Der Film – 1963 kommt das siebenjährige Tibeter Flüchtlingskind TIBI Lhundub Tsering zu seiner Pflegemutter in die Schweiz. Die private Hilfsaktion eines Industriellen hat ihn aus dem Kinderheim Sn Dharamsala hierher gebracht. Als RUTH GRABER auf dem Flughafen Zürich-Kloten ihr Pflegekind in Empfang nehmen kann, weiss Tibis in einem Strassenbaucamp in Indien zurückgebliebene leibliche Mutter YOUDEN JAMPA nicht, wo ihr Kind ist.
Kaum erwachsen, macht sich Tibi auf die Suche nach seinen Eltern. In einer Tibeter Flüchtlingssiedlung im Süden Indiens trifft er sie wieder. Doch bei allem tief empfundenen Glück, seine Mutter wieder gefunden zu haben, ahnt Tibi gleichzeitig, dass er sie für immer verloren hat. Auch wenn ihn seine Mutter vorbehaltlos akzeptiert, verstehen wird sie ihr Kind nicht mehr. Nach seiner Rückkehr in die Schweiz verliert Tibi den Halt – und beinahe sich selbst.
Über vier Jahrzehnte später reist Tibi mit seiner Schweizer Familie noch einmal nach Indien. In der Tibeter Flüchtlingssiedlung in Bylakuppe will er seine alt gewordene Mutter besuchen. Für Tibis fünfjährige Tochter Sangmo und ihren kleinen Bruder Samdub wird es die erste Begegnung mit der fremden Welt ihrer tibetischen Grossmutter sein. Der Film begleitet Tibi auf der Reise zu seiner Mutter – und besucht seine Pflegemutter in Grüningen im Zürcher Oberland. Beim Beobachten des still gewordenen Alltags der beiden alten Frauen drängt das Erlebte aus den Erinnerungen leise und manchmal schmerzlich zurück in die Gegenwart.
Tibifilm.ch
«Die Begegnung mit Tibi und seiner tibetischen Mutter Youden Jampaberührte mich sehr. Ein Flüchtlingsschicksal, eines von Millionen auf dieser Welt, von denen wir täglich und oft nur als Agenturmeldung in unseren Zeitungen lesen, hatte plötzlich ein Gesicht und eine Geschichte bekommen. Doch beinahe ebenso berührt war ich von den kaum ausgesprochenen und doch in fast jedem ihrer Sätze spürbaren Zweifeln von Tibis Pflegemutter Ruth Graber ob der Richtigkeit ihres damaligen Tuns. Die bei der Arbeit an meinem Film gefundenen Dokumente zu der privat organisierten Pflegekind-Aktion liessen mich immer mehr staunen, wie dieses wenig bekannte Kapitel Schweizer Flüchtlingsgeschichte in den frühen 1960er Jahren in unseremLand möglich war.»
Der Film erlebte seine Uraufführung an den 48. Solothurner Filmtage 2013.
Am 10. Februar 2013 startet der Film dann im Kino Riffraff in Zürich und im Kino Bourbaki in Luzern im Matinéeprogramm.
Weitere Aufführungen des Films werden in der ganzen Schweiz folgen.
Ueli Meier, Regisseur
Film-Infos
Produktionsland: Schweiz
Produktionsja hr: 2012
Laufz eit: 75 Minuten
Originalversion: Schweizerdeutsch,
Tibetisch mit deutschen Untertiteln
Untertitel: Deutsch, Englisch, Französisch
Format : DCP | Farbe | Bildformat 1.78:1 (16:9)
Ton: Digital 5.1
Pressestimmen:
nzz.ch
Geschichte einer Adoption: Wie aus Lhundub der Tibi wurde
Der neue Film des Zürchers Ueli Meier über das Schicksal eines tibetischen Adoptivkindes ist ein berührendes und liebevolles Porträt. Gleichzeitig wirft er einen skeptischen Blick auf die Schweizer Tibet-Euphorie der sechziger Jahre.
Christina Neuhaus
An einem Julitag im Jahr 1963 kommt der siebenjährige tibetische Flüchtlingsbub Lhundub Tsering gemeinsam mit anderen Kindern auf dem Flugplatz Zürich an. Die Kinder haben sich während des langen Fluges in die Hosen gemacht, weil sie sich nicht getrauten, die Bordtoilette zu benutzen. Ihre Begleiter hatten ihnen gesagt, diese bestehe nur aus einem Loch, das sie in die Tiefe ziehen würde. Die Kinder denken, sie würden zusammenbleiben. Erst als sie sich in eine Reihe stellen müssen und ein Kind nach dem anderen aufgerufen und zu einer der wartenden Schweizer Familien gebracht wird, merken sie, dass sie in der Fremde getrennt werden.
Indien–Grüningen einfach
Mit der Ankunft in Kloten beginnt für den Bub das Leben in einer vollkommen fremden Welt. Noch wenige Tage zuvor hatte er in einem Heim für tibetische Flüchtlingskinder im nordindischen Dharamsala sein Bett mit anderen Kindern geteilt. Nun lebt er mit einer Professorenfamilie im neuen Eigenheim in Grüningen.
Ruth Graber, Ruth Graber, „Tibis“ Schweizer Pflegemutter.(PD)
Der Zürcher Ueli Meier hat die Lebensgeschichte seines Freundes Lhundub Tsering, den heute alle Tibi nennen, in einem unaufdringlichen, aber unter die Haut gehenden Film festgehalten. 40 Jahre nach dessen Ankunft in Zürich begleitet Meier den heute 57-jährigen Tsering und seine Familie auf ihrer Reise nach Indien, wo sie die alt gewordene Mutter noch einmal besuchen wollen. Obwohl «Tibi und seine Mütter», der erfolgreich an den Solothurner Filmtagen gezeigt wurde und nun in Zürich anläuft, den Schwerpunkt auf das Kinderschicksal legt, enthüllt er wie beiläufig ein Stück beinahe vergessener Zeitgeschichte: Denn Lhundub Tsering war eines von 158 Tibeter Pflegekindern, die der Solothurner Industrielle Charles Aeschimann in den frühen sechziger Jahren in die Schweiz holen liess. Es war eine private Aktion, die mit dem Segen der zuständigen Behörden, aber ohne Billigung des Roten Kreuzes initiiert wurde. Auch der Schweizer Botschafter in Indien hatte früh an die Behörden appelliert und dazu aufgerufen, die Pflegekind-Aktion noch einmal zu überdenken. Denn von den 158 in die Schweiz gebrachten Heimkindern hatten nur 19 keine Eltern mehr. Alle andern besassen zumindest noch einen Elternteil.
Zu den berührendsten Momenten des Films gehören die Schilderungen von Lhundub Tserings heute 80-jähriger Mutter, die ihren Sohn nur widerstrebend ins Heim gab. Sie hatte auf der Flucht bereits ein Kind verloren und wollte ihre Kinder bei sich behalten.
Youden Jampa, Youden Jampa, „Tibis“ Mutter.(PD)
Doch das Strassenbau-Lager, wo sie zum Arbeiten hingeschickt wurde, war weit weg, und so gab sie ihren Sohn schliesslich schweren Herzens ins Kinderheim. Als sie erfuhr, dass er in ein fremdes Land gebracht worden war, brach für sie eine Welt zusammen. Bis sie ihren Sohn wiedersehen würde, sollten 15 Jahre vergehen.
Schweizer Tibet-Euphorie
Noch Wochen nach seiner Ankunft in Grüningen wurde Lhundub von seinen neuen Eltern und den Stiefgeschwistern mit dem falschen Namen angesprochen. Man sagte ihm «Döndub» oder «Dundub». Reden konnte man anfänglich kaum etwas miteinander. Doch er lernt schnell Schweizerdeutsch, und seine Adoptiveltern legen Wert darauf, dass er den Kontakt zu seiner Kultur nicht verliert und weiter Tibetisch lernt. Lhundub Tsering hat es gut getroffen mit seiner Pflegefamilie. Von seiner Stiefmutter, dem «Müeti», redet er bis heute mit Wärme und Hochachtung. Eine Mutter zum Umarmen konnte sie ihm bei aller Zuneigung und Gutherzigkeit aber nicht sein – durfte es wohl auch nicht sein. Im Film kommt auch sie ausführlich zur Sprache. Regisseur Ueli Meier begleitet Lhundub Tsering bei einem Besuch bei seiner Adoptivmutter und beobachtet sie in ihrem still gewordenen Alltag. Wie sie von ihrem Entschluss erzählt, zu ihren drei leiblichen Kindern noch ein viertes anzunehmen, von den Erfahrungen mit dem verschlossenen, unglücklichen Kind, enthüllt viel über das damalige Selbstverständnis.
In den Jahren nach der Flucht des Dalai Lama aus seiner Heimat genossen die Tibeter grosse Sympathien in der Schweiz. Im März 1963 bewilligte der Bundesrat die Einreise von 1000 Flüchtlingen. Es war das grösste Kontingent in Europa. Der Verein Tibeter Heimstätten und das Schweizerische Rote Kreuz wählten gemeinsam Familien aus, die dann in die Schweiz geholt wurden. Die Zeitungen – auch die NZZ – schrieben in überwiegend empathischem Ton über dieses freiheitsliebende Volk aus dem fernen Schneeland, dessen Abkömmlinge sich so problemlos und dankbar in die schweizerische Kultur einzufügen schienen. Auch die private Pflegekind-Aktion von Charles Aeschimann, die auf ein «Agreement» mit dem 14. Dalai Lama, Tenzin Gyatso, zurückgeht, erhielt grosse Aufmerksamkeit. Der Zirkus Knie gab eine Gratisvorstellung für die Tibeter Pflegekinder und deren Eltern, und die Zeitschrift «Nebelspalter» berichtete darüber. Der Titel der Reportage lautete «Rendez-vous der Tibeterli».
Schattenseiten der Adoption
Man würde den Pflegeeltern und dem Initianten Aeschimann Unrecht tun, beurteilte man ihr Handeln aus heutiger Sicht. Sie meinten es gut und waren der aufrichtigen Überzeugung, vernachlässigten, schutzlosen Kindern eine neue Heimat zu geben. Die Schattenseiten dieser Verpflanzung sollten sich erst mit den Jahren zeigen. Auch Lhundub Tsering, der heute als Sozialpädagoge arbeitet, hat ein paar dunkle Jahre hinter sich. Doch er hat sich im Gegensatz zu vielen seiner ehemaligen Heim-Freunde gut in ein Leben zwischen zwei Kulturen gefügt. Von den 158 Aeschimann-Kindern hatten jedoch überdurchschnittlich viele mit Drogen, Depressionen und anderen psychischen Erkrankungen zu kämpfen. Viele schieden durch Selbstmord aus dem Leben.
«Tibi und seine Mütter» läuft in Zürich am Sonntag, 10. Februar, 12 Uhr, im Kino Riffraff an. www.tibifilm.ch
Interview: «Ich dachte, wir Kinder blieben zusammen»
Tibi Lhundub Tsering, welche Erinnerungen haben Sie an Ihre Ankunft im Flughafen Zürich?
Ich war sieben und dachte, wir Kinder blieben zusammen. Auch hatte ich mir alles schöner vorgestellt. Ursprünglich hatte ich mich auf die Schweiz gefreut. Im Kinderheim in Dharamsala, wo ich seit der Trennung von meinen Eltern lebte, hatte man uns Fotos von der Schweiz gezeigt: grüne Wiesen, Apfelbäume. Wir mussten uns dann in alphabetischer Ordnung aufstellen, und ich war einer der Letzten. Meine Adoptivmutter war mit ihren Töchtern gekommen, um mich abzuholen. Ich habe sie angesehen und gedacht, wenn ich zu ihr komme, habe ich Glück gehabt.
Sie haben das Kinderheim gern verlassen?
Im Kinderheim waren auch die anderen Kinder. Ich war nicht allein, und das hat es erträglich gemacht. Trotzdem war es nicht so toll. Viele Kinder waren krank und lagen nur apathisch in einer Ecke. Wir alle mussten kämpfen. Ich war zum Glück Mitglied in der Tanzgruppe. Wir hatten schöne Kleider und konnten jeweils den Besuchern vortanzen. Das war ein Privileg. Meine leibliche Mutter hatte einer Betreuerin Geld gegeben, damit sie zu mir schaut, und das hat sie auch getan.
Und in der Schweiz?
In der Schweiz hatte ich dann einen eigenen Teller zum Essen, ein eigenes Bett und erstmals Schuhe an den Füssen. Ich konnte gegen Steine treten, ohne mir weh zu tun. Im Kinderheim in Dharamsala waren wir 1700 Kinder, und wir haben zu siebt auf einer Matratze geschlafen. Das Heim hatte schwedische Kajütenbetten geschenkt bekommen, in denen wir der Breite nach lagen. Da musste man immer aufpassen, dass man nicht in der Mitte lag, weil hier die ganze Pisse der anderen zusammenlief. Wenn man aus dem Sumpf kommt, ist der Schmerz der Trennung nicht mehr so gross. Aus heutiger europäischer Sicht kann man sich das gar nicht vorstellen. Aber für uns war die Trennung von den Eltern normal. Meine Mutter hat mich ja auch mit fünf Jahren in ein Heim gegeben. Aber ich habe viel geweint in den Nächten in Grüningen.
Sie leben seit 50 Jahren mit einem falschen Namen. Ihr Vorname ist Lhundub, nicht Tibi.
Ich bin zum Tibi geworden. Er ist mein Name wie Lhundub auch. Etwas entfernt von meinem Elternhaus in Grüningen lebte eine Bauersfrau, die mir Dibidäbi sagte, irgendetwas Scherzhaftes aus einem Lied über Appenzeller. Das war wohl ihre Eselsbrücke zu meiner Herkunft. Später habe ich das Däbi weggelassen und mich nur noch Tibi genannt. Heute bin ich der Tibi, sogar die meisten meiner tibetischen Bekannten nennen mich so.
Sie haben nun zwei Mütter. Wie ist Ihr Verhältnis zu ihnen?
Dass ich zwei Mütter habe, ist eigentlich ein Luxus. Es sind zwei Frauen, die mich wesentlich geprägt haben. Meine Mutter schenkte mir in den ersten Jahren ihre Liebe und gab mir Urvertrauen. Das Müeti war immer gut zu mir und zeigte mir, wie man recht leben soll. Ich hatte immer Menschen um mich herum, die mich getragen haben. Ich hatte auch schlechte Zeiten. Aber alles in allem konnte ich mich recht ungehindert entfalten, und dafür bin ich den beiden Frauen dankbar. Interessanterweise haben sie einige Gemeinsamkeiten. Beide legen viel Wert auf unverfälschte Sprache. Meine Mutter pflegt ihren tibetischen Dialekt, das Müeti ihre Zürcher Oberländer Mundart. Beide Frauen sind zudem klug und haben gerne alles unter Kontrolle.
In Ueli Meiers Film werden Sie nun erneut mit Ihrem Schicksal konfrontiert. Ihr Leben wird auf der Leinwand vor jedermann ausgebreitet. Was bedeutet Ihnen der Film?
Der Film erzählt ja nicht nur meine Geschichte. Er erzählt ein Stück Zeitgeschichte und die von 158 tibetischen Pflegekindern. Den Film habe ich auch wegen meiner eigenen Kinder gemacht. Ueli hat uns begleitet, als wir mit ihnen zum ersten Mal nach Indien zu ihrer Grossmutter geflogen sind. Es war eine Kinderreise in umgekehrter Richtung. Deshalb ist «Tibi und seine Mütter» kein Tibet-Film geworden, sondern ein Kinderfilm. Aus diesem Grund ist er auch Uelis Tochter Alice gewidmet. So, wie er geworden ist, macht mich der Film auch stolz.
http://www.nzz.ch/aktuell/zuerich/stadt_region/wie-aus-lhundub-der-tibi-wurde-1.17984089