürfen uns nicht nur einmal treffen und ein paar Reden schwingen. Wir müssen ernsthaft diskutieren. Mein Vorschlag: Wir sollten ein gemeinsames Gremium bilden, das seine Vertreter immer dann losschickt, wenn sich in einer Region ein religiöser Konflikt anbahnt.

So eine Art religiöse Eingreiftruppe?

Ja, so in etwa. Aber darüber hinaus muss sich jeder Einzelne anstrengen, zu einer Gesellschaft des Mitgefühls beizutragen. Eine solche Gesellschaft ist automatisch friedlicher. Toleranz und Mitgefühl sind leider auch unter Buddhisten nicht selbstverständlich – wie sich in Birma zeigt, wo Mönche Muslime töten. Dabei haben religiöse Führer die Aufgabe, Harmonie herzustellen. Dafür ist Indien übrigens das beste Beispiel. Die indische Regierung wäre auch prädestiniert, eine weltweite Religionskonferenz auszurichten.

Warum radikalisieren sich der Islam und auch der Buddhismus?

Es liegt am fehlenden Wissen über andere Traditionen und Werte und an mangelnden Kontakten. Es gibt nun mal verschiedene Religionen auf diesem Planeten, und damit auch verschiedene Wahrheiten. Das muss man akzeptieren. Aber alle verfolgen doch die gleichen Werte und Ziele: Toleranz, Mitgefühl, Liebe, Vergebung, Bescheidenheit. Nur die Methoden unterscheiden sich.

Religion wird missbraucht, Kirchen verlieren ihre Anhänger. Ist Religion grundsätzlich bedroht?

Oh ja. Von sieben Milliarden Menschen bezeichnet sich eine Milliarde als Atheisten. Das ist deren gutes Recht. Aber auch unter den Übrigen nehmen nicht alle den Glauben ernst. Nur weil einer ein Priestergewand trägt, ist er noch lange nicht religiös. Es fehlt uns eindeutig an moralischen Werten. Der Syrienkrieg, weltweite Korruption sind Belege dafür. Aber ist Moral nur mit Religion möglich, wie manche meinen? Was heisst das für ein Land wie Indien mit vielen Religionen? Und wie erzieht man dann Nichtgläubige zu guten Menschen? In manchen Ländern sehen Christen und Muslime die Religion durch den Säkularismus bedroht. Dabei wäre das doch die Chance, über Ethik zu diskutieren, ohne Buddha oder Gott ins Spiel zu bringen. Man sollte nur darüber reden, wie man eine glückliche Gesellschaft schaffen kann.

Und wie kann man das?

Menschen, die von Kindheit an Zuneigung erfahren haben, sind glücklicher als solche, die darauf verzichten mussten. Diese kämpfen oft ihr ganzes Leben mit Unsicherheit und Misstrauen. Permanente Angst oder Hass schädigen auch unser Immunsystem. Es gibt Übungen, mit denen man sein Mitgefühl trainieren kann und die mit Religion überhaupt nichts zu tun haben. Wir erarbeiten gerade ein neues Unterrichtskonzept, das zu einer säkularen Erziehung passt. Das ist die einzige Hoffnung!

Wäre die Welt friedlicher, wenn mehr Frauen höhere Positionen hätten? Sie selbst haben erwähnt, der nächste Dalai Lama könnte auch weiblich sein.

Der Buddhismus gibt Frauen die gleichen Rechte. Schon vor 700 Jahren gab es die erste weibliche Reinkarnation eines hohen Geistlichen.

Welche Eigenschaften sollte ein Dalai Lama haben?

Als Erstes müssen die Tibeter entscheiden, ob es überhaupt einen nächsten Dalai Lama geben soll, ob diese jahrhundertealte Institution noch erhaltenswert ist. Wenn ich 90 bin, soll es ein Treffen der buddhistischen Führer dazu geben. Wenn sie sich dafür entscheiden, dann ist die Frage, wie er bestimmt wird. Traditionell durch Reinkarnation oder sogar nach dem Muster der Papstwahl. Ein weiblicher Dalai Lama müsste jedenfalls attraktiv sein. Am besten eine natürliche Schönheit, denn eine Nonne darf sich ja nicht schminken…

Der Dalai Lama lacht sein typisches glucksendes Lachen und macht Bewegungen, als ob er sich die Lippen anmale und die Brauen zupfte. Er sitzt im Schneidersitz auf seinem Sessel, die blauen Gummi-Flip-Flops hat er ausgezogen. Hinter ihm thront in einer Vitrine die Figur des erleuchteten Buddha. Davor steht ein elektrischer Lotus, dessen Blütenblätter ständig die Farbe wechseln.

… Aber egal, ob weiblich oder männlich – ich möchte keinen nichtsnutzigen Dalai Lama als Nachfolger. Er muss sehr diszipliniert sein. Ganz ehrlich: Dieses Theater um den Dalai Lama habe ich nie so ernst genommen. Ich halte nicht allzu viel vom Lama-System. Einige wiedergeborene Lamas sind eher eine Blamage … mit Sex- und Geldskandalen.

Der deutsche Papst Benedikt XVI. hat Treffen mit Ihnen abgesagt oder Sie allenfalls informell getroffen – mit Rücksicht auf bessere Beziehungen zu China. Politiker agieren ähnlich. Ist das Ihr Schicksal: Alle finden Sie nett, aber konkrete Hilfe in der Tibet-Frage bleibt aus?

Regierungen können auch nicht viel tun. Meine Hauptaufgabe besteht jetzt ohnehin darin, menschliche Werte und Harmonie zu verbreiten. 2011 habe ich mich ja aus der politischen Verantwortung zurückgezogen. Auch wenn ich natürlich weiterhin mit ganzem Herzen in die Tibet-Frage involviert bin. Mein Interesse gilt der Erhaltung der tibetischen Kultur und der Weiterentwicklung des tibetischen Buddhismus. Bis zu meinem Tod.

Die Erhaltung der Kultur ist aber nicht von der Politik und dem Verhältnis zu China zu trennen.

In China gibt es mittlerweile 400 Millionen Buddhisten, inklusive vieler Parteifunktionäre…

… wie Staatspräsident Xi Jinping?

Keine Frage, seine Familie ist buddhistisch. Kürzlich traf ich in New York 30 chinesische Schriftsteller. Sie haben sich sehr besorgt über die moralischen Zustände in China geäussert. Einige meinten, das sei in 5000 Jahren Geschichte jetzt der Tiefpunkt. Ihre einzige Hoffnung: Der Buddhismus, nur er könne die moralische Krise lösen. Wann immer ich in Indien predige, hören Hunderte Chinesen zu.

Bisher durften Sie nicht nach China reisen. Vor Kurzem kam ein Vorschlag aus der kommunistischen Partei in Peking, Sie wenigstens nach Hongkong oder Macao zu lassen. Würden Sie akzeptieren?

Das war in einer Schrift der Parteihochschule, kein Regierungsvorschlag. Viele Geschäftsleute, Studenten und pensionierte Beamte wollen aber tatsächlich, dass ich nach China komme und dort Vorlesungen halte. Und Xi Jinping halte ich für umsichtig und pragmatisch. Er kämpft mutig gegen Korruption, reformiert das Justizsystem. Das sind positive Zeichen. Aber es ist zu früh, um zu beurteilen, was das für die Menschenrechte bedeutet. Wenn Chinas Regierung mich nach Hongkong einlädt, wäre ich glücklich…

Und wenn Sie nach Tibet dürften – unter der Bedingung, auf politische Äusserungen zu verzichten?

Würde ich ja sagen. Ich habe mich freiwillig zurückgezogen, warum sollte ich mich wieder in der Politik engagieren? Das wäre ein sicheres Zeichen, dass ich betrunken wäre.

Haben Sie eigentlich schon mal Alkohol probiert?

Nein, das ist für buddhistische Mönche verboten.

Nicht mal einen kleinen Schluck?

Ha, Sie wollen mich wohl auf den Geschmack bringen. Erst ein kleines, dann ein grösseres Schlückchen . . .

Er lacht schallend und formt mit den Händen die Grösse von Schnapsgläsern nach.

Was macht Sie für die chinesische Führung so gefährlich?

Sie fürchten mich als Konkurrenz, dass ich eine grössere Populrität als sie haben könnte. Einige Chinesen schlugen mir vor, Präsident zu werden. Aber daran bin ich nun wirklich nicht interessiert.

Human Rights Watch warnt davor, dass die tibetische Kultur bald ausgelöscht sein könnte.

Ich glaube, es ist fast unmöglich, sie auszulöschen. Die tibetische Kultur ist seit Urzeiten dort angesiedelt. Der Geist und der Glaube der Tibeter sind stark.

Viele junge Tibeter sind aber wütend und verzweifelt. Schon 123 haben sich verbrannt, um so gegen Diskrimierungen zu protestieren. Warum können Sie die Selbstverbrennungen nicht verhindern?

Das ist ausserhalb meiner Kontrolle. Es ist politisch heikel. Was ich auch sage, wird von der chinesischen Regierung manipuliert. Was kann ich den Verzweifelten auch anbieten? Nichts. Wir müssen in der Tibet-Frage realistisch bleiben. Ich habe schon bei unserer Flucht 1959 gedacht, dass die Lösung noch Generationen dauern wird.

Ist Ihre Tibet-Politik gescheitert? Deren Kernpunkte sind Gewaltlosigkeit und Autonomie.

Als wir diese Politik 1974 beschlossen haben, war uns klar, dass wir an Gesprächen mit der chinesischen Regierung nicht vorbeikommen und die Forderung nach Unabhängigkeit unrealistisch ist. Seit 2007 gibt es aber keinerlei Fortschritt. Nur in der Öffentlichkeit und unter Intellektuellen zeigt sich seit drei Jahren ein erstaunliches Phänomen. Über 1000 Artikel wurden veröffentlicht, die unsere Politik des „Mittleren Weges“ für ein autonomes Tibet unterstützen.

Was war Ihr grösster Fehler, oder irren Götter nie?

Ich bereue nichts. Alle meine wichtigen Entscheidungen waren richtig, zum Beispiel, dass ich mich mit 76 Jahren aus der Politik zurückgezogen habe.

Da Sie als politischer Führer sozusagen in Pension sind: Haben Sie nun mehr Zeit zum Lesen?

Lesen? Ich stehe jede Nacht um drei Uhr auf, dann meditiere ich fünf Stunden. Dabei denke ich nach. Dann rezitiere ich, danach treffe ich Besucher. Abends gehe ich um sechs oder sieben schlafen. Das ist meine tägliche Routine. Für buddhistische Mönche gibt es kein Abendessen, dafür Frühstück und Mittagessen. Das ist gesund.

Es ist länger her, seit Sie die deutsche Kanzlerin getroffen haben. Wollen Sie sie bei Ihrem geplanten Deutschlandbesuch im nächsten Jahr sehen?

Sehr gern, aber es liegt bei ihr. Ich möchte ihr keine Schwierigkeiten bereiten. Ich betrachte sie als langjährige Freundin. Sie gewann meine Sympathie, als chinesische Medien sie eine Hexe nannte, nachdem sie mich, den Teufel, getroffen hatte. Seitdem es mit dem Handel aufwärtsgeht, ist sie keine Hexe mehr, aber ich bin noch immer ein Teufel. Und da ich immer weniger Haare habe, können Sie auch meine Hörner sehen.

Der Dalai Lama beginnt zu tänzeln. Mit funkelnden Augen hält er seine Zeigefinger an den kahl geschorenen Kopf – wie die Hörner eines Teufels. Mit dieser Geste verabschiedet sich ein lebender Gott.$

 

Der Spiegel, Nr. 50/2013: Fahnenträger

Der Dalai Lama, 78, fühlt sich von Mazo Zedong ermächtigt, die tibetische Fahne zu zeigen. Das sagte der spirituelle Führer der Tibeter während eines Treffens mit japanischen Parlamentariern in Tokio. Die Botschaft richtete sich wohl eher an die Adresse der chinesischen Besatzungsmacht in Tibet. Seine Heiligkeit berichtete, Mao habe ihn 1954 bei einem Treffen gefragt, ob Tibet eine eigene Flagge habe, was er bejaht habe. Der chinesische Revolutionär habe geantwortet: „Gut, dann müssen Sie die neben der Nationalflagge hissen.“ Die Tibet-Flagge ist heute ein Symbol für den Freiheitskampf und wird als solche von den Chinesen abgelehnt. Der Dalai Lama gilt der Führung in Peking als „Spalter“ und „Wolf in Mönchskutte“. In den vergangenen Wochen ist es wiederholt zu Gewalt von chinesischen Soldaten gegen Tibeter gekommen, die sich weigerten, die chinesische Flagge zu hissen.