Eigentlich soll China den Schweizer Behörden helfen, illegal eingewanderte Chinesen zurückzuschaffen. Doch ein Abkommen mit der Volksrepublik wirft brisante Fragen auf.
Lesen Sie den Originalbericht von Christoph Bernet in der Limmattaler Zeitung, erschienen am 10.12.2020 hier.
Hin- und Rückflug, Unterbringung in einer «angemessenen Unterkunft», voll ausgestattete Büroräume, Kranken- und Unfallversicherung und ein Taschengeld von 200 Franken pro Arbeitstag: All das stellt die Eidgenossenschaft Angehörigen des Ministeriums für öffentliche Sicherheit (MPS) der Volksrepublik China während ihrer maximal zweiwöchigen «Missionen» in der Schweiz zur Verfügung.
Diese Details sind der «Vereinbarung zur Identifikation von mutmasslich chinesischen Staatsangehörigen mit irregulärem Aufenthalt in der Schweiz» zu entnehmen. Das Dokument wurde diese Woche von der Menschenrechtsorganisation «Safeguard Defenders» publik gemacht.
Unterzeichnet worden ist das Abkommen im Dezember 2015 von Vertretern des Staatssekretariats für Migration (SEM) und dem chinesischen Sicherheitsministerium MPS in Beijing. Doch bis zu einem Bericht der «NZZ am Sonntag» im August 2020 war dessen Existenz geheim. Das ist aussergewöhnlich.
Denn solche Vereinbarungen zwischen der Schweiz und anderen Staaten über die Identifizierung und Rückführung von illegalen Aufenthaltern sind keine Seltenheit. Die Website des SEM listet 52 solche Verträge auf.
Spionage gegen Hongkong-Dissidenten und Uiguren?
Die Geheimhaltungstaktik beim China-Deal hat seine Gründe. Gemäss einer Analyse von «Safeguard Defenders» weist das Abkommen mit den Chinesen jedoch einen «völlig anderen Charakter» auf als entsprechende Verträge mit anderen Staaten. Ungewöhnlich ist einerseits, dass Sicherheitsbeamte der Volksrepublik extra in die Schweiz einreisen, um bei der Identifizierung mutmasslicher chinesischer Bürger behilflich zu sein. Normalerweise findet der Austausch in solchen Fällen entweder via Botschaften oder direkt mit den Behörden im mutmasslichen Herkunftsland statt.
Die China- und Menschenrechtsexpertin Margaret Lewis, Rechtsprofessorin an der US-Universität Seton Hall, äusserte gegenüber der britischen Zeitung «Guardian» Zweifel, ob die Besuche der chinesischen Agenten in der Schweiz wirklich dem vorgegeben Zweck dienen: «Mir erscheint es merkwürdig, dass sich die Volksrepublik China wegen mutmasslicher chinesischer Staatsbürger mit illegalem Aufenthalt in der Schweiz die Mühe macht, offizielle Vertreter zu entsenden.»
Professorin Lewis‘ Verdacht: «Die Anreize für MPS-Vertreter, in die Schweiz zu reisen, wären eher Personen, welche für die chinesische Regierung von besonderem Interesse sind.» Diese Aussage hat Sprengkraft: Es ist bekannt, dass das chinesische Regime versucht, auch im Ausland Druck auf politische Flüchtlinge auszuüben, beispielsweise Dissidenten aus Hongkong, oder Angehörige der in China unterdrückten Minderheit der Uiguren. Sollte die Vermutung von Lewis zutreffen, würde sich die Schweiz zur Helferin der chinesischen Repression machen.
«Ein signifikantes Sicherheitsrisiko»
Ebenfalls fragwürdig ist die Tatsache, dass die chinesischen Beamten als «Experten ohne offiziellen Status» in die Schweiz einreisen. Die Schweizer Behörden verpflichten sich im Abkommen dazu, ihre Identität geheim zu halten. Festgehalten ist lediglich, dass sie während ihres maximal zweiwöchigen Aufenthalts den hiesigen Behörden bei der Identifizierung mutmasslicher chinesischer Staatsbürger helfen.
Dieser offizielle Teil ihrer «Mission» darf gemäss einem Anhang zum Geheimabkommen nicht länger als fünf Tage am Stück dauern. Pro Tag können die chinesischen Agenten Befragungen von bis zu sechs Personen durchführen.
Doch darüber hinaus ist ihr Aufenthalt nicht reglementiert – ebenfalls ungewöhnlich für ein solches Abkommen. Eine Limitierung auf Aktivitäten im Zusammenhang mit ihrer Mission oder eine Pflicht, die Schweizer Behörden über ihren Aufenthaltsort zu orientieren, gibt es nicht. «Was [die chinesischen Agenten] während diesen zwei Wochen machen, ist komplett unüberwacht», sagt Peter Dahlin gegenüber dem «Guardian». Er ist Direktor der Menschenrechtsgruppe «Safeguard Defenders».
Laut der NGO ist davon auszugehen, dass die chinesischen Agenten ohne offiziellen Status mit einem normalen Touristenvisum einreisen. Das würde ihnen die Weiterreise in andere Schengen-Staaten erlauben. Es sei davon auszugehen, dass MPS-Agenten während zwei Wochen theoretisch fast in der gesamten Europäischen Union undercover und ohne Wissen der jeweiligen Regierung unterwegs sein können: «Das stellt ein signifikantes Sicherheitsrisiko dar», heisst es in der Analyse.
«Systematische und schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen»
Ausserdem hat Schweiz keine Kontrolle darüber, wen die Chinesen in die Schweiz schicken. Mit zwei Monaten Vorlaufzeit lädt sie das chinesische Sicherheitsministerium dazu ein, zwei Vertreter in die Schweiz zu entsenden. Doch wen das MPS in die Schweiz abkommandiert, liegt ganz in der Hand der Chinesen.
Das Ministerium hat weitreichende Kompetenzen: Nebst Migrationsfragen nimmt es in China Polizeiaufgaben wahr, ist für die nationale Sicherheit zuständig und hat Abteilungen für Spionage und Spionageabwehr. Gemäss «Safeguard Defenders» ist das MPS in weit verbreitete, systematische und schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen involviert.
Seit Montag ausser Kraft
Auf Anfrage wehrt sich das Staatssekretariat für Migration gegen die Vorwürfe. Das Abkommen habe zu jedem Zeitpunkt der Öffentlichkeit «zur Einsicht vorgelegen». Die Formulierung «Experten ohne offiziellen Status» diene zur Unterscheidung von Diplomaten, die China auf politischer Ebene vertreten. Die 200 Franken Entschädigung pro Tag sei in solchen Fällen üblich.
Eine Expertenmission habe nur einmal im Jahr 2016 stattgefunden. Zwei chinesische Beamte reisten damals mit einem Schengen-Visum ein. Sie erhielten «keine Informationen über Personen, die gefährdet oder verfolgt sind».
Seit letztem Montag ist das Abkommen nicht mehr in Kraft: Die bei der Unterzeichnung 2015 festgehaltene Laufzeit von fünf Jahren ist beendet. Eine Fortsetzung der geltenden Vereinbarung sei grundsätzlich im Interesse der Schweiz: «Es liegt allerdings keine zeitliche Dringlichkeit für eine Verlängerung vor», so ein SEM-Sprecher.
Foto vom Originalbereicht. Chinas Staatschef Xi Jinping empfängt den damaligen Bundespräsidenten Ueli Maurer samt Delegation in Bejing. (April 2019) © Madoka Ikegami / Pool / EPA