Erklärung S.H. des DALAI LAMA am 10. März 1999 zum 40. Jahrestag des tibetischen Volksaufstandes
Anlässlich des 40. Jahrestages des tibetischen Volksaufstandes von 1959 grüsse ich meine Landsleute in Tibetebenso wie im Exil und all unsere Freunde, Unterstützerinnen und Unterstützer in der ganzen Welt.
Vier Jahrzehnte, in denen wir innerhalb und ausserhalb Tibets unseren Kampf um Freiheit fortgesetzt haben, sindvergangen, seit wir ins Exil gingen. Vier Jahrzehnte machen einen erheblichen Anteil eines Menschenlebens aus. Viele der Tibeterinnen und Tibeter, die 1959 in Tibet blieben und auch diejenigen, denen damals die Flucht gelang, sind inzwischen tot. Heute tragen die zweite und die dritte Generation der Tibeterinnen und Tibeter mit ungebrochener Entschlossenheit und unbeugsamem Geist die Verantwortung für den Freiheitskampf.
Während der vierzig Jahre im Exil hat die tibetische Gemeinschaft einen Prozess zunehmender Demokratisierung durchlaufen und gewaltige Fortschritte im Bildungswesen gemacht. Ausserdem ist es uns gelungen, unsereinzigartiges kulturelles und religiöses Erbe zu bewahren und zu fördern. Unsere Leistungen auf all diesen Gebieten werden inzwischen von der internationalen Gemeinschaft anerkannt und geschätzt. Diese Leistung ist der Entschlossenheit und dem Einsatz des tibetischen Volkes zu verdanken. Allerdings wäre unser Erfolg ohne diegrosszügige Unterstützung vieler internationaler Hilfsorganisationen und Einzelpersonen nicht möglich gewesen. Ganz besonders dankbar sind wir dem Volk und der Regierung Indiens für ihre unübertroffene Grosszügigkeit und Gastfreundschaft, die bis in die Amtszeit des verstorbenen Premierministers Jawaharlal Nehru zurückgeht, der den tibetischen Flüchtlingen Asyl gewährte und Programme für die Erziehung und den Aufbau unserer Exilgemeinschafter liess.
Während der gleichen vierzig Jahre stand Tibet vollständig unter der Kontrolle der Regierung der Volksrepublik China und die chinesischen Behörden hatten freie Hand beim Regieren unseres Landes. Die70.000-Zeichen-Petition des verstorbenen Panchen Lama von 1962 stellt eine aufschlussreiche historische Dokumentation der drakonischen chinesischen Politik und Aktionen in Tibet dar. Die ungeheure Zerstörung und das menschliche Leid, das in Tibet wenig später während der Kulturrevolution fortgesetzt wurde, sind heute weltweitbekannt und ich möchte nicht bei der Schilderung dieser traurigen und schmerzhaften Ereignisse verweilen. Im Januar 1989, wenige Tage vor seinem plötzlichen Tod, stellte der Panchen Lama darüber hinaus fest, dass der unter China erlangte Fortschritt Tibets das Ausmass der Zerstörung und des Leidens, das dem tibetischen Volk zugefügt wurden, nicht wettmachen könne.
Obwohl eine gewisse Entwicklung und wirtschaftlicher Fortschritt in Tibet stattgefunden haben, sieht sich unser Land weiterhin fundamentalen Problemen gegenüber. Was Geschichte, Kultur, Sprache, Religion, Lebensweise und geografische Bedingungen angeht, so bestehen grosse Unterschiede zwischen Tibet und China. DieseUnterschiede führen aufgrund unterschiedlicher Werte, abweichender Anschauungen und gegenseitigem Misstrauen zu schwerwiegenden Konflikten. Die chinesischen Behörden reagieren auf die geringsten Anzeichen von Dissens mit Gewalt und Repressionen, was überall in Tibet zu schweren Menschenrechtsverletzungen führt. Diese offensichtlichen Rechtsbrüche zielen klar darauf ab, die Tibeterinnen und Tibeter daran zu hindern, auf die eigeneKultur und Identität als Volk zu bestehen und den Wunsch, diese zu bewahren. Daher sind Menschenrechtsverletzungen in Tibet häufig das Ergebnis rassistischer und kultureller Diskriminierung und nurS ymptom und Folge eines grundlegenderen Problems. Die chinesischen Behörden haben die eigenständige Kultur und Religion Tibets als die Wurzel des tibetischen Widerstands und Dissens identifiziert. Daher zielt ihre Politik darauf ab, diesen integralen Kern der tibetischen Zivilisation und Identität zu zerstören.
Nach einem halben Jahrhundert „Befreiung“ ist die Tibetfrage immer noch sehr aktuell und harrt ihrer Lösung. Offensichtlich nützt diese Situation niemandem, weder Tibet noch China. Auf diesem Weg weiterzugehen, trägtweder dazu bei, das Leiden des tibetischen Volkes zu lindern, noch fördert es Stabilität und Einheit in China oder verschafft China international einen besseren Ruf oder ein besseres Image. Die einzig vernünftige und verantwortungsbewusste Möglichkeit, das Problem anzugehen, liegt im Dialog. Es gibt keine realistische Alternative dazu.
Mit dieser Erkenntnis diskutierte und entschied ich Anfang der siebziger Jahre gemeinsam mit meinen dienstälteren Mitarbeitern die Hauptpunkte meiner Annäherung des „Mittleren Wegs“. Als ein Ergebnis unserer Konsultationen entschied ich mich für eine Lösung der Tibetfrage, die weder die Unabhängigkeit Tibets, noch seineTrennung von China erfordert. Ich glaube fest daran, dass es möglich ist, eine politische Lösung zu finden, dieinnerhalb des Rahmens der Volksrepublik China die Grundrechte und Freiheiten des tibetischen Volkes garantiert. Mein Hauptanliegen sind das Überleben und der Erhalt des einzigartigen spirituellen Erbes Tibets, das auf Mitgefühl und Gewaltlosigkeit beruht. Und ich glaube daran, dass es sich lohnt und von Nutzen ist, dieses Erbe zubewahren, da es auch in unserer heutigen Welt aktuelle Relevanz besitzt.
In diesem Sinne antwortete ich sofort, als Deng Xiaoping Ende 1978 die Bereitschaft signalisierte, mit uns in einen Dialog zu treten. Seither hat es in unserer Beziehung zur chinesischen Regierung viele Missverständnisse und Kehrtwendungen gegeben. Leider hat ein Mangel an politischem Willen und Mut auf seiten der chinesischen Führung dazu geführt, dass meine vielen Angebote in den vergangenen Jahren ohne positive Antwort geblieben sind. Daher endete unser formeller Kontakt mit der chinesischen Regierung im August 1993. Doch wurden später Kontakte über Privatpersonen und einige halb-offizielle Kanäle geknüpft. Während der vergangenen anderthalb Jahre schien ein informeller Kanal gut und zuverlässig zu arbeiten. Ausserdem gab es einige Anzeichen dafür, dass Präsident Jiang selbst ein Interesse an der Tibetfrage bekundet hatte. Während seines Chinabesuchs im Juni vergangenen Jahres sprach US Präsident Clinton mit Präsident Jiang auch über Tibet. Auf einer gemeinsamen Pressekonferenz wünschte Präsident Jiang eine öffentliche Erklärung von mir zu zwei Bedingungen, ehe Gespräche und Verhandlungen wiederaufgenommen werden könnten. Wir teilten unsererseits Präsident Jiang mit, dass ich bereit sei, auf seine Erklärung zu antworten und schlugen vor, vor der Veröffentlichung eine informelle Konsultation abzuhalten. Leider haben wir diesbezüglich von chinesischer Seite keine positive Antwort erhalten.
Im vergangenen Herbst verhärtete sich ohne ersichtlichen Grund die chinesische Haltung zum Dialog und mir gegenüber. Dieser abrupte Wechsel ging einher mit einer neuen Runde verstärkter Repressionen in Tibet. Das ist der aktuelle Stand unserer Beziehungen zur chinesischen Regierung.
Unsere Erfahrungen der vergangenen Jahrzehnte zeigen deutlich, dass beschönigende formelle Erklärungen, offizielle Rethorik und politische Tunlichkeit allein wenig dazu beitragen werden, das Leid der betroffenen Menschen zu lindern oder das eigentliche Problem zu lösen. Ebenso klar ist, dass man Menschen mit Gewalt nur körperlich kontrollieren kann. Allein mit Vernunft, Fairness und Gerechtigkeit kann man Herz und Geist der Menschen für sich gewinnen. Was jetzt vonnöten ist, sind politischer Wille, Mut und eine Vision, um den Hauptgrund des Problems anzugehen und es ein für allemal zur Zufriedenheit und zum Wohl der Beteiligten zu lösen. Sobald wir eine für beide Seiten akzeptable Lösung der Tibetfrage gefunden haben, werde ich, wie ich seit Jahren eindeutig erkläre, keine offizielle Stellung mehr bekleiden.
Der Hauptgrund des Tibetproblems resultiert nicht aus den unterschiedlichen Ideologien, des sozialen Systemsoder der Konflikte, die beim Aufeinanderprallen von Tradition und Moderne entstehen. Auch sind es nicht allein dieMenschenrechtsverletzungen. Die Wurzel der Tibetfrage liegt in der langen, eigenständigen Geschichte Tibets,seiner eigenständigen und alten Kultur und seiner einzigartigen Identität.
Wie 1978 ist auch heute die Wiederaufnahme des Kontakts und des Dialogs der einzige vernünftige und gangbare Weg, um dieses komplexe und schwerwiegende Problem zu lösen. Die Atmosphäre tiefen Misstrauens zwischen Tibetern und Chinesen muss überwunden werden. Ein solches Misstrauen wird nicht über Nacht verschwinden. Es wird sich nur durch direkte Kontakte und aufrichtige Gespräche allmählich auflösen.
Ich habe das Gefühl, dass die chinesische Führung sich manchmal durch ihr eigenes Misstrauen selbst behindert, sodass sie die aufrichtigen Bemühungen meinerseits nicht zu schätzen weiss, handle es sich nun um die Lösung der Tibetfrage oder um irgendein anderes Thema. Ein solches Beispiel ist meine beharrliche und langjährige Aufforderung über die Notwendigkeit, die Umweltsituation in Tibet zu respektieren. Seit langem warne ich vor den Konsequenzen einer mutwilligen Ausbeutung der fragilen Umwelt auf dem tibetischen Hochplateau. Das tue ich nicht aus egoistischem Interesse an Tibet. Im Gegenteil. Es hat sich bereits deutlich herausgestellt, dass jedes ökologische Ungleichgewicht in Tibet nicht nur Tibet in Mitleidenschaft zieht, sondern alle angrenzenden Gebiete in China und sogar in dessen Nachbarsländer. Es ist traurig und bedauerlich, dass es erst der schrecklichenÜberschwemmungen des vergangenen Jahres bedurfte, damit Chinas Führung den Nutzen von Umweltschutz erkannte. Ich begrüsse das Moratorium zur Abholzung der Wälder auf tibetischem Gebiet und hoffe, dass solcheMassnahmen, auch wenn sie sehr spät kommen mögen, der Auftakt für weitere Schritte zur Erhaltung des sehr prekären ökologischen Gleichgewichts in Tibet sein mögen.
Meinerseits verpflichte ich mich weiterhin dem Prozess des Dialogs als Mittel, das Tibetproblem zu lösen. Ich strebe nicht die Unabhängigkeit Tibets an. Ich hoffe auf den Beginn von Verhandlungen und darauf, dass sie dann zu echter Autonomie des tibetischen Volkes, zum Erhalt und der Förderung seiner kulturellen, religiösen und sprachlichen Integrität sowie seiner sozio-ökonomischen Entwicklung führen werden. Es ist meine aufrichtige Überzeugung, dass meine Vorgehensweise des „Mittleren Wegs“ zur Stabilität und Einheit der Volksrepublik China beitragen und das Recht des tibetischen Volkes, in Freiheit, Frieden und Würde zu leben, sichern wird. Ich kann versichern, meine moralische Autorität dazu zu verwenden, die Tibeterinnen und Tibeter davon zu überzeugen, keine Spaltung von der Volksrepublik China anzustreben, wenn eine gerechte und faire Lösung der Tibetfrage gefunden ist.
Als ein freier Fürsprecher des tibetischen Volkes versuche ich mein Bestes, um die chinesische Regierung zu Verhandlungen über die Zukunft des tibetischen Volkes zu bewegen. Bei diesen Bemühungen ermutigt und inspiriert mich die Unterstützung sehr, die wir von vielen Regierungen, Parlamenten,Nicht-Regierungs-Organisationen und der Öffentlichkeit in der ganzen Welt erhalten. Ich bin ihnen für ihr Interesse und ihre Unterstützung sehr dankbar. Ganz besonders möchte ich auf die Bemühungen von Präsident Clinton und seiner Regierung hinweisen, die chinesische Regierung dazu zu ermutigen, Gespräche mit uns aufzunehmen. Ausserdem erhalten wir weiterhin starke Unterstützung beider Parteien des US Kongresses.
Die Not des tibetischen Volkes und unser gewaltfreier Kampf für Freiheit berührt die Herzen und das Gewissen vieler Menschen, die Wahrheit und Gerechtigkeit schätzen. Seit dem vergangenen Jahr hat das Bewusstsein für dieTibetfrage auf internationaler Ebene nie zuvor erreichte Ausmasse angenommen. Interesse und aktive Unterstützung für Tibet sind nicht mehr auf Menschenrechtsorganisationen, Regierungen und Parlamente beschränkt. Universitäten, Schulen, religiöse und soziale Gruppen, Personen aus dem künstlerischen und wirtschaftlichen Leben ebenso wie Menschen aus vielen anderen Bereichen haben den Zugang zum Verständnis desTibetproblems gefunden und versichern uns jetzt ihre Solidarität. Als ein Ergebnis des zunehmenden öffentlichenInteresses haben viele Regierungen und Parlamente das Tibetproblem zu einem wichtigen Punkt auf der Tagesordnung ihrer Beziehungen mit der chinesischen Regierung erhoben.
Ausserdem konnten wir unsere Beziehungen zu unseren chinesischen Brüdern und Schwestern in der Demokratie-und Menschenrechtsbewegung vertiefen und erweitern. Ebenso haben wir freundschaftliche und herzliche Verbindungen zu chinesischen Buddhistinnen und Buddhisten sowie zu Chinesinnen und Chinesen in Übersee und in Taiwan knüpfen können. Die Unterstützung und Solidarität, die wir von unseren chinesischen Brüdern und Schwestern erhalten, sind eine Quelle grosser Inspiration und Hoffnung. Ganz besonders ermutigt und bewegt haben mich jene mutigen Chinesinnen und Chinesen in China, die Druck auf ihre Regierung ausübten oder öffentlich einen Wandel in der chinesischen Politik dem tibetischen Volk gegenüber forderten.
Heute befindet sich die tibetische Freiheitsbewegung in einer stärkeren und besseren Position als je zuvor und ich glaube fest daran, dass trotz der gegenwärtigen Kompromisslosigkeit der chinesischen Regierung die Aussichten auf Fortschritt bezüglich der Aufnahme bedeutsamer Gespräche und Verhandlungen besser sind denn je. Deshalb appelliere ich an Regierungen, Parlamente und unsere Freunde, ihre Unterstützung und ihre Bemühungen mit frischem Einsatz und neuem Elan fortzusetzen. Ich glaube, dass solche Zeichen internationaler Betroffenheit und Unterstützung ganz wesentlich sind. Sie sind von entscheidender Bedeutung, weil sie der Führung in Beijing die Dringlichkeit des Tibetproblems vor das Auge führen und sie dazu drängen, die Tibetfrage ernsthaft und konstruktiv anzugehen.
Mit meiner Huldigung all jener tapferen Männer und Frauen Tibets, die für unsere Freiheit gestorben sind und mit einem Gebet für ein schnelles Ende des Leidens unseres Volkes.
Der Dalai Lama.
übernommen von The Tibet Bureau, Office of the Representative of H.H. the Dalai Lama