Vision für das Jahr 2000

Vision für das Jahr 2000 – China, Tibet und Aussichten auf Friede

Von S.H. dem 14. Dalai Lama

Ich möchte meine Wertschätzung und den grossen Respekt für die Zähigkeit und Geduld bekunden, die das tibetische Volk angesichts grosser Ungerechtigkeiten zeigt. Die aktuelle Situation in Tibet und das Fehlen jeglichen substantiellen Fortschritts in der Lösung der Probleme Tibets bewirkt zweifelsfrei ein zunehmendes Gefühl der Frustration in breiten Schichten der Tibeter. Es trifft mich zutiefst, dass sich einige davon angezogen fühlen, nach anderen als friedlichen Lösungen zu suchen.

Während ich ihre Zwangslage verstehe, möchte ich nochmals die Wichtigkeit betonen, die der Beibehaltung des gewaltlosen Weges in unserem Bestreben nach Freiheit zukommt. Der Pfad der Gewaltlosigkeit muss auf unserem langen und schwierigen Weg oberstes Prinzip bleiben. Es ist meine tiefste Überzeugung, dass dies auf lange Sicht am gewinnbringendsten und praktikabelsten ist.

Eine Lösung der Tibet-Frage würde weitreichende positive Einwirkungen auf Chinas Ansehen in der Welt haben, eingeschlossen seine Verhandlungen mit Hong Kong und Taiwan.

Die durchgreifenden Veränderungen rund um den Globus haben auch China erreicht. Es gibt keinen Zweifel, dass China heute ein besserer Platz zum Leben ist als noch vor 15 oder 20 Jahren. Es ist meine Hoffnung, dass die chinesische Führung die Voraussicht und den Mut hat, dem chinesischen Volk mehr Freiheit zuzugestehen. Die Geschichte lehrt uns, dass materieller Fortschritt und Komfort alleine nicht die endgültige Antwort auf die Bedürfnisse und Wünsche der menschlichen Gesellschaft sind.

Im Kontrast zu positiven Entwicklungen in China selbst, hat sich die Situation in Tibet in den letzten Jahren stark verschlechtert. Repression – zunächst auf die Klöster ausgeübt – wurde nun ausgeweitet und erstreckt sich über alle Teile der tibetischen Gesellschaft. In einigen Lebensbereichen in Tibet werden wir Zeugen von Einschüchterung, Zwangsmassnahmen und Furcht, was uns an die Tage der Kulturrevolution erinnert.

Der traurige Zustand in Tibet ist weder für Tibet selbst, noch für China gewinnbringend. In der bisherigen Art weiterzufahren vermindert weder das Leiden des tibetischen Volkes noch bringt es Stabilität und Einigkeit in China, was von überaus grosser Wichtigkeit für die Führung in Beijing wäre.

Im Hinblick auf eine akzeptable Lösung der Tibet-Frage ist meine Position sehr einfach: Ich verlange nicht Unabhängigkeit. Wie ich schon viele Male gesagt habe, will ich lediglich, dass dass tibetische Volk die Gelegenheit zu echter Selbstbestimmung erhält, um seine Zivilisation zu bewahren und die einmalige tibetische Kultur, Religion, Sprache und Lebensart zu pflegen und zu entwickeln. Mein Hauptanliegen ist, das Überleben des tibetischen Volkes zu gewährleisten, zusammen mit seinem einmaligen buddhistischen kulturellen Erbe.

Ich nehme die Gelegenheit wahr, die chinesische Führung nochmals auf die Dringlichkeit aufmerksam zu machen, die der Erwägung meiner Vorschläge zukommt. Es ist mein tiefer Glaube, dass Dialog und der Wille, ehrlich und klar auf die tibetische Realität zu blicken, uns zu einer gültigen Lösung bringen kann. Es ist für uns alle an der Zeit, Wahrheit aufgrund von Fakten zu suchen und aus ruhigem und objektivem Studieren der Vergangenheit zu lernen und mit Mut, Zuversicht und Weisheit zu handeln.

Seine Heiligkeit der 14. Dalai Lama

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