Übersicht
Kaum ein Land auf der Welt zeichnet sich durch eine derartige Verknüpfung von Religion und Kultur aus, wie dies Tibet tut. Der Buddhismus erreichte Tibet als letztes asiatisches Land erst im 7. Jahrhundert unserer Zeitrechnung, mithin fast tausend Jahre nach der Geburt Buddhas. Vermischt mit der ursprünglichen Bön-Religion aber bildete sich ein Buddhismus ganz besonderer Art, welcher durch die Abgeschiedenheit Tibets eine tragende Rolle im Leben der Tibeter spielte und noch immer spielt. Dieser Glaube und die tiefe Spiritualität der Tibeter widerspiegelt sich auch in der faszinierenden Kultur, welche Tibet so besonders macht. Aus dieser Religion und dieser Kultur schöpfen die Tibeter die Kraft, die Besatzungssituation zu ertragen, es ist aber auch genau diese Religion und diese Kultur, vor deren Stärke sich die Besatzer derart fürchten, dass sie sie um jeden Preis auszulöschen versuchen.
Kultur und Religion sind das, was ein Volk letztlich ausmacht, ihm seine Individualität und Faszination gibt. Mit den folgenden Artikeln soll deshalb versucht werden, einen kleinen Einblick in die Seele Tibets zu ermöglichen.
Lucius Blattner
11.04.1999
Die traditionelle tibetische Begrüssung
In letzter Zeit stellen wir in der „Tibetszene“ immer wieder fest, dass das Herausstrecken der Zunge als die traditionelle tibetische Begrüssung gilt. Das ist genau so falsch wie die weitläufige Meinung, dass alle Tibeter friedfertige Leute seien. Leider geraten die traditionellen tibetischen Begrüssungsformen bei den Tibetern selbst in Vergessenheit. Nun, welches sind die eigentlichen Formen, mit denen man sich begrüsst? Von den verschiedenen, mit regionalen Eigenarten befrachteten Formen sind folgende allen Tibetern bekannt:
1. Das Überreichen eines Glücksschleiers, der wohlbekannte Khatak. 2. Mit zusammengefalteten Händen, die man auf der Höhe der Brust hält, begrüsst man höhere Lamas oder Respektspersonen. 3. Nahestehende Personen werden durch das Berühren der Stirn begrüsst.
4. Mit der sogenannten „Tscha-bhül schü“ wird hauptsächlich in Zentraltibet gegrüsst. Dabei berühren die Frauen die Fingerspitzen ihrer Hände und machen eine Vorwärtsbewegung auf ihren Begrüssungspartner zu. Gleichzeitig sagt man Tschawä-nang = (Willkommen) oder Khali-phe-go = (Auf Wiedersehen). Die Männer grüssen oft, indem sie ihre Hüte leicht anheben.
5. Neuerdings begnügt man sich mit dem Grusswort „Tashi Delek“
In Tibet existieren also mehrere Begrüssungsformen. Die Frage ist nun, woher wohl das Herausstrecken der Zunge stammt. Hierfür gibt es mehrere Erklärungen, wobei ich es bei drei Möglichkeiten belassen möchte. Die erste Erklärung stammt aus dem 13. Jahrhundert, als die Mongolen den ganzen asiatischen Kontinent beherrschten. Sie hatten grosse Angst vor den Magiern und Schamanen. Deshalb stellten sie die nachfolgende Regel auf, um bei ihren Untertanen feststellen zu können, ob jemand ein Schwarzmagier war oder nicht: In Tibet mussten die Leute ihre Zunge herausstrecken, da nach der damaligen Meinung die Magier durch ihre ständiges Aufsagen von Mantras eine blaue Zunge hatten.
Eine andere Erklärung stammt aus der Zeit von König Lhangdharma (836 – 842) und besagt, dass der König bei genauerem Hinsehen einem Stier glich, also eine bläuliche Zunge und Hörner auf dem Kopf hatte. Deshalb zeigte man die Zunge, um sein Absicht darzutun, dass man kein Nachkomme von König Lhangdharma war. Bei dieser Form ist zu beobachten, dass man mit der rechten Hand kurz an der rechten Schläfe kratzt. Diese Geste soll zeigen, dass man keine Hörner auf dem Kopf hat.
Aber der eigentliche Grund des Herausstreckens der Zunge und des leichten Kratzens an der Schläfe ist ohne Zweifel eine Geste der Verlegenheit. Die Verlegenheit gegenüber einer fremden Person und vor allem eine noch grössere Verlegenheit, wenn diese Person einen höheren gesellschaftlichen Status besitzt. Diese Geste hat sich nun ungewollt von Generation zu Generation weitervererbt und bis in die heutige Zeit überlebt.
Losang Mantoe
05.08.99
Ein Junge will Schamane werden (Buchtipp)
„Sie haben die Klöster ausgeraubt und zerstört und die Mönche gezwungen, in ihre Armee einzutreten. Sie haben die Religion zerstört, wo immer sie sie vorfanden, nicht einmal das Wort des Buddha darf nunmehr erwähnt werden.“ So lautet eine Stelle aus dem Testament des 13. Dalai Lama, in dem er seinen Landsleuten die Mongolei als warnendes Beispiel vor Augen hält, da diese den Kommunismus unterschätzte. Tatsächlich stand die Volksrepublik Mongolei, wie sich die Äussere Mongolei von 1924 bis 1994 nannte, in diesen Jahren unter sowjetischer Vormundschaft, von der sie
sich erst in jüngster Zeit befreite. Liest man Berichte, gar Romane wie den vorliegenden des tuwinischen Schriftstellers Galsan Tschinag „Die graue Erde“ aus dieser Zeit, sind die Parallelen mit Ereignissen in Tibet unübersehbar. Die Schamanen wurden ebenso wie die Mönche und Lamas als rückständig erklärt, Klöster wurden geschliffen oder zu Lagerhäusern umfunktioniert, alles, was nicht dem sowjetischen Ideal von Fortschritt entsprach, war unpatriotisch und musste bekämpft werden.
Was aber geschieht mit einem achtjährigen Jungen, der nicht einmal Mongole, sondern Tuwiner, also doppelt „rückständig“ ist und gar noch Schamane werden will? Sein ältester Bruder, Schuldirektor und ganz im Sinne der Partei handelnd, nimmt ihn gegen seinen Willen mit in die Stadt und steckt ihn in die Schule, wo er den „Weg des Wissens“ beschreiten soll. Er versteht allerdings kein Mongolisch, die Amtssprache, und erklärt – danach befragt, was er werden will – zum Entsetzen aller, dass er Schamane werden möchte. Die Bestürzung ist gross, Flüche werden über ihn gehäuft, selbst sein Bruder muss sich der Kritik der Partei unterziehen. Doch klug wie der kleine Dshurukuwaa ist, nimmt er sich die Warnung zu Herzen und führt fortan ein Doppelleben. Eine Wende tritt erst ein, als ausgerechnet der Lehrer, der ihn am meisten beschimpft hat, in eine ausweglose Situation gerät und den Jungen um seinen schamanistischen Rat befragt, der denn auch zum Erfolg führt. Ein zweifelhafter Erfolg allerdings, auf den der Junge in der Öffentlichkeit nicht stolz sein darf, der ihm aber zeigt, wie doppelzüngig Staatsmoral sein kann.
Trotz der Tragik der Geschichte, trotz der staatlichen Versuche allerorts, die Traditionen der Völker mit allen Mitteln auszumerzen, findet Galsan Tschinag mit seinen an Balladen erinnernden Stil – den Tibeter und Tibetkennern zumindest aus dem Gesar-Epos vertraut sein dürfte, das in der Mongolei eine zentrale Rolle spielt – einen feinsinnigen Humor, der seinesgleichen sucht. Eine Leichtigkeit, die jedoch nichts zu leicht nimmt und einen in der tibetischen zeitgenössischen Literatur vergebens nach Vergleichbarem Ausschau halten lässt. Gerade aus diesem Grund aber sei der vorliegende Roman empfohlen, wenn auch Tibets Geschichte, anders wie die mongolische, noch kein glückliches Ende gefunden hat. Alice Grünfelder Galsan Tschinag: Die graue Erde, Insel-Verlag, 1999