Hunde

Der Tibetan Mastiff

In Erzählungen von Reisenden über Tibet schildern die Autoren oft unangenehme Begegnungen mit grossen Hunden, welche die Nomadenzelte beschützen. Sicher konnte man erst sein, wenn die Besitzer die Hunde angebunden hatten. Daraus leitet sich wohl der Begriff Do-Khyi ab, was tibetisch für Anbindehund steht. Der Tibet-Mastiff, Tibet-Dogge oder tibetische Hirtenhund, wie er auch heisst, wird auch in der Schweiz gezüchtet. Der Zuchtwart Thomas Wechsler stellt uns im folgenden diesen Hund vor, der bei uns seine liebenswürdige Seite
zur Geltung bringen darf.mastiff02

Der Mythos Tibet bezieht sich auch auf die Hunderasse des Do-Khyi. Tibets Isolation führte dazu, dass wir erst seit 80 Jahren fundierte Kenntnisse über den tibetischen Hirtenhund haben. Das Bild einer Tibet-Dogge soll aber bereits auf einen Grenzstein aus dem Jahre 1000 vor unserer Zeitrechnung gemeisselt worden sein.

Marco Polo war auf seiner Reise nach China im 13. Jahrhundert offensichtlich sehr beeindruckt von den Hunden in Tibet: «Das Volk dieses Landes besitzt eine Anzahl mächtiger und edler Hunde, die große Dienste beim Fang der Moschustiere leisten. Die Tibeter halten Doggen so gross wie Esel, die vorzüglich zur Jagd wilder Tiere geeignet sind.»

Ein Hund mit vielen Gesichtern

Frei von Übertreibungen und präzis sind die Schilderungen in der kynologischen Literatur, wie sie um die Mitte des 19. Jahrhunderts zu lesen sind.
Martin (1845) und Youatt beschreiben einen typischen Doggentyp mit faltiger Haut: «Am ganzen Leibe bemerkt man eine ungewöhnliche Schlaffheit des Fells. Die Lippen hängen noch mehr (als beim Mastiff), ferner hat er einen viel düsteren Gesichtsausdruck als jener, indem die Haut über den Augen tiefe Falten bildet, die sich über beide Backen herab fortsetzen.» Daneben wird aber auch immer wieder auf die Ähnlichkeit mit dem Neufundländer hingewiesen.
Offensichtlich handelt es sich beim Do-Khyi um eine im Hochland des Himalaja entstandene Form des Haushundes, so wie ähnliche Formen unabhängig voneinander unter ähnlichen Verhältnissen auch anderswo entstanden sind. Der Hund kam allerdings nicht nur in Tibet, sondern auch in den angrenzenden Gebieten in ähnlicher Form vor.
Verschiedene Fachleute halten die Bezeichnung «Mastiff» für den Do-Khyi falsch.

mastiff01Diese Einwände scheinen mir berechtigt, denn sie erwecken eine unkorrekte Vorstellung über Grösse und Aussehen des Hundes. Was wir an Hunde-Ausstellungen als Tibet Mastiff zu Gesicht bekommen, das sind mittelgrosse bis große Hirtenhunde, aber keine Doggen. Die vielen sich widersprechenden Angaben über diesen Hund sind zweifellos dem Umstand zuzuschreiben, dass das, was wir Europäer mit dem Oberbegriff «Tibet Mastiff» bezeichnen, in seiner Heimat keine Rasse in unserem Sinn darstellte, sondern aus einer Vielzahl regionaler Schläge bestand, die im Aussehen recht stark differieren konnten. Da gibt es den black-and-tan-farbigen Hund, die hellcremefarbige, goldfarbige Variante und rötliche Tiere.

Die Aufgaben des Do-Khyi in seiner Heimat

Der Tibeter hielt es in der Zucht seiner Hunde wie der Schweizer Bauer mit den seinen, bevor diese zu Rassen avancierten. Was zählte, war nicht in erster Linie ein schöner Hund, sondern ein guter Hund, der die ihm zugewiesene Aufgabe zuverlässig erledigte und zudem genügsam war. Die Hunde dienten vorwiegend der Bewachung der Herden, Häuser, Klöster und Paläste (siehe Textkasten). Die tibetische Bezeichnung lautet denn
auch «Do-Khyi», was wörtlich übersetzt «Anbindehund» heisst. Bevorzugt wurden die black-und-tan-farbenen Tiere, da diese über den Augen zwei helle Tupfen haben; nach Auffassung der Tibeter ein «zweites Augenpaar», das auch dann noch sieht, wenn der Hund seine Augenlider geschlossen hält.

Um die imposante Erscheinung von Kopf und Mähne noch zu verstärken, wurde dem Anbindehund in der Regel eine buschige Halskrause aus langen, rot gefärbten Yakhaaren um den Hals gelegt. Die oft geschilderte Aggressivität und Wachsamkeit der Hunde war von den tibetischen Haltern durchaus gewünscht. Diese Aggressivität ist jedoch grösstenteils anerzogen. Auch für den Tibethund gilt wie für alle andern Hunderassen: Der Hund wird das, wozu man ihn macht!

Der Hund wurde nicht nur als Wächter gebraucht, sondern auch als Lastenträger. Die Pässe und Bergpfade in Tibet sind zum Teil so schmal, dass nicht einmal mehr Esel und Maultiere als Packtiere eingesetzt werden können, sondern nur noch Schafe, Ziegen und offenbar auch Hunde, wie aus alten Reiseberichten zu entnehmen ist.

Der Do-Khyi im Westen und in der Schweiz

Ab Mitte des 19. Jahrhunderts wurde der tibetische Hirtenhund ab und zu nach Europa gebracht, vorwiegend nach England, das mit seiner indischen Kolonie der Quelle am nächsten war. Hier wurden diese Hunde entweder zum bestaunten Renommierobjekt der gehobenen Gesellschaft oder fristeten ein kümmerliches Dasein in engen Zookäfigen.

Immer wieder gab es in England ernsthafte Versuche einer Do-Khyi-Zucht, die aber versandeten. 1975 musste deshalb die Zucht im Westen neu aufgenommen werden. In dieses Jahr fiel der erste Wurf in den Vereinigten Staaten aus Nepal-Importen. 1979 folgten die Niederlande (Indien-Import, USA- und Nepal-Import). 1980 begann die Zucht in der Schweiz und 1983 in Schweden und Frankreich.

Der erste Do-Khyi, der ins Anhangregister des SHSB Schweiz (Band 77) eingetragen wurde, war die graue Hündin «Muna von Thodung» aus Nepal. Sie blieb bisher ohne Nachkommen.
Ihr folgten 1979 der Black-and-tan-farbene Rüde «Althan», Sohn eines nepalesischen Rüden und einer bhutanesischen Hündin, und 1980 «Ausables Qwan Yin», eine aus amerikanischer Zucht stammende Hündin, die zur «Urmutter» der schweizerischen Do-Khyi-Zucht werden sollte. Unterdessen haben in der Schweiz über 200 Do-Khyis das Licht der Welt erblickt.

Charakter und Haltung des Do-Khyi bei uns

Der Anspruch in Tibet an den Do-Khyi als bissigem Wachhund gilt in unseren dichtbesiedelten Gegenden nicht. Eine wesensmässige Anpassung an unsere Verhältnisse, in denen ein sozial verträglicher Hund gebraucht wird, ist daher Bedingung für die Haltung dieses Hundeschlages hierzulande.

Eine entsprechende Zuchtselektion, die derjenigen der Tibeter diametral entgegenläuft, hat hier in wenigen Generationen bereits erstaunliche Resultate gezeigt. Bisse dürften bei Do-Khyis kaum mehr häufiger vorkommen als bei anderen Rassen. Durch eine angepasste Erziehung und häufigen Kontakt mit fremden Menschen, zu Hause und ausserhalb, kann die «Schärfe» der Hunde durchaus in «landesüblichem» Rahmen gehalten werden.

Über eines allerdings sei man sich im klaren: Der tibetische Hirtenhund ist ein Wachhund und soll es auch bleiben. Er wird bellen, wenn sich etwas Verdächtiges nähert, und oft ist ihm auch Harmloses verdächtig. Er wird Fremde, die in sein Revier eindringen wollen, mit grosser Sicherheit nicht ein -, ganz sicher aber nicht mehr hinauslassen und
sie «festnageln», bis jemand von seinen Leuten kommt. Der Do-Khyi hat sich die Eigenständigkeit, ja manchmal Starrköpfigkeit bewahrt, die allen tibetischen Hunderassen eigen ist. Man kann m

Mastiff

it ihm zusammenleben, aber man kann ihn nicht beherrschen, hündisch im abschätzigen Sinn des Wortes ist er nicht. Er fühlt sich als vollwertiges Mitglied des Rudels, was sich darin äussert, dass er ein starkes Bedürfnis hat, bei «seinen Angehörigen» zu sein. In der Familie entwickelt er sich oft zu einem ausgesprochenen «Schmusetier».

Er ist also nicht der Hund, den man im Park der Villa seine Wächterdienste für sich allein verrichten lässt, und mit dem man sich lediglich bei der Fütterung abgibt. Ein so gehaltener Do-Khyi wird über kurz oder lang zum Problemhund. Er will seine Leute in der Nähe wissen, sie sehen oder zumindest hören. Wenn er sich aus einer ruhigen Ecke jederzeit vergewissern kann, daß alles in Ordnung ist, liegt er gelassen scheinbar träge für Stunden da, falls «sein» Herr seinen Standort nicht verändert.

Der Do-Khyi entwickelt sich langsam, sowohl körperlich als auch wesensmässig. Als unbequeme «Nebenerscheinung» muss man in Kauf nehmen, daß man in der Erziehung eben sehr lange konsequent sein muß, bis eine erwünschte Verhaltensweise wirklich «drin» ist. Eines aber wird man ihm wohl kaum abgewöhnen können: seine Lust am Spiel. Es kommt vor, dass selbst ein würdiger, älterer Hundeherr von seiner Spiellaune übermannt wird. Falls dann kein geeignetes Objekt zur Hand ist, wird eben irgend etwas daran glauben müssen, das eigentlich nicht ihm gehört: ein Kissen, ein Papierkorb, eine Zeitung – er entwickelt da durchaus Phantasie! Der Do-Khyi hat also Charaktereigenschaften, die der zukünftige Besitzer kennen und in seine Lebensgewohnheiten integrieren können muss.

Noch haben sich in den verschiedenen Zuchten die regionalen Ausprägungen des Do-Khyi erhalten. Der Weg zu einem einheitlichen Bild der Rasse dürfte noch Jahrzehnte in Anspruch nehmen und ist nicht ohne Gefahren: Die relativ kleine Zuchtbasis und die darauffolgende enge Zucht wird allfällig vorhandene genetische Defekte unbarmherzig aufdecken. Auch drängen gewisse Ausstellungsrichter die Züchter, Riesenwuchs und Faltenbildung in Augen- und Fangpartie zu forcieren. Was dergleichen Zuchtziele für Folgen haben können, hat die Züchtungsgeschichte anderer Hunderassen zur Genüge bewiesen: Bisher war der Do-Khyi eine ausgesprochen gesunde, robuste Rasse. Möge die Vernunft der Ausstellungsrichter und die Standhaftigkeit der Züchter dafür sorgen, dass es so bleibt!

Der Do-Khyi als Hausklingel, Schloss und Riegel

Dass in Tibet scharfe, aggressive Hunde erwünscht waren, lässt sich im Gespräch mit Tibetern immer wieder feststellen. Um dies zu verstehen, muss man sich ihre Situation vergegenwärtigen: Bei einer mittleren Bevölkerungsdichte von drei Einwohnern pro km2 und zahlreichen Räuberbanden, die in den dünner besiedelten Gebieten ihr Unwesen trieben, musste den Leuten auf dem Land jeder Fremde vorerst einmal suspekt sein. Sie, die keine abschliessbaren Haustüren mit dazugehörender Klingel kannten, hatten deshalb ihr eigenes System entwickelt, um den Zugang zu ihrem Haus oder Zelt zu kontrollieren.

Bei einem Nomadenlager sah es etwa so aus: Die Hunde umkreisten das Lager, einige waren vor den Zelteingängen angekettet. Diese waren damit für Fremde genau so dicht verschlossen wie mit einem unserer Sicherheitsschlösser. Wenn nun Fremde in Sicht kamen, ging das Gebell los. Die Hunde versahen also die Funktion der Hausglocke. Wenn die Fremden das Lager aufsuchen wollten, so blieben sie gute 100 Meter davon entfernt stehen und erklärten in der nötigen Lautstärke den Zweck ihres Besuches. Falls sie im Lager willkommen waren, wurden die Hunde an die Kette gebunden und beruhigt. Der Zugang war frei. Falls die Ankömmlinge aber nicht empfangen werden sollten, liessen die Nomaden ihre Hunde gewähren.

Um nun ihre Wachhunde möglichst scharf zu machen, hatten die Tibeter, abgesehen von einer auf Wachsamkeit ausgerichteten Selektion, ihre bewährten Mittel. Nebst dem frühen Anketten (möglichst schon im Welpenalter) empfehlen sie vor allem, dem Hund viel Blut zu verfüttern, um ihn «böse» zu machen.

Der tibetische Hund des Grafen Szechenyi

Von der Wildheit und Unnahbarkeit der Hunde in Tibet berichtet recht anschaulich der ungarische Graf Szechenyi in der «Deutschen Jagdzeitung», Jahrgang XIV. Szechenyi bereiste 1880 Ostasien und interessierte sich offensichtlich sehr für Hunde. Einem seiner Berichte entnehmen wir folgendes. «Vor Tzung Tza traf ich einen prächtigen tibetischen Hund, den ich nebst zwei anderen nach Europa zu bringen, gedachte. Er hiess Dianga und war außerordentlich wild.
Es brauchte Wochen, bis ich ihn berühren durfte, obwohl ich ihn persönlich fütterte. Bei einem solchen Fütterungsversuch durchbiss er mir die Hand, glücklicherweise an einer Stelle, wo kein Knochen war (…) Auch hatte ich für das bissige Tier Schadensersatz zu zahlen, denn mehr als einmal tötete er einjährige Schweine, indem er ihnen den Nacken durchbiss, auch gab es keine Henne, die imstande gewesen wäre, ihm zu entfliehen. Als er zum erstenmal Büffel erblickte, stürzte er auf sie los, sprang einem auf den Rücken und sprengte dadurch die ganze Herde in die Flucht. Diesen prächtigen Hund musste ich später in Ranmo am Irawadi erschiessen. Mir trat eine Träne in das Auge, denn in letzter Zeit hatte er sich an mich gewöhnt.»

Thomas Wechsler 24.09.1998

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