Tibets Wasser, Chinas Durst – Dammbau im Hochland von Tibet

8. Oktober 2013

Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 22.9.13, Thomas Weidenbach und Shi Ming –

Nirgendwo auf der Welt werden so viele Staudämme errichtet wie im Hochland von Tibet. Allein schon die Pläne zur Energiegewinnung sind gigantisch. Chinas Nachbarn fürchten, dass noch mehr dahintersteckt.

Das Dach der Welt wirkt ziemlich flach. Jedenfalls wenn man direkt auf ihm steht. Überall schlängeln sich Rinnsale durch den steinigen, kargen Boden. Bräunliches Wasser, soweit das Auge reicht, das zu kleinen Bächen und seichten Flüssen zusammenläuft und in Richtung einer weit entfernten, flachen Hügelkette verschwindet. Einzig die sich auftürmenden riesigen Gewitterwolken und die vielen Blitze geben dem Ort etwas Magisches.

So sieht die Quelle des 4845 Kilometer langen Gelben Flusses aus, des zweitlängsten Stroms Chinas. Sie liegt auf dem tibetischen Hochplateau in mehr als viertausend Meter Höhe. Und was wie eine Hügelkette aussieht, sind in Wahrheit Berge, die weit über fünftausend Meter emporragen. Eine Stunde Autofahrt entfernt frisst sich das Wasser immer tiefer ins Gebirge und bahnt sich mit ungeheurer Energie seinen Weg talwärts. Genau diese Kraft macht das Wasser aus Tibet so attraktiv für die chinesische Regierung.

Unbemerkt vom Rest der Welt sind Heerscharen chinesischer Bauarbeiter drauf und dran, das Gesicht Tibets dauerhaft zu verändern. Wer heute durch die Berge und Täler der Region reist, der trifft nicht nur auf friedliche Mönche und genügsame Yaks. Sondern vor allem auf Betonmischer und Zementfabriken. Überall an den Flüssen, oft nur wenige Kilometer voneinander getrennt, wird gebohrt und betoniert, entstehen neue Staudämme und Stauseen. Doch nur wenige ausländische Fachleute wissen, was sich derzeit an Tibets Flüssen abspielt. Die chinesische Regierung gibt nur wenige Details bekannt. Immerhin so viel ist sicher: Ein Drittel allen Stroms, der in China aus Wasserkaft erzeugt wird, soll in Zukunft aus Tibet stammen.

Was das bedeutet, machen Karten deutlich, die Tashi Sering, ein gebürtiger Tibeter und Dozent für Umweltpolitik an der Universität von British Columbia in Kanada zusammengestellt hat. Als Quellen dienten ihm Berichte in chinesischen Zeitungen, Fachjournalen und Websites von chinesischen Baufirmen und Ingenieurbüros. In der Autonomen Region Tibet sowie an den Flüssen in den angrenzenden tibetischen Siedlungsgebieten in den Provinzen Qinghai, Sichuan und Yunnan sind demnach mehr als einhundert Wasserkraftwerke in Betrieb, im Bau oder in Planung (siehe „Auf dem Dach der Welt“).

„Nirgendwo sonst auf der Welt herrscht ein vergleichbarer Bauboom an Staudämmen“, sagt Wang Weiluo. Der Ingenieur hat beim Bau des riesigen Drei-Schluchten-Dammes am Jangtschikiang mitgearbeitet, bevor er nach Deutschland kam, um an der TU Dortmund Raumplanung zu studieren und hier zu arbeiten. Inzwischen gehört er zu den bekanntesten Kritikern der Waserbaupolitik der chinesischen Regierung. Seine Veröffentlichungen sind in China zwar verboten, doch seine Aufsätze finden ihren Weg auch ins chinesische Internet und sorgen dort für Aufsehen.

Was auf den ersten Blick wie eine klimafreundliche Alternative zu Chinas Kohlekraftwerken erscheinen mag, hat mit einer nachhaltigen Energiepolitik wenig zu tun. Die Volksrepublik hat neben Kohle schon immer auf Strom aus Wasserkraft gesetzt. Mitte der 90er Jahre entstand der erste grosse Damm „Sanmenxia“ am Gelben Fluss. Seitdem sind ihm Tausende weiterer Wasserkraftwerke gefolgt. Die Hälfte aller Dämme weltweit steht heutzutage im Reich der Mitte, alle Flüsse in Zentral-, Nord- und Ostchina sind inzwischen gestaut. Nun gehen die Planungen immer weiter nach Westen, Richtung Tibet.

„Tibets Ressourcen werden in einen wirtschaftlichen Vorteil für China verwandelt“, prophezeit Yan Zhiyong, Generalmanager der China Hydropower Engineering Consulting Group in der chinesischen Presse. Denn der gesamte Strom wird durch neue Überlandleitungen, die ebenfalls allerorten neu errichtet werden und sich über Hunderte von Kilometern durch das Gebirge ziehen, in die Metropolen weit weg im Osten des Landes geleitet. In Tibet selbst ist für die geplanten Kraftwerkskapazitäten kaum Bedarf. Auch von den Aufträgen an die Baufirmen profitieren die Tibeter so gut wie gar nicht. Ausschliesslich chinesische Unternehmen mit chinesischen Arbeitern sind daran beteiligt.

Die negativen Folgen des Dammbooms dagegen werden vor allem die Tibeter zu spüren bekommen. Besorgnis löst vor allem der Dammbau am Jarlung Tsangpo aus. Der höchstgelegene Fluss der Welt war bis vor kurzem noch der einizige nicht gestaute im tibetischen Hochland. Jetzt entsteht dort südöstlich von Tibets Hauptstadt Lhasa der Zangmu-Staudamm mit einer Höhe von 116 Metern und einer installierten Leistung von 510 Megawatt.

„Der Dammbau birgt grosse Gefahren“, sagt Wang Weiluo, „man hebt den Wasserstand in den Flüssen und erhöht dadurch den Druck auf die tieferen Erdschichten.“ Das könne im schlimmsten Fall geologische Katastrophen auslösen. „Vor allem weil die Täler des Jarlung Tsangpo und dessen Nebenflüsse erdgeschichtlich betrachtet sehr jung sind und auf geologischen Bruchlinien liegen.“ Eine Zunahme in Erdrutschen und Felsabbrüchen sei ausserdem zu befürchten, warnt der Ingenieur.

Er steht mit dieser Einschätzung nicht allein. Auch in China gibt es Wissenschafler, die den Dammbau im Hochgebirge scharf kritisieren. Zu ihnen gehört der Geologe Yang Yong aus Sichuan, der den Lauf des Jarlung Tsangpo durch tiefe Schluchten aus eigener Anschauung kennt. In der Gegend gäbe es viel Anzeichen für geologische Bewegungen in der jüngsten Vergangenheit. „Ich kann mir keinen gefährlicheren Standort für einen Staudamm vorstellen.“

Auch Fan Xiao, Leiter des geologischen Instituts der Provinz Sichuan, kritisiert seit Jahren offen den Dammbau. Er glaubt, dass die enstandenen riesigen Stauseen entlang des Jangtse und seiner Nebenflüsse das verheerende Erdbeben im Mai 2008 mit verursacht haben, dem mehr als 80 000 Menschen zum Opfer fielen. Wasserkraftwerke können durch Erdbeben nicht nur selbst in ihrer Standfestigkeit bedroht sein – entlang seismischer Vewerfungszonen kann der ungeheure Druck durch Milliarden Tonnen aufgestauten Wassers nach Ansichten viele Geologen auch Erdbeben auslösen.

Trotzdem werden die Dammpläne in Tibet unvermindert vorangetrieben. Unmittelbar vor und hinter dem Zangmu-Damm, der 2014 seinen Betrieb aufnehmen soll, sind fünf weitere Wasserkraftwerke geplant. Westlich davon, wo sich der Jarlung Tsangpo in einer riesigen Schleife durch ein tiefes Tal nagt und dabei auf kurzer Distanz mehrere hundert Meter Höhenunterschied hinter sich lässt, planen Chinas Dammbauer das Meisterstück chinesischer Ingenieurskunst: Für die Orte Motuo und Daduqia existieren Pläne zum Bau des grössten Wasserkraftwerks der Welt mit einer Leistung von 38 000 bzw. 43 800 Megawatt. Das entspricht der Strommenge von dreissig Atomkraftwerken und wäre mehr als doppelt so viel Strom, wie im bisher grössten Damm der Welt am Jangtse produziert wird.

Das sind Grössenordnungen, die Wang Weiluo Kopfschmerzen bereiten. „Stellen Sie sich nur vor, was passiert, wenn diese Megadämme mit einer Höhe bis zu vierhundert Metern durch ein Erdbeben oder aufgrund eines grossen Erdrutsches brechen sollten. Das wäre eine beispiellose Katastrophe.“

Die Dämme stellen aber nicht nur eine latente Gefahr für die Umwelt der Region dar. Sie bedrohen auch den labilen Frieden zwischen Indien und China, den bevölkerungsreichsten Staaten der Erde und Konkurrenten im Ringen um den Einfluss in Asien. Denn der Jarlung Tsangpo fliesst weiter nach Indien und Bangladesch, wo er Brahmaputra heisst und Trinkwasser sowie Wasser für die Bewässerung der Felder von mehreren hundert Millionen Menschen auf dem indischen Subkontinent liefert. Indische Regierungsvertreter sind deswegen schon mehrfach in Peking vorstellig geworden. Stets hat sich die Pekinger Regierung um Beschwichtigung bemüht. „Die Gebiete am Unterlauf haben keine Beeinträchtigungen zu befürchten, der Zufluss wird nicht gestoppt“, lässt die amtliche chinesische Nachrichtenagentur Xinhua regelmässig verlauten.

Doch die besorgten Stimmen aus Indien mehreren sich in letzter Zeit. Man fürchtet, dass an Tibets Flüssen nicht nur Strom erzeugt wird, sondern riesige Mengen Wasser nach Chine umgeleitet werden sollen. Detaillierte Pläne dafür existieren bereits sein einigen Jahren. „Tibets Wasser anzapfen, um China zu retten“ – so lautet der Titel eines Buchs, das bereits 2005 in China erschienen ist und dort bis zum heutigen Tag für Diskussionen sorgt. Der Autor Li Ling, ein Oberstleutnant der Volksbefreiungsarmee, stützt sich in seinem Buch auf Daten einer Expedition von Militärexperten, die bereits 1999 das tibetische Hochland bereist und intensive Messungen durchgeführt haben.

Die Pläne sind gigantisch. Mit Hilfe von bis zu vierhundert Meter hohen Dämmen soll das Wasser aufgestaut und durch ein Netz von Tunneln und Kanälen in Seen und in den Gelben Fluss geleitet werden, um schliesslich in den unter Wassermangel und Dürren leidenden Nordosten Chinas zu fliessen. Im sogenannten „Himmelskanal“ könnten jährlich bis zu 300 Milliarden Kubikmeter Wasser aus drei- bis viertausend Meter Höhe bis nach Peking abfliessen. Das wäre mehr als viermal so viel, wie jährlich durch den Rhein in die Nordsee gelangt.

Tatsache ist: Neben der Energieversorgung ist die Wasserversorgung entscheidend für das Wirtschaftswunder Chinas geworden. Die Hauptstadt Peking leidet seit Jahren unter Wassermangel, der Grundwasserspiegel sinkt beständig, und für die Trinkwasserversorgung wichtige Flüsse führen entweder zu wenig oder zu verschmutzes Wasser mit sich.

75 Prozent aller Flüsse und 80 Prozent aller Süsswasserseen gelten in China als stark belastet. Dürreperioden lassen zudem selbst grosse Flüsse immer wieder austrocknen. 1997 war der Gelbe Fluss über eine Strecke von immerhin sechshundert Kilometern für 247 Tage komplett trockengefallen. 2011 dann sank das Wasser am Mittellauf des Jangtse auf einen historischen Tiefstand.

Diese Dürren gefährden einen Plan, den die Machthaber in Peking schon seit Jahren vorantreiben: die „Süd-Nord-Wasserumleitung“. Über drei verschiedene Routen, mit Hilfe vorhandener und neu zu errichtender Kanäle, soll der Norden des Landes mit Wasser versorgt werden. Die östliche und mittlere Route befinden sich bereits im Bau. Hunderttausende wurden dafür umgesiedelt. Sechs Prozent des Jangtsewassers sollen so eines Tages abgezweigt werden.

Doch angesichts der Bilder ausgetrockneter Flussläufe fragt man sich auch in China immer häufiger, wie die avisierten Ziele jemals erreicht werden können. „Wenn man in Peking nichts gegen die Wasserverschwendung und die Verschmutzung unternimmt, dann bleibt gar nichts anderes übrig, als eines Tages das Wasser aus Tibet abzuzweigen“, sagt Wang Weilao. Wurden die Pläne für den Himmelskanal in die Tat umgesetzt, bedeutete das für Nationen an den Unterläufen der Flüsse eine Katastrophe, da ist er sich sicher: „Wie werden Chinas Nachbarstaaten wohl reagieren, wenn man ihnen grosse Teile des Wassers abgräbt? Mit Kriegen werden sie reagieren, mit Kriegen ums Wasser.“

Dass es sich dabei um kein apokalyptisches Hirngespinst handelt, zeigt ein Blick in die Geschichte. Denn es wäre nicht das erste Mal, dass Indien und China in Tibet Krieg führten. Schon 1962 stritten beide Staaten militärisch um die Kontrolle Süd-Tibets. Der Grenzverlauf ist in diesem Gebiet bis heute umstritten. Je nachdem, ob man in Karten aus Indien oder China schaut, ist die Grenze völlig unterschiedlich eingezeichnet. Und ausgerechnet hier planen die chinesischen Militärs mit dem Himmelskanal das grösste Wasserumleitungsprojekt der Menscheitsgeschichte.

Seit Jahren schon beobachtet Brahma Chellaney, Professor für Strategische Studien am Centre for Policy Research in Indiens Hauptstadt Delhi und Autor des Buches „Wasser: Das neue Schlachtfeld Asiens“, die zunehmenden Spannungen. Auch er spricht von einer realen Kriegsgefahr: „Anders als alle seine Nachbarstaaten weigert sich China bislang, einem Abkommen über das Wasser aus Tibet beizutreten.“ In der Region seien auf beiden Seiten der Grenze bereits zusätzliche Truppen, Flugzeuge und Raketen in Stellung gebracht worden.

Angesichts des Konfliktpotentials bestreitet die chinesische Regierung im Moment jegliche Absichten zum Bau des Himmelskanals. Doch nicht nur Wang Weilao misstraut den offiziellen Dementis. „Vergleicht man die Dämme, die China am Jarlung Tsangpo und dessen Nebenflüssen baut, so ist sofort klar: Das sind genau die Standorte, die für die Umleitung des Wassers aus Tibet nach China vorgesehen sind.“ Der Staudamm Zangmu etwa, an dem derzeit gebaut wird, entspricht haargenau dem vorgesehenen Beginn für den Himmelskanal.