Interview mit S.H. dem Dalai Lama

S.H. der Dalai Lama
S.H. der Dalai Lama

Der 14. Dalai Lama, das im nordindischen Exil lebende religiöse und weltliche Oberhaupt der Tibeter, wurde kürzlich von der Zeitschrift Asia Week als einer der 50 wichtigsten Männer Asiens genannt. In der Tat ist der energische 62jährige „einfache Mönch“, als den er sich selbst bezeichnet, rund um die Uhr für alle politischen und religiösen Belange im Zusammenhang mit Tibet sehr gefragt; die Vorbesprechungen für das nachfolgende Interview zogen sich über vier Monate hinweg.

Eure Heiligkeit, seit Sie 1959 von Tibet fliehen mussten, sahen Ihre Bemühungen um eine Lösung der Tibet-Frage mehr Rückschläge als Erfolge. Trotzdem kennt man Sie als jemanden, der nie seinen Optimismus und Sinn für Humor verloren hat. Wie kommt das?

Nun, zunächst glaube ich nicht, dass unsere Sache mehr Rückschläge als Erfolge zu verzeichnen hat. Dann denke ich ständig an all die Tibeterinnen und Tibeter, die in ihrem Land über so viele Jahre hinweg unter schwierigsten Bedingungen ausharrten und dennoch Frieden im Geist bewahren konnten.

Und wieso das?

Ich bin überzeugt, dass neben anderen Faktoren der Hauptgrund in der buddhistischen Denkweise liegt, wie das auch für meine Situation zutrifft. Der Umgang mit Schmerz ist ganz wichtig. Natürlich kann man Schmerz nicht verleugnen, wenn er da ist. Aber dennoch ist es möglich, mit diesem Gefühl so umzugehen, dass es nicht den ganzen Geist durcheinanderbringt. Zudem sehe ich seit Anfang der sechziger Jahre ein weltweit wachsendes Bewusstsein für das Tibet-Problem, was mir Grund zu Optimismus gibt. Und auch in China selbst entwickelt sich in zunehmendem
Masse ein Interesse für Tibet. Gerade kürzlich hat mir eine Tibeterin, die von einem Besuch zurückkehrte erzählt, wie in verschiedenen Regionen Chinas der tibetische Buddhismus gedeihe und sich vermehrt offen Praktizierende fänden. Ich denke, dass diese Menschen damit zurück zum Glauben in Wahrheit und Gerechtigkeit und in die eigene „innere Schönheit“ finden. Das braucht natürlich seine Zeit. Zur Erlangung weltlicher Macht sind Waffen bestimmt ein wirksameres Mittel. Aber die Erlangung innerer Kraft erreicht man nur auf dem Weg der Wahrheit. Die Kraft, die von Waffen ausgeht, ist sehr direkt eine Frage der Quantität. Nicht so die Kraft, die von der Wahrheit ausgeht. Es gibt keine „kleine“ oder „grosse“ Wahrheit. Gleich verhält es sich mit unserem Anliegen: Es spielt keine Rolle, ob China gross und Tibet klein ist; die Wahrheit bleibt letztendlich die gleiche. Und an die Kraft, die daraus resultiert, glaube ich.

In Nepal, wo mehr als 15’000
tibetische Flüchtlinge leben, hat das Volk im Mai eine kommunistische Mehrheit ins Parlament gewählt; China wächst, indem es Hong Kong zurückerhielt und von den USA erneut zur meistbegünstigsten Handelsmacht ernannt wurde. Wie sehen die Anliegen der Tibeter in einem solchen Umfeld aus?

(überlegt lange) Mein Plan, oder eher: meine Vision ist ja, dass wir unsere Freiheit nicht auf dem Weg der Gewaltanwendung wiedererlangen, sondern durch Erwecken von Verständnis für unsere Sache. Aus diesem Grund zeigen wir keine Bereitschaft zur Konfrontation mit China, sondern arbeiten am Ausbau von freundschaftlichen Beziehungen und Vertrauen, was am Ende sicher sinnvoller und hilfreicher als Gewaltanwendung ist. Meine ganzen Versuche der Annäherung an China basieren auf der Entwicklung von Verständnis für unsere Probleme, ohne dabei von einer Unabhängigkeit Tibets zu sprechen, da dies für die chinesischen Führer schwer – sehr schwer zu akzeptieren ist. Von unserem Standpunkt aus ist Tibet nach wie vor ein Entwicklungsland: materiell rückständig – obwohl wir auf der anderen Seite spirituell reich sind – sehr reich (lacht). Aber das ist eben „nur“ Reichtum im geistigen Sinne, der unsere nicht unsere Mägen zu füllen vermag. Also müssen wir Tibet entwickeln, was sehr schwierig ist. Tibet ist ein grosses Land mit einer geringen Bevölkerungsdichte, schwieriger Kommunikation und aber gleichzeitig umfangreichen
natürlichen Ressourcen. Wenn wir mit einem unserer grossen Nachbarn – wie z.B. China – auf fairer Basis zusammenarbeiten könnten, würde das beiden Seiten grosse Vorteile bringen. Eines meiner weiteren Hauptanliegen ist die Bewahrung des einmaligen tibetischen kulturellen Erbes, das ich „buddhistische Kultur“ nenne. In dieser Kultur liegt grosses Potential – nicht nur zum Wohl des tibetischen Volkes, sondern für den ganzen Himalaya-Raum und bis in die Mongolei im Norden. Nicht zu vergessen, wie ich vorhin sagte, auch zum Wohl des chinesischen Volkes, das in den letzten Jahren vermehrt zum – tibetischen – Buddhismus zurückzufinden begann. Ich denke, dass die tibetische buddhistische Kultur nicht nur in der Vergangenheit lebt, sondern auch heute noch relevant ist und ganz besonders auch China dienen kann. Die tibetische Kultur darf nicht dem Untergang preisgegeben, sondern muss meiner Ansicht nach um jeden Preis bewahrt werden.

Aber was konkret signalisiert für Sie Nepals Entscheid zu einer kommunistischen Mehrheit?

Ich habe Verständnis für diese Entwicklung, wenngleich es sich damit eher kompliziert verhält. Als ich 1956 im Rahmen einer Pilgerfahrt an einer buddhistischen Feier in Indien teilnahm, wurde ich von einigen anwesenden nepalischen Kommunisten freudig als einer der ihren begrüsst, da ich ja aus dem kommunistisch besetzten Tibet stammte… Und tatsächlich würde ich mich selbst auch heute noch als zur Hälfte Marxist und zur Hälfte Buddhist bezeichnen, da die reine marxistische Wirtschaftstheorie nach wie vor eine gewisse Anziehungskraft auf mich ausübt. Es geht dabei ja hauptsächlich um die gleichmässige Verteilung von Gütern und nicht um das Erzielen von Profiten. Von diesem Gesichtspunkt aus folgt das heutige China nicht mehr dem Marxismus, da es innerhalb Chinas zu grosse Gräben zwischen arm und reich gibt. Aber die marxistische Theorie vermag natürlich auch auf die Armen weltweit eine gewisse Faszination auszuüben; In Nepal und Indien, wie auch in den USA. Als ich dort
einmal vor schwarzen Jugendlichen sprach, sagte ich dass es meiner Ansicht nach o.k. sei wenn jemand ein paar Millionen Dollar besitze; sobald ein Vermögen aber die Milliardengrenze erreicht, gibt es definitiv keine Entschuldigung mehr, nicht zu teilen… Zuviel Reichtum ist stets die Quelle für Probleme. Beim Marxismus sehe ich dann Probleme, wenn es bei der Errichtung eines totalitären Systems unnötigerweise zur Anwendung von Gewalt und Hass kommt, statt dass Mitgefühl entwickelt würde. So gesehen bin ich natürlich gegen ein totalitäres System, wenngleich ich die sozialistische Idee völlig unterstütze. Gleich erging es auch dem tibetischen Volk, als Anfang der 50er Jahre die ersten Soldaten der chinesischen Volksbefreiungsarmee in Tibet einmarschierten: Die Tibeter waren positiv von deren Ideologie überrascht und glaubten an den Vorteil der versprochenen Reformen. Ich kann daher auch heute gut nachvollziehen, weshalb gerade die Landbevölkerung in einem derart armen Land wie Nepal auf Verbesserungen durch das sozialistische System hofft.

In der Vergangenheit hat das europäische Parlament wiederholt offen Sympathie für die tibetischen Anliegen gezeigt. Aber Kommissionen und Reden vermochten die Situation in Tibet nicht zu verändern. Was erhoffen Sie sich von der europäischen Gemeinschaft heute?

Nun, wahre Veränderungen in Tibet wird es erst dann geben, wenn in China selbst Veränderungen stattgefunden haben. Weder die EU noch die USA vermögen die Situation in Tibet direkt zu verändern. Wenn also z.B. die EU zu Verbesserungen in China beiträgt, fährt dies in der Folge auch zu
Verbesserungen unserer Situation. Und ich meine: zweifellos findet in China ein Prozess statt, gibt es laufend Veränderungen. Täglich. Und die Spitzen der kommunistischen Führung sind sich ganz klar bewusst, dass das totalitäre System langsam am Verschwinden ist und nie mehr zurückkommen wird. Gleichzeitig sind sie sich auch darüber im klaren, dass wenn sie jetzt zu viele politische Freiheiten ausgeben, dies zu einem Chaos führen würde, wie es in der ehemaligen UdSSR herrscht. Gerade was Tibet anbelangt bevorzuge ich schrittweise Veränderungen in der kommunistischen Partei Chinas, damit ohne grosses Chaos wahre und stabile Verbesserungen eintreten. Das ist der beste Weg, um viel menschliches Leiden zu verhindern.

…Sie erhoffen sich also gar nicht allzuviel von Europa?

Nein, nein, ich habe immer betont, dass wir internationale Unterstützung brauchen. Wir brauchen Stimmen – konstante Stimmen der Betroffenheit und der Unterstützung. Stimmen, die für die Einhaltung der Menschenrechte sprechen, für religiöse Freiheit und Stimmen für den entführten Panchen Lama. Wir brauchen Leute, die für den Erhalt unseres kulturellen Erbes eintreten, für Umweltschutz usw. Betroffenheit muss so lange zum Ausdruck gebracht werden, bis tatsächlich Veränderungen in der chinesischen Denkweise eingetreten sind. Die Zeit mag verstreichen, aber die Betroffenheit für Tibet muss bleiben. Aber: Die wahre Unterstützung für Tibet geht heute weltweit eher von Volk und Medien aus denn von den Regierungen; Regierungen müssen immer wirtschaftliche und politische Gesichtspunkte in Betracht ziehen… Und auch von gebildeten Chinesen, die sich mit der Problematik auseinandersetzen, erhalten wir zunehmende Unterstützung. Das ist echte Hilfe.

Braucht es zur Lösung der Tibet-Frage nicht mehr als nur Worte? Denken wir an Konflikte wie in Kuwait und auf dem Balkan…

Das, glaube ich, ist in Bezug auf Tibet unrealistisch. Und ich würde meinen, dass es den Verantwortlichen – gerade bei den europäischen Interventionen in Afrika – doch mehr um europäische als um afrikanische Anliegen ging (lacht). Aber das ist ja wohl Teil der menschlichen Natur… Beim Vergleich von Problemen in Afrika mit der Tibet-Frage findet man gewisse -Ähnlichkeiten im Bezug auf die Reaktion der Weltöffentlichkeit – und aber auch einen sehr wichtigen Unterschied: Die Präsenz der Grossmacht China. Ein Boykott, wie er gegen Südafrika zur Anwendung kam, würde auf China nie dieselben Auswirkungen zeigen. Zudem hat Tibet keine Erdölvorkommen aufzuweisen… Dennoch: obwohl die meisten Nationen heute Tibet als Teil Chinas sehen, zeigen sie anhaltende Betroffenheit. Wir rechnen also gar nicht erst mit irgendeiner dramatischen Art von Hilfe wie der Entsendung einer Armee oder wirtschaftlichen Sanktionen gegen China. Denn die Schwierigkeit liegt ja darin, dass die Sanktionen nicht nur von den USA, sondern auch von Europa und Japan kommen müssten. Und das ist eher unwahrscheinlich. Das beste ist, wenn Kompromisse auf dem Verhandlungsweg erreicht werden können – denn niemand wird China einfach so zu einem Rückzug aus Tibet bewegen können. Und Tibet ist gross genug, selbst für die Siedlerströme aus China – insofern damit die Umwelt nicht belastet und die tibetische Kultur nicht gefährdet würden. Heute müssen wir eben mehr global als nur gerade national denken.

Geht dieses Zuwarten nicht auf Kosten der Identität des tibetischen Volkes und seines Erbes, die jetzt seit einer vollen Generation im Exil bewahrt werden?

Stimmt. Vor allem, was die Kultur innerhalb Tibets angeht. Die Tibeter sind – gerade in den grösseren Städten – zu einer Minderheit im eigenen Land geworden. Ihr ganzer Lebensstil hat sich zudem verändert. Deshalb müssen wir unsere Anstrengungen jetzt eben voll und ganz auf die Bewahrung unserer Kultur im Exil richten.

Beobachter haben verschiedentlich die tibetische Exilregierung als die „erfolgreichste aller
exilierten Organisationen“ bezeichnet. Ist das weil Sie sich auf weitere 40 Jahre im Exil vorbereiten?

Ich meine, in vielen Bereichen haben wir in den letzten Jahren doch grosse Fortschritte erzielt, die uns auch in Zukunft dienen werden. Aber andererseits müssen wir uns eingestehen, dass gerade in der gegenwärtigen, jungen Generation von Tibetern grosse Mängel im Bezug auf die Kenntnis der eigenen Kultur und Geschichte herrschen. Da haben wir in der Vergangenheit Fehler gemacht, die es zu korrigieren gilt. Wenn wir in dieser Beziehung Verbesserungen erreichen, ist das kulturelle überleben einiger kommender Generationen im Exil gesichert. Das Motto dabei lautet: „Hoffe das Beste, sei auf das Schlimmste gefasst“. Selbst als es Ende der siebziger und Anfang der achtziger Jahre zeitweise so aussah als wäre Beijing zu Verhandlungen bereit, warnte ich meine Leute vor zu verfrühten Hoffnungen. Und auch hier in Dharamsala sehen wir uns der Kritik ausgesetzt, sobald Bauarbeiten im Gange sind. Aber auch da kann ich nur betonen: Es ist besser, auf das Schlimmste gefasst zu sein…

Bei all ihrer Kritik an den Menschenrechtsverletzungen erklärten die USA erneut China zur „Meistbegünstigsten Handelsmacht“. Was waren Ihre Gefühle, als Sie kürzlich „halboffiziell“ im Weissen Haus zu Gast waren und Clintons Sympathiebezeugungen entgegennahmen?

Ich muss zunächst betonen, dass mir die Definition „offiziell“ oder „halboffiziell“ nicht so wichtig ist. Was zählt, ist das Gespräch an sich. Dies war der dritte Besuch beim Präsidenten und auf der menschlichen Ebene kommen wir uns mit jedem Mal näher, lernen uns besser kennen, werden gute Freunde. Wir dürfen nicht vergessen, dass die USA bereits vor vier Jahren mit der Kritik an der Menschenrechtssituation gewisse Vorbedingungen an China gestellt hat, die Druck ausüben sollten. Das hat keine Wirkung gezeigt und auch nicht zu einer weltweiten „Vereinigung“ in dieser Sache geführt. Ich glaube auch nicht, dass weitere Massnahmen von US-Seite der Sache dienen. Die konstante Ausübung von noch mehr Druck würde schliesslich so weit eskalieren, dass es zum bewaffneten Konflikt käme… und dass dies eine gute Lösung wäre, denke ich nicht. Das würde tiefe Wunden in den sino-amerikanischen Beziehungen hinterlassen. Selbst wenn wir in der Zwischenzeit viel Leid zu ertragen haben: eine Lösung kann nur durch Gespräche erzielt werden. Die effektivste Art, China zu beeinflussen liegt darin, Freundschaft aufzubauen und Misstrauen
zu beseitigen. Nur so funktioniert das langfristig. Es muss so lange verhandelt werden, bis Kompromisse erzielt werden; nur so erreichen wir eine Lösung der Menschenrechts- und Tibet-Frage ohne „Nebenwirkungen“. Der neue starke Mann Chinas, Jiang Zemin, repräsentiert die post-Revolutionsära. Was können Sie sich von ihm erhoffen? Nun, vielleicht soviel: Wir sollten uns daran erinnern, dass Jiang Zemin 1989, während des Tiananmen-Massakers, Stadtpräsident von Shanghai war. Auch er sah sich zu dieser Zeit mit
grossen Unruhen in seiner Stadt konfrontiert. Aber er schaffte es, die Massen zu beruhigen
ohne dabei einen einzigen Schuss auszulösen. Kommt hinzu, dass er sehr gut Englisch spricht… besser als ich (lacht). Seine Bildung ermöglicht es ihm, die Dinge besser zu
beurteilen als dies in der Vergangenheit der Fall war. Und: Sein Sohn hat in den USA studiert…

Gibt es also begründete Hoffnungen auf einen baldigen sino-tibetischen Dialog?

Ich glaube nicht. Die chinesische Haltung ist nach wie vor hart. China spricht immer noch von „Stabilität“ und „Einheit“, die es mittels Waffengewalt in die Tat umsetzt. Und wie ich schon zuvor sagte, bewirkt die Anwendung von Gewalt keine stabilen, echten Veränderungen. Der Einsatz von Waffen kann für eine bestimmte, kurze Zeit vielleicht o.k. sein. In kommunistischen Ländern dauert diese Phase meist länger…(lacht). Aber: echte „Stabilität“ und „Einheit“ müssen aus dem Herzen kommen. Einige der chinesischen Führer, die für die Unterdrückungspolitik verantwortlich sind, haben während der vergangenen Jahre und Jahrzehnte gehofft, dass wenn sie weiter Druck ausüben, der Dalai Lama eines Tages einfach so verschwinden würde und es dann keinen Widerstand mehr gäbe. Aber das hat sich als völlige Fehlkalkulation erwiesen. Sechs
Millionen Tibeter sind zwar klein in der Anzahl aber dennoch genug, um China einige
Probleme zu schaffen… Und bis heute hören die meisten Tibeter auf meine Stimme. Ein Beispiel: Im Verlauf der Demonstrationen Ende der achtziger Jahre in Lhasa hoben die Tibeter chinesische Waffen vom Boden auf, die Soldaten hatten fallen lassen. Aber die Demonstranten benutzten die Gewehre nicht, um sie gegen die Soldaten zu richten – sondern machten sie ganz einfach unbrauchbar. Das ist wahre Gewaltlosigkeit. Nur auf diesem Weg können wir China dazu bringen, das Tibet-Problem zu lösen. Und wenn wir hiefür eine Lösung gefunden haben, wird sich das auch auf die Probleme Chinas mit Ostturkestan und
Taiwan auswirken. Dann wird es möglich sein, mit Taiwan Verhandlungen über eine
Wiedervereinigung zu führen.

Nachdem alle Ihre Initiativen seit 1979, in Verhandlungen mit Beijing einzutreten, gescheitert sind, schlugen Sie vor drei Jahren ein Referendum vor, das in diesen Tagen zur Durchführung gelangt. Aber tatsächlich bräuchte ein gültiges Referendum ja vor allem die Stimmen von innerhalb Tibets, was nicht möglich ist. Was werden Sie also mit den Stimmen einer exilierten Minderheit anfangen?

Der Plan war, dass wir ja wenigstens die Möglichkeit haben, innerhalb der Exilgemeinschaft ein Referendum offen durchführen
können. Und in der Zwischenzeit sammeln wir Ansichten und Stimmen von innerhalb Tibets. Ein Beispiel: Im vergangenen Winter besuchten mich Menschen aus verschiedenen Regionen Tibets. Das waren sehr einfache, unschuldige Leute; „gewöhnliche“ Leute. Aber sie waren der Überzeugung, dass der von mir vorgeschlagene „Mittlere Weg“ die beste Lösung ist, da sie aufgrund ihrer Erfahrungen in Tibet die realistischen
Möglichkeiten kannten. Das hat mich in meiner Überzeugung der Richtigkeit dieses Weges bestärkt.

Wie hat Beijing auf die Ankündigung des Referendums reagiert?

Offiziell hat es verlauten lassen, dass dies eine
weitere Anstrengung in Richtung Unabhängigkeitsbestrebungen sei. Gerade vor ein paar Wochen stand im Editorial von „China Daily“, dass der Dalai Lama die Unabhängigkeit Tibets anstrebe, obwohl die Tibeter in ihrem Land sehr sehr glücklich seien; dass der Dalai Lama zwar als Sprecher der Tibeter auftrete, in Tat und Wahrheit aber gegen deren Wünsche arbeite (lacht).

Ihre Beauftragte für UN-Beziehungen in Genf hat bestimmt die UNO für Unterstützung bei der Durchführung des Referendums angefragt?

Nein. Das wäre der Sache nicht dienlich. Beijing würde ganz klar auch dieses Anliegen umgehend als Bestrebung zur Unabhängigkeit auslegen und alles blockieren. Das Referendum war von Anfang an so geplant, dass es nur innerhalb der tibetischen Exilgemeinschaft durchgeführt würde. Eine der chinesischen „Anschuldigungen“ lautet ja gerade, dass „der Dalai Lama versuche, die Tibet-Frage zu internationalisieren“. Eine sehr komplizierte Sache…(lacht)

Eure Heiligkeit, wir danken Euch für dieses Interview.

Interview und Übersetzung aus dem Englischen:
Martin Scheidegger, McLeod Ganj, Indien

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