Schon seit 1985 existiert ein Programm, das tibetische Schülerinnen und Schüler in Schulen nach China transferiert. Erklärtes Ziel des Programms war und ist «die Verbesserung der rückständigen Erziehung in Tibet und des Mangels an Talent». Im Rahmen der «landesweiten Hilfe für Tibet» wurden im ersten Jahr 1’300 Primarschüler an Schulen in chinesische Provinzen delegiert. Schritt für Schritt wurde das Programm ausgeweitet auch auf Sekundär- und Hochschulen sowie Universitäten. Die chinesische Regierung bilanzierte im Januar 2019, dass bis dann insgesamt 141’900 Schüler und Schülerinnen in das Programm eingeschlossen waren. Neben Tibetern wurden auch einige chinesische Schüler, die Kinder von in Tibet arbeitenden Parteikadern sind, nach China transferiert. Dabei gibt es zwei Arten von Schulen: die einen sind speziell für Tibeter in China gegründet worden, die anderen nehmen Tibeter in speziellen Klassen innerhalb chinesischer Schulen auf.
Die Ziele des Programms sind klar definiert. Hier soll eine Generation von jungen Tibeterinnen und Tibetern zur Unterstützung von Staat und Partei ausgebildet werden. Die staatliche Erziehungskommission formulierte bereits 1992 als Ziel, «eine Gruppe von Unterstützern der Kommunistischen Partei heranzubilden.» Ein Professor der Minzu Universität wies 2016 darauf hin, dass Tibet «spezielle Signifikanz» habe, weil es die einzige chinesische Provinz mit einer «illegalen Regierung im Exil» sei und «ausländische Kräfte die ethnischen Beziehungen untergraben» wollten. Beim 7. Arbeitsforum für Tibet im August 2020, das von Xi Jinping persönlich geleitet wurde, erklärte er, Parteikader müssten «die ideologische und politische Erziehung in den Schulen stärken, den Geist des Patriotismus in den gesamten Prozess der Schulbildung auf allen Ebenen und Typen einbringen und die Saat der Liebe zu China in die Tiefen der Herzen aller Jugendlichen pflanzen.» Bei einem Besuch eines Propaganda-Teams im Dezember 2020 in solchen Schulen in China erklärte ein tibetischer Parteikader, Schülerinnen und Schüler müssten «dankbar sein und mit ihren Handlungen die Güte von Partei und Staat zurückzahlen.»
Auf der anderen Seite scheint dieses Programm nicht reibungslos abzulaufen. Nur der Unterricht in tibetischer Sprache wird von Lehrern aus der «Autonomen Region Tibet» ausgerichtet, alle anderen Fächer von chinesischen Lehrern unterrichtet. Häufig gab es jedoch Beschwerden über die mangelhafte Qualität der tibetischen Lehrpersonen, oder die Lektionen in tibetischer Sprache wurden gar nicht gegeben oder zu einem winzigen Wahlfach degradiert. Für die Aufnahme in höhere Schulen in China zählen die Noten in Tibetisch nicht. Auch kam es zu ethnischen Spannungen. Tibeter beklagten sich, dass sie von chinesischen Schülern verächtlich behandelt wurden. In Chengdu kam es 2011 zu einer grösseren Auseinandersetzung, als mehrere hundert Tibeter regelrecht belagert wurden und es schliesslich zu Handgreiflichkeiten kam, wo einige Tibeter spitalreif geschlagen und deren Klasseninventar zertrümmert wurde.
Bereits 2000 hatte der chinesische Staatsrat das Programm für Tibeter für «sehr erfolgreich» erklärt und ein gleiches Projekt für uigurische Schülerinnen und Schüler aus Xinjiang gestartet.
International Campaign for Tibet, 12. Januar 2021 // Dr. Uwe Meya
Foto: International Campaign for Tibet 12. Januar 2021