Kampf um Deutungshoheit: Der Beginn des chinesischen Zeitalters

5. September 2017

Von Mark Siemons 

Wie würde es sich äussern, wenn der Westen seine Deutungsmacht abgibt? Vielleicht darin, dass er sich von anderen Mächten neu erfinden lässt. Der Konflikt der Universität Cambridge mit Peking ist ein Testfall.

Bisher konnte man sich nicht leicht vorstellen, wie es sein wird, wenn das westliche Zeitalter endet, wenn die eine Leitmacht die andere abgelöst haben wird. In welcher Art Kultur werden wir dann leben? Werden wir plötzlich von ganz fremden Ideen und Figuren besetzt sein? Seit der letzten Woche haben wir eine Ahnung davon, dass es in Wirklichkeit noch etwas anders sein könnte.

Die Nachricht schien erst mal nur eine Fussnote zu der schon bekannten Tatsache zu sein, dass sich die Zensur in der Volksrepublik China unter Präsident Xi Jinping immer weiter ausbreitet. Die „Cambridge University Press“, der älteste Verlag der Welt und bis heute einer der international bedeutendsten Orte für wissenschaftliche Veröffentlichungen, gab bekannt, dass die für Publikationsimporte zuständige Behörde in Peking von ihr verlangt habe, den Zugang zu 315 missliebigen Artikeln aus dem Archiv ihrer Zeitschrift „The China Quarterly“ im chinesischen Internet zu sperren. Und noch etwas gab der Verlag bekannt: Er habe dem Verlangen entsprochen. Um nämlich „sicherzustellen, dass andere wissenschaftliche und pädagogische Materialien, die wir veröffentlichen, Forschern und Dozenten auf diesem Markt zugänglich bleiben“.

Zwischen Triumph und Unbehagen

Das war am Freitag vorvergangener Woche. Am Montag danach nahm der Verlag in einer neuen Erklärung seine Entscheidung zurück: Er habe die Sperrung der Artikel wieder aufgehoben. Um nämlich „das Prinzip der akademischen Freiheit hochzuhalten, auf die die Arbeit der Universität gegründet ist“. In der Zwischenzeit hatte es jede Menge Proteste und zwei Petitionen gegeben. Von einer „aussergewöhnlichen Kapitulation“ gegenüber China war da die Rede und davon, dass Cambridge „für ein paar chinesische Regierungs-Dollar seine Seele verkauft“ habe: „Pragmatisch ist ein Wort dafür, ein treffenderes ist erbärmlich“, twitterte ein Wissenschaftler. Der an der Peking-Universität lehrende amerikanische Ökonom Christopher Balding setzte eine Petition auf, in der die bald mehr als tausend Unterzeichner dem Verlag mit einem Boykott drohten, wenn er seine Selbstzensur nicht zurücknehme: „Als Wissenschaftler glauben wir an den freien und offenen Austausch von Ideen und Informationen über alle Themen, nicht nur die, mit denen wir übereinstimmen.“

Auf entsprechend grosse Erleichterung und Zustimmung traf die Selbstkorrektur der Universität, auch seitens inoffizieller Stimmen in China selbst. „Es ist ein Triumph der Moral“, schrieb der Pekinger Historiker Zhang Lifan auf Weibo, dem chinesischen Twitter. Doch bei vielen anderen ist ein tiefsitzendes Unbehagen geblieben. Der amerikanische Sinologe Andrew J. Nathan meint, dass der Ruf Cambridges nicht wiedergutzumachenden Schaden erlitten habe. Kein Autor könne künftig mehr sicher sein, dass der Universitätsverlag bereit sei, die Integrität seiner Arbeit zu verteidigen; deshalb habe er, Nathan, der Redaktion von „The China Quarterly“, die ihrerseits gegen die Selbstzensur Stellung genommen hatte, geraten, sich ein neues Verlagshaus zu suchen.

Ein Verdacht kommt auf: Womöglich ging es von vornherein gar nicht in erster Linie um die Zensur, sondern um die stillschweigende Verwandlung einer Institution, die auch in China für einige der besten Dinge steht, die der Westen zu bieten hat: Wissenschaft, Diskussion, Öffentlichkeit. Die Etiketten wollten die Zensoren offenbar behalten, sonst hätten sie die fraglichen Artikel auch einfach selber löschen können, ohne die Universität um ihre Mitarbeit zu bitten. China wünscht sich ein Cambridge und einen Westen, die so aussehen wie bisher, wie der allseits respektierte, bewunderte, weltweit für Normen und Prinzipien sorgende Universalismus, der von ihnen ausgeht – einzig mit der winzig kleinen Modifikation, dass alles, was mit der Herrschaft der neuen Macht im Widerspruch steht, daraus getilgt wird. Und dass der frühere Westen selbst sein Einverständnis dazu gibt. Eine „neutralisierte Simulation von ,China Quarterly‘ für den chinesischen Markt“ sei das Ergebnis der Operation, schrieb der Historiker James A. Millward in einem offenen Brief. Der Ökonom Greg Distelhorst und die Politikwissenschaftlerin Jessica Chen befürchteten, die „zensierte Geschichte Chinas werde fortan das Siegel der Universität von Cambridge“ tragen.

Es geht ums Prinzip

Die grundsätzlichste Analyse liefert ausgerechnet die „Global Times“, eine Zeitung der Kommunistischen Partei Chinas, die kein offizielles Sprachrohr der Regierung ist, aber so gut mit den Pekinger Führungskreisen vernetzt, dass sie deren Gedankengänge meist präziser als andere wiedergibt. Ob dieser oder jener wissenschaftliche Artikel der „China Quaterly“, heißt es dort, im chinesischen Internet zu finden sei, sei letztlich nicht so wichtig; in Wirklichkeit gehe es um eine „Prinzipienfrage“. Die weltweite Dominanz der westlichen Werte habe auf der Macht des Westens beruht; nun aber werde China mächtig und erwerbe die Fähigkeit, seine eigenen Interessen zu behaupten. „Das eigentliche Thema ist: Welche Prinzipien spiegeln am besten die Zeit, in der wir leben? Das hier ist ein Machtspiel. Nur die Zeit wird zeigen können, wer richtigliegt.“

Dafür, dass es sich um eine Machtprobe handelt, spricht in der Tat die Willkürlichkeit bei der Auswahl der 315 Artikel, deren Zensur verlangt wurde. Ein „Zensor mit Selbstachtung“, twitterte ein junger Politologe aus Oxford, müsste sich eigentlich dafür schämen. Offenbar hat eine Suchmaschine die Liste zusammengestellt und dabei bloss die Themen der Artikel erfasst, übliche Verdächtige wie Tibet, Taiwan, Tiananmen-Massaker, Falun Gong oder Kulturrevolution, andere hochsensible Themen wie den Grossen Sprung nach vorn, die Funktionärskorruption oder die Demokratiefrage aber sträflich vernachlässigt, wie der Politologe bemerkt. Offensichtlich ging es also gar nicht um irgendeinen speziellen Inhalt, sondern um die Zurichtung der dahinterstehenden Institution.

Wer spielt die entscheidende Rolle?

Und plötzlich kann man es sich ganz gut vorstellen, wie es sein wird, wenn sich die Gewichte der Welt verschieben. Es könnte sein, dass das nach-westliche Zeitalter erst mal fast genauso aussehen wird wie das westliche – nur dass dieser Westen mit seinem Universalismus sich dann nicht mehr selbst gehört, sondern einem anderen grösseren Ganzen eingegliedert ist. Die westliche Kultur und ihre Werte behalten nach aussen hin ihre Attraktivität und Nützlichkeit, verlieren aber ihre Kraft, aus sich selbst heraus zu wirken. Und ihr Selbstvertrauen: Bei der vorläufigen Bereitschaft Cambridges zur Kollaboration spielte das Bewusstsein, Repräsentant eines Prinzips zu sein, offenbar nicht die entscheidende Rolle.

Früher dachte man, die Ausbreitung der vom Westen gelieferten Ideen und Informationen werde unweigerlich zur Ausbreitung auch des Westens selbst führen – und falls der Beweggrund, den grössten Teil des im Verlag bereitgestellten Wissens für das chinesische Publikum verfügbar zu halten, ausser dem kommerziellen auch irgendein ideelles Element hatte, dann ist es dieses. Doch jetzt hat man eher den Eindruck, dass es nicht unbedingt der Westen als politische, ökonomische oder ideelle Grösse ist, der sich dabei durchsetzt, sondern seine in den Dienst anderer gestellte Simulation.

Das neue Selbstbewusstsein

Seinen umfassendsten Ausdruck fand das frühere westliche Selbstbewusstsein im Wort vom „Ende der Geschichte“, das der amerikanische Politikwissenschaftler Francis Fukuyama nach dem Fall der Berliner Mauer im Zeichen der universellen Unüberbietbarkeit des demokratisch-liberalen Prinzips gekommen sah. Jetzt überliefert der britische Publizist Gideon Rachman in seinem neuen Buch „Easternisation“ eine Anekdote, die dieses ideengeschichtliche Kapitel zu einem pointierten Abschluss bringt. Er erzählt von einem Empfang in der Grossen Halle des Volkes in Peking, bei dem eine prominente Auswahl von Intellektuellen, Milliardären und ehemaligen Ministerpräsidenten aus dem Westen wie eine Klasse Schulkinder in ein höfisches Zeremoniell eingespannt wird, an dessen Ende ihr Xi Jinping einen Vortrag über die fünftausendjährige Geschichte Chinas hält. Zuvor aber schüttelt er einigen Vertretern persönlich die Hand – und Francis Fukuyama ist unter ihnen. „Ich habe ihn berührt“, flüstert er. Rachman kommentiert das nicht weiter, doch diesen Versuch eines halb ironischen Vorbehalts kann man auch als Eingeständnis einer Realität verstehen, die Fukuyama nicht vorausgesehen hatte. So wie Hegel in Napoleon den Weltgeist zu Pferde vorüberreiten sah, muss der neue Prophet des Posthistoire im händeschüttelnden Parteichef den Beweis dafür erkennen, dass die Geschichte weitergeht. Eben die westlichen Prinzipien, die vermeintlich die abschliessende Erfüllung der Geschichte heraufführten, passen sich nun deren Lauf an.

Die chinesischen Denkfabriken untermauern den neuerdings immer deutlicher artikulierten Führungsanspruch Pekings mit seiner Fähigkeit, Ideen, Konflikte und Unterschiede jeglicher Art zu neutralisieren und einzubinden. Xis Formel von der „Chinesischen Lösung“ etwa interpretierte „Qiushi“, das Theoriemagazin der Zentralen Parteihochschule, als die Kunst, alle möglichen Widersprüche unter einen Hut zu bringen. So breche China das westliche Interpretationsmonopol auf die Moderne, ohne die Richtung der Moderne selbst in Zweifel zu ziehen. Tatsächlich wird der westliche Universalismus von den offiziellen chinesischen Denkern meistens nicht konfrontativ bekämpft, etwa indem ihm andere Normen und Prinzipien entgegengestellt werden. Das neue Selbstbewusstsein zeigt sich bisher eher darin, dass die westlichen Ideen benutzt, integriert und dadurch verändert werden.

Unterscheidung zwischen „ihnen“ und „uns“

Das hat eine lange Tradition. Schon der Darwin-Übersetzer Yan Fu, ein Modernisierungs-Pionier im 19. Jahrhundert, ordnete das Lernen vom Westen der praktischen Anwendung zu, während er die „Substanz“ dem chinesischen Lernen vorbehielt. Worin die Substanz besteht, welche Ideen aus dem Fundus der Tradition China zur Geltung bringen will, ist bis heute ungewiss. Doch geblieben ist die strikte Unterscheidung zwischen „ihnen“ und „uns“. „Wir werden nicht länger dem Westen blind folgen, nicht länger den westlichen Diskurs als den Standard betrachten“, sagte kürzlich der stellvertretende Präsident der Parteihochschule. Doch bislang macht sich die Unterscheidung weniger an inhaltlichen Differenzen fest – sowohl der Kommunismus wie der Kapitalismus sind West-Importe – als an purer geopolitischer Macht.

Auch die neuen Seidenstrassen, die China installiert, sind nicht direkt gegen den Westen gerichtet; doch indem sie drei Erdteile in einem Netz ökonomischer Zusammenarbeit einbinden, stellen sie das Gerüst einer neuen Weltordnung dar, in der Amerika und Europa nicht mehr das Zentrum sind. Wer Zugang zum chinesischen Markt haben will, muss sich darauf einlassen, nach chinesischen Regeln zu spielen, und er muss damit rechnen, dass seine Bedeutung abnimmt, wenn der chinesische Partner die jeweilige Kompetenz selbst erworben hat. Dieses Prinzip des Joint Venture scheint auch in der Welt der Ideen zu funktionieren. Und ebenso scheint dort ein eher inoffizielles Verfahren zur Anwendung zu kommen, das in der chinesischen Populärkultur „Shanzhai“ genannt wird. Bezeichnet werden damit massenweise hergestellte Nachahmungen von Markenprodukten, die jedoch nicht den Ehrgeiz haben, mit den Originalen verwechselt zu werden. Durch kleine Veränderungen sowohl in der Struktur als auch im Namen der Produkte (statt Starbucks Bucksstar zum Beispiel) wird halb spielerisch, halb subversiv etwas Eigenes behauptet. Shanzhai nennt sich in China daher selbstbewusst auch „Intelligenz des Volkes“.

So könnte man von einer Shanzhai-Version des Westens sprechen, die nun zu einem Teil Chinas werden soll. Die Frage ist, ob sich der Westen mit dieser Neufassung seiner selbst einverstanden erklärt. Noch ist unklar, wie Peking auf die Kehrtwende bei „China Quarterly“ reagieren wird, und schon wurde auch vom „Journal of Asian Studies“ die Löschung wissenschaftlicher Artikel verlangt. Cambridge war ein Testfall.

 

Frankfurter Allgemeine Zeitung, 30.8.17
Recherchiert von Jan T. Andersson