Frankfurter Allgemeine Zeitung, 2.10.14, Petra Kolonko –
Aller Zensur zum Trotz verbreitet sich die Kunde von der Demokratiebewegung in Hongkong auch im chinesischen Binnenland. Doch Peking hat grössere Sorgen als ein Übergreifen der Proteste – und Präsident Xi Jinping grössere Pläne.
Das war ein denkwürdiger Nationalfeiertag für Hongkong. Während die einen sich vor der chinesischen Flagge verbeugten, probten die anderen einen friedlichen Protest gegen die chinesische Regierung und ihre Hongkonger Statthalter. Seit der Studentenbewegung von 1989 hat sich die kommunistische Regierung in Peking nicht mehr einer solchen Herausforderung gegenübergesehen.
Emotional, idealistisch und ordentlich demonstrieren die Studenten für die Zukunft ihrer Heimatstadt. Es geht ihnen um „echte“ allgemeine Wahlen des Verwaltungschefs, es geht ihnen aber auch darum, wie Hongkong in Zukunft aussehen wird. Wird das Modell „Ein Land, zwei Systeme“ Bestand haben, oder wird die schleichende Unterwanderung von Hongkongs Freiheiten fortgesetzt und Hongkong somit dem Festland immer ähnlicher? Es ist nicht nur die für ihre China-Freundlichkeit bekannte Wirtschaftselite, die die „Besetzung“ mit Skepsis sieht.
Viele der Älteren halten die Aktionen und Forderungen der Studenten für übertrieben oder gar kontraproduktiv. Hongkong geniesst Autonomie, ist rechtsstaatlich verfasst und hat – aus Pekinger Sicht – viele „Sonderrechte“ wie das der Versammlungs- und Meinungsfreiheit. Es ist dank seiner Verflechtung mit dem Festland reich geworden. Man könnte sich mit diesem Status begnügen, anstatt Peking zu konfrontieren.
Eine neue Generation
Doch ist in Hongkong eine neue Generation herangewachsen, die mit dem Pragmatismus der politischen Führung und ihrer Elterngeneration nichts mehr zu tun haben will. Sie ist aufgewachsen in freien und demokratischen Verhältnissen und hat diese zu schätzen gelernt. Das Beispiel der politischen Lage jenseits der Grenze, wo Generationen vergeblich auf Demokratisierung warten, macht ihr Angst. Besonders die Zensur, die, wie jetzt gerade am Beispiel der Berichterstattung über die Ereignisse in Hongkong noch einmal vorgeführt wird, schreckt die jungen Leute ab.
Sie wollen nicht, dass Hongkong wie China wird. Die Studenten lehnen die Formeln ab, die die Widersprüche zwischen den Systemen verdecken und das chinesische System beschönigen sollen. Doch gerade diese Vorgehensweise und die Maximalforderungen der Studenten machen eine Lösung jetzt schwierig. So richtig glauben auch die Studenten nicht, dass sich die mächtige Parteiführung in Peking von Studenten zum Einlenken zwingen lassen wird.
Opposition kommt in Xis Traum nicht vor
Um die Proteste der Studenten zu beenden, brauchte es Kompromissbereitschaft auf beiden Seiten. Kompromiss ist aber ein Wort, das im Wortschatz von Parteichef Xi Jinping nicht vorkommt, zumindest dann nicht, wenn es um politische Gegner geht. Xi Jinping ist gerade dabei, für sich eine Machtposition aufzubauen, die China seit Deng Xiaoping und Mao Tse-tung nicht mehr gesehen hat. Er will die Kommunistische Partei an der Macht halten und versucht dazu, die auseinanderstrebenden Kräfte unter Kontrolle zu bringen.
Sein „chinesischer Traum“ sieht eine Opposition nicht vor. Vielmehr hält er sich ganz an die Vorgaben der Altvordern. Er will ein Einparteiensystem, in dem die Grenzen für bürgerliche Beteiligung eng gesetzt sind und das China oder zumindest das, was die Partei dafür hält, zusammenhält. In Xinjiang und Tibet gibt es Unruhen und separatistische Bewegungen, die von Peking mit harter Hand unterdrückt werden. Das de facto unabhängige Taiwan soll sich auf eine Wiedervereinigung einstellen. Und für Hongkong gibt es die Formel „Ein Land, zwei Systeme“, und das ist aus der Sicht der chinesischen Führung schon ein grosses Zugeständnis.
Furcht vor weiterer Abspaltungsbewegung
Vielleicht mehr als ein Übergreifen von Protesten auf das chinesische Binnenterritorium fürchtet Peking eine Abspaltung von Hongkong. Auch deshalb legt es so viel Wert darauf, dass die Kandidaten für den Verwaltungschef Hongkongs von der Pekinger Führung gutgeheissen werden. Sie will nach Taiwan, Xinjiang und Tibet nicht noch eine Abspaltungsbewegung riskieren. Das Referendum in Schottland hat sie noch einmal aufgeschreckt.
Für die Studenten bedeutet dies, dass die Aussichten auf einen Erfolg nicht gut sind. Die Pekinger Regierung und ihre Hongkonger Verwaltung hatten mehr als ein Jahr Zeit, sich auf die angekündigte „Occupy“-Bewegung vorzubereiten. Es bleibt zu hoffen, dass sie sich eine Strategie überlegt haben, diese friedlich zu beenden.
Je länger die Bewegung dauert, desto grösser wird die Gefahr, dass sie ausser Kontrolle gerät oder von Kräften unterwandert wird, die ein Interesse an einer Radikalisierung der Positionen haben. Der Hongkonger Kardinal Zen, den niemand beschuldigen könnte, Peking-freundlich zu sein, und der die Bewegung anfangs unterstützte, hat die Studenten aufgefordert, nach Hause zu gehen. Sie hätten ihre Botschaft vermittelt, und nun sei es an der Zeit, sich zurückzuziehen.
Die Studenten haben einen Sieg aber schon errungen. Trotz Zensur hat sich die Nachricht von ihrer Bewegung auch im Binnenland verbreitet. Sie setzen so ein grosses Beispiel für die Demokratie in China und zeigen, dass sie auf freundliche und gewaltfreie Art funktionieren kann.