Die Gazelle und der Jäger

«Viele der beliebtesten Fabeln des Kandjur beziehen sich auf ein vorangegangenes Leben des Buddha, auf eine Zeit, wo er noch als Bodhisattva, in der Gestalt verschiedener Lebewesen, die Verdienste seiner guten Taten (sein Karma) ansammelte, um erst dann – in seiner letzten Wiedergeburt – der Buddha unseres Zeitalters zu werden:

In langvergangenen Zeiten, als sich der Bodhisattva noch in einem Zustand unbeendeter Ansammlung verdienstvoller Werke befand, da lebte er als Fürst einer Schar von fünfhundert Gazellen.

Nun hatte ein Jäger viele Fallen, Netze und Fangschlingen vorbereitet, um die Gazellen zu fangen.

Als der Gazellenprinz, der sich unbeschwert seines Lebens erfreute, mit seiner Schar von fünfhundert Gazellen durch den Wald streifte, verfing er sich eines Tages in dem Netz. Sobald die anderen Gazellen ihren Anführer in einem Netz gefangen sahen, flohen sie alle davon mit Ausnahme einer Gazelle, die bei dem Prinzen blieb.

Obwohl sich der Gazellenprinz hart abquälte, um loszukommen, so war er doch nicht imstande, das Netz zu zerreißen. Als die Gazelle dies sah, sagte sie:

„Da der Jäger dieses Netz vorbereitet hat, so strenge dich an, 0 du Gesegneter, strenge dich an, 0 Haupt der Gazellen.“ Er antwortete: „Obwohl ich meine Hufe hart gegen den Boden stemme, so ist doch das Netz, das mich fesselt, stark, und meine Füße sind arg verwundet, ich kann das Netz nicht zerreißen. Was soll nun geschehen?“

Da kam der Jäger an diese Stelle. Er hatte braune Kleider an und trug einen Bogen und Pfeile. Die Gazelle sah, wie der Jäger näher kam, um den Gazellenprinzen zu töten. Als sie ihn so sah, rief sie schnell folgenden Vers: „Da dies der Jäger ist, der dieses Fangnetz vorbereitet hat, strenge dich an, 0 höchst gesegneter Gazellenprinz, strenge dich an.“ Er antwortete ebenfalls mit einem Vers: „Obwohl ich meine Hufe hart gegen den Boden gestemmt habe, so ist doch dieses Netz, das mich festhält, stark und meine Füße sind arg verwundet, ich kann das Netz nicht zerreißen. Was soll nun geschehen?“ Da näherte sich die Gazelle mutigen Herzens dem Jäger und, vor ihm angelangt, sprach sie folgenden Vers: „0 Jäger, ziehe dein Schwert und töte mich zuerst, und dann erst töte den Gazellenprinzen.“ Als der Jäger sie erstaunt fragte, was sie denn mit dem Gazellenprinzen zu tun habe, antwortete sie: „Er ist mein Gatte.“ Da antwortete der Jäger mit einem Vers: „Ich will weder dich noch den Gazellenprinzen töten. Du sollst mit deinem geliebten Gatten weiter zusammenleben.“ Jetzt antwortete die Gazelle ebenfalls mit einem Vers: „Sowie ich mich, 0 Jäger, meines lieben Gatten erfreue, so mögest du, 0 Jäger, dich an allem, was zu dir gehört, erfreuen.“ Der Jäger, dessen Erstaunen immer größer wurde, ging zusammen mit den Gazellen, die er in der Freiheit ließ, weg.»

aus „Perlen alttibetischer Literatur“, B.C. Olschak, Birkhäuser Verlag Basel und Stuttgart

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