Wiener Zeitung, 4.2.14, Inna Hartwich –
Fast jeden Tag kommen sie hierher. Morgens sind sie da, mittags auch, am Abend ist kaum noch Platz im Halbrund des Xianghe-Parks im Nordosten Pekings. Im Schatten der Autobahnbrücke geben sich die Männer und Frauen, oft eine bläuliche Maske über Nase und Mund gezogen, dem Schattenboxen hin. Es ist ein Breitensport, wie ihn Chinesen pflegen. Die Alten, die gar nicht so alt sind, aber ab 50 Jahren teilweise in Pension, vertreiben sich die Zeit im Grünen. Die Jugend meidet solche Plätze. In ihrem getakteten Lernalltag hat sie kaum eine Minute für den sportlichen Ausgleich. Nicht einmal der Schulsport ist ausgeprägt in einem Land, das sich vor bald sechs Jahren voller Euphorie in die Olympischen Spiele stürzte. Wochen, die das Land öffnen, ja ändern sollten. „Olympia?“ Die „Boxer“ vom Xianghe-Park haben das Fest kaum noch im Kopf. Vergessen sind die 100 Medaillen für China, kaum der Rede wert die Zigtausenden von Besuchern, die voller Neugierde, auch voller Skepsis auf ihr Land blickten, ihre Stadt, ihre Regierung beäugten.
Und danach? Ernüchterung
Sie hatte einen rasanten Aufstieg hingelegt, gewagte Sportstätten in die Höhe ziehen und Menschen aus ihrem Zuhause vertreiben lassen, hatte immer wieder vor Politisierung der Spiele gewarnt und sie selbst als Propagandamittel genutzt. Seht her, wir haben’s geschafft! Wie, wollt ihr wissen? Natürlich mit der Durchsetzungskraft der Partei. Keine Mühen hatte sie gescheut, um Spiele der Superlative zu liefern, die Sotschi nun übertrumpfen dürfte. Zuhauf finden sich Parallelen. Korruption? Natürlich hatte es sie gegeben, nur sprechen durfte darüber niemand. Jeder, der es öffentlich tat, wurde abgeführt. Dabei hatte Chinas Führung vor den Spielen gelobt, Andersdenkende freizulassen. Zum Teil tat sie es auch, erteilte den Menschen allerdings ein Aufenthaltsverbot für die Hauptstadt.
Gefährliche Arbeitsbedingungen? Auch die waren an der Tagesordnung. Doch haben Chinas Wanderarbeiter auch ohne Spiele – und bis heute – damit zu kämpfen. Körperliche Misshandlung, auch Zwangsarbeit? Über Menschenrechte sprechen Chinesen wie Russen nicht gern. Es ist naiv zu erwarten, die olympische Idee zünde auch den Gedanken an eine freie, eine offene Gesellschaft. Die Angst besonders vor politischen Reformen sitzt bei der russischen Regierung tief. Bei der chinesischen, noch sicherheitsbesessener, löst sie geradezu Panikattacken aus.
„Eine Welt, ein Traum“, hatten die Chinesen 2008 gerufen. Die Hoffnung, die Spiele mögen ein autoritäres Land von Grund auf verändern, war dabei genauso gross wie die Ernüchterung danach. Sicher, die Pekinger haben seitdem eine neue U-Bahn – mag sie für die Massen auch zu klein ausgefallen sein. Sie haben einen riesigen olympischen Waldpark. Grün ist die Stadt dennoch nicht.
Keine Debattenkultur
Die Fabriken aus der Hauptstadt liess die Pekinger Führung kurzerhand in die Nachbarprovinz verfrachten. Der Smog hüllt die Hauptstadt nun von dort regelmässig ein. Journalisten müssen heute nicht mehr vor jeder Umfrage auf der Strasse das örtliche Propaganda-Amt kontaktieren. Doch kaum erklären die Beamten ein Thema für heikel, werden die Recherchen erschwert bis unmöglich gemacht.
Nach Tibet dürfen ausländische Korrespondenten seit dem Tibeter-Aufstand von 2008 gar nicht erst hinein. In Teilen Xinjiangs ist das ähnlich. Durch die Internationalisierung, die die Spiele zwangsläufig mit sich brachten, gewannen viele Chinesen einen kleinen Einblick in die Welt ausserhalb ihres Landes. Eine offenere Debattenkultur gibt es dennoch nicht. Kaum wird sie versucht, unterbindet sie die Partei. Seit Xi Jinping an der Macht ist, sind knapp 200 Aktivisten im Gefängnis verschwunden. Der Staatschef sieht die Stabilität gefährdet.
Chinas Führung hat es nicht geschafft, politisches Vertrauen zu fassen, das System zu öffnen. Jede noch so kleine Freiheit – wenn sie nicht gerade wirtschaftlicher Natur ist – wird als Gefahr für die Deutungshoheit der Partei empfunden. Der einstige olympische Traum ist Xis „chinesischem Traum“ gewichen. Einer Formel, die jeder nach seinem Gutdünken füllt. Träumereien. Den Alten im Xianghe-Park bleibt das Schattenboxen. Die Leistungen der Partei preisen sie immer noch. Wenn auch leise.