Lesen Sie hier den Originalbeitrag von Marco Kauffmann Bossart (Text), Susanne Goldschmid (Bilder), erschienen in der NZZ am 16.05.2024.
«Die einzige Macht, die China fehlt, ist die moralische», sagt der Präsident der tibetischen Exilregierung
Penpa Tsering wirft Peking Geschichtsverfälschung vor. Er anerkennt, dass die Volksrepublik Tibet wirtschaftlich vorangebracht hat. Aber Pekings Denkweise greife zu kurz.
Das geistliche Oberhaupt des tibetischen Buddhismus, der Dalai Lama, ist so berühmt wie der Papst. Nur wenige kennen den politischen Führer Penpa Tsering. Auf Auslandreisen lobbyiert der Präsident der Exilregierung für Autonomie in Tibet, dem 1951 von der jungen Volksrepublik China besetzten Hochland.
Das kommunistische Regime herrscht in der sogenannt autonomen Region Tibet mit eiserner Faust, überwacht Klöster und beharrt darauf, bei der Bestimmung des nächsten Dalai Lama mitzureden. Die atheistische Führung liess gar ein Gesetz verabschieden, wonach seine Reinkarnation in China stattfinden muss. Tibetische Buddhisten glauben, dass der Dalai Lama nach dem Tod wiedergeboren wird und identifiziert werden kann. Der 14. Dalai Lama verkündete, seine Reinkarnation werde in einem freien Land stattfinden. Damit schloss er aus, dass seine Nachfolge in der Volksrepublik China entdeckt wird.
Aus Rücksicht auf Pekings Sensibilitäten werden tibetische Politiker selten von Regierungsmitgliedern empfangen. Umso bemerkenswerter war ein kurzes Treffen von Penpa Tsering Anfang Mai mit dem französischen Staatschef Emmanuel Macron in Paris. In der Schweiz kam der Präsident der Exilregierung mit Mitgliedern der Parlamentariergruppe Tibet zusammen.Zum Interview auf dem Dach eines Berner Hotels begleitet ihn eine mehrköpfige Delegation von Mitarbeitern und Helfern. Der 57-Jährige mustert die verschneiten Bergketten des Berner Oberlands, drückt eine Zigarette aus und ist dann bereit für die erste Frage.Herr Penpa Tsering, die Kriege in Gaza und der Ukraine beherrschen die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit. Ist es überhaupt noch möglich, Interesse für die Nöte der Tibeter zu wecken? Gerade jetzt, wo blutige Konflikte die Welt in den Bann ziehen, ist es wichtig, friedliche Lösungen zu fördern. Seine Heiligkeit, der Dalai Lama, und die Exilregierung streben für Tibet einen gewaltfreien «mittleren Weg» an. Wie sieht dieser Mittelweg aus?Ein autonomer Status für Tibet; nicht nur dem Namen nach, sondern auch in der Realität. Ein Mittelweg entsteht allerdings nur unter folgender Voraussetzung: Man muss anerkennen, dass wir von zwei völlig gegensätzlichen Polen aus starten. Der eine ist der historische Status von Tibet als unabhängiger Staat. Der andere Pol entspricht der gegenwärtigen Situation Tibets unter der repressiven kommunistischen Regierung Chinas.
Peking behauptet, Tibet sei schon immer Teil Chinas gewesen. Sie verwenden viel Energie darauf, diese Darstellung zu entkräften. Wieso ist dieser Kampf so wichtig?
Ganz gleich, ob wir über die Besetzung der Ukraine reden oder über das, was vor siebzig Jahren in Tibet geschah: Es geht um das gleiche Völkerrecht. Tibet wurde gewaltsam besetzt. Nach internationalem Recht sollte diese Besetzung null und nichtig sein. Eigentlich weiss die chinesische Regierung genau, dass sie keine Legitimität hat, Tibet zu regieren. Sonst würden die Kommunisten nicht mit aller Vehemenz versuchen, die internationale Gemeinschaft davon zu überzeugen, dass Tibet schon immer zu China gehört habe.
Während zwölf Jahren herrschte Funkstille zwischen Peking und den Exiltibetern. In Ihrer Amtszeit wurden wieder informelle Gespräche aufgenommen. Wie kam es dazu?
Die chinesische Seite ist Anfang 2023 auf uns zugekommen. Offensichtlich streben sie an, wieder einen offiziellen Kanal für Gespräche zu öffnen. Aber wir verbinden damit keine grossen Erwartungen. Sie müssen nur schauen, was unter Präsident Xi Jinping geschieht.
Auf was spielen Sie an?
Chinas Führung zielt darauf ab, die Identität der verschiedenen Nationalitäten zu zerstören; insbesondere in Tibet. Es wurden Internate eingerichtet, in denen alles auf Mandarin unterrichtet wird. Die Tibetisch-Lektionen wurden auf nur vier Stunden pro Woche reduziert. Die Aufnahmeprüfungen an den Universitäten und die Prüfungen für chinesische Arbeitsplätze sind alle auf Chinesisch. So wird der Wert der Landessprachen verringert und damit das Fundament der nationalen Identität geschwächt.
Ihr Amtsvorgänger sagte vor fünf Jahren, China werde es nie gelingen, die tibetische Kultur zu zerstören. Stimmt das nicht mehr?
Seine Einschätzungen reflektierten die Situation von 2019. Die Situation in Tibet verändert sich, und es gibt Berichte, wonach sie die tibetische Sprache ganz abschaffen könnten. Wenn das passiert, dann wird es für die Tibeter noch viel folgenschwerer. Es würde eine ganze Generation von Tibetern zu Chinesen gemacht. Eine Generation ohne tibetische Identität.
Sie sagen, Chinas Führung verschärfe in Tibet die Repression. Wieso sucht sie dann gleichzeitig den Dialog?
Ich kenne die genauen Gründe nicht, aber ein offensichtlicher Grund ist Seine Heiligkeit, der Dalai Lama. Er ist 88 Jahre alt – und ein baldiger Tod kann nicht ausgeschlossen werden. Peking sorgt sich mehr um den nächsten Dalai Lama als um den lebenden. Die Chinesen wissen, dass sie das tibetische Volk kontrollieren können, sofern sie den nächsten Dalai Lama kontrollieren. Daher habe ich keine Zweifel: China will den nächsten Dalai Lama kontrollieren.
Die chinesische Führung will Einfluss auf die Auswahl des nächsten Dalai Lama nehmen. Beunruhigt Sie das?
Seine Heiligkeit – und nur Seine Heiligkeit – ist verantwortlich für seine Reinkarnation. Er hat 2011 in einem Dokument festgehalten, dass er nach Erreichen seines 90. Altersjahres mehr dazu sagen werde. Da kann die chinesische Regierung gar nichts machen. Zudem: Wir denken nicht, dass ein atheistisches Regime in dieser Frage Glaubwürdigkeit besitzt. Sollte es der chinesischen Regierung wirklich ernst sein mit der Reinkarnation, dann müsste sie zuerst an das Leben nach dem Tod glauben.
Also kein Grund zur Sorge?
Aus den genannten Gründen nicht wirklich. Andererseits: Wir wissen gleichzeitig, dass China versuchen wird, andere Länder zu drängen, seine Sicht der Dinge zu übernehmen – so wie das mit Blick auf die Geschichte Tibets geschieht. Sie setzen dabei all ihren wirtschaftlichen Einfluss ein, um ihre Position durchzudrücken.
Sie haben sich bei Ihrem Amtsantritt das Ziel gesetzt, «die tibetische Frage zu lösen». Das tönt unrealistisch.
Wir streben keine Unabhängigkeit an. Aber trotzdem bezeichnet die chinesische Regierung den Dalai Lama immer wieder als Separatisten. Auch mich nennen sie einen Separatisten. Meine Frage an die chinesische Regierung lautet: Wer will sich von China trennen? Seine Heiligkeit wiederholt wie ein Mantra: Mittelweg, Mittelweg, Mittelweg. Und die Chinesen rufen: Separatist, Separatist, Separatist!
Ist die Annäherung ausgeschlossen, die Tibetfrage unlösbar?
Auf kurze Frist ja. Der Konflikt besteht seit siebzig Jahren. Ich kann nicht zaubern und die Probleme in ein, zwei Jahren lösen. Aber die Dinge ändern sich in China, so viel wissen wir. Präsident Xi Jinping lebt in einer paranoiden Welt, in der er überall Feinde sieht, im Ausland und im Inland. Wenn wir also von der militärischen und politischen Stärke Chinas sprechen, dann kommt sie aus der wirtschaftlichen Position. Die einzige Macht, die China fehlt, ist die moralische.
Aus Pekings Optik hat die kommunistische Führung sehr viel für Tibet getan, die Region nämlich wirtschaftlich vorangebracht.
Das ist ja gut. Nur greift die chinesische Denkweise zu kurz. Sie versteifen sich auf die wirtschaftliche Entwicklung. Das entspricht aber nicht der Realität unserer Natur, unserer Existenz. Die ist mehrdimensional. Was die Menschen also suchen, ist mehr als wirtschaftliche Entwicklung. Du glaubst nicht an einen Gott? Du glaubst nicht an ein Leben nach dem Tod? Das ist in Ordnung. Aber es gilt auch Menschen zu respektieren, die einen Glauben haben. Xi Jinping muss verstehen, dass seine Politik in Tibet auf Ablehnung stösst.
Sie leben im Exil. Wie erfahren Sie, was tatsächlich in Tibet geschieht?
Wir haben unsere Quellen innerhalb von Tibet. Und seit Jahrzehnten überqueren Tibeterinnen und Tibeter das Himalajagebirge und flüchten ins indische Dharamsala, den Sitz der Exilregierung.
Unter den Tibetern wachse Frustration und Zorn über die vertrackte Situation, sagten Sie in einer Rede. Droht eine Radikalisierung?
Ich kann keine Prognosen machen; theoretisch besteht die Gefahr. Aber schauen wir, was tatsächlich geschieht: In Tibet haben sich zwischen 2009 und 2022 ungefähr 160 Tibeter selber verbrannt. Die meisten Menschen, die zu diesem Mittel griffen, waren zwischen 16 und 35 Jahre alt. Sie haben die Unabhängigkeit nie miterlebt. Sie haben die Invasion Tibets durch China nicht miterlebt. Sie sehen nur, was die chinesische Regierung dem tibetischen Volk heute antut. Und dieser Akt der Selbstverbrennung ist ein Akt der Verzweiflung.
In der Diaspora gibt es ein Gefühl der Frustration. Ich kann das nachvollziehen. Als ich jung war, wollte ich mich mit jedem einzelnen Chinesen prügeln. Aber niemand hat sich zu Gewalttaten hinreissen lassen. Wieso? Der Dalai Lama bekennt sich zur Gewaltlosigkeit. Und auch ich habe meine Einstellung radikal geändert. Wo immer wir mit Jugendlichen zusammentreffen, wiederholen wir die Kernbotschaft: Gewalt generiert Gegengewalt.
Penpa Tsering
Als Kind tibetischer Flüchtlinge studierte Penpa Tsering in Indien Wirtschaftswissenschaften. 2021 wählten ihn rund 60 000 Tibeter in über 40 Ländern zum Vorsitzenden der Exilregierung, der sogenannten Central Tibetan Administration. Wie der Dalai Lama, der 2011 seine politischen Funktionen an einen weltlichen Präsidenten abgegeben hat, residiert Tsering im indischen Dharamsala, am Fuss des Himalajagebirges.
Laden Sie hier den Beitrag als pdf herunter.