Interventionen der Grossmacht bei Behörden, Hochschulen und Medien nehmen zu.
Unerwünschte Tibet-Fahnen: Die chinesische Botschaft in Bern intervenierte direkt bei der Regierung des Kantons Waadt.
Der chinesische Botschafter in der Schweiz liess wenig Zweifel daran, was er wollte. Die Regierung solle dafür sorgen, dass am 10. März 2020 im Kanton Waadt keine tibetischen Flaggen wehen würden. So steht es sinngemäss in einem Schreiben, das Botschafter Geng Wenbing am 6. März der Waadtländer Regierungspräsidentin Nuria Gorrite schickte.
Dazu muss man wissen: Am 10. März finden jeweils Feiern zum Gedenken an den tibetischen Volksaufstand von 1959 statt. Dabei werden tibetische Flaggen gehisst – in der Schweiz auch an Stadt- und Gemeindehäusern. Für dieses Jahr planten unter anderem zehn Waadtländer Gemeinden Flaggen-Aktionen.
«Strikte Ein-China-Politik»
Das Schreiben des chinesischen Botschafters führte bei Regierung und Staatskanzlei des Kantons Waadt zu bemerkenswerter Umtriebigkeit. Sie baten umgehend das Aussendepartement (EDA) von Bundesrat Ignazio Cassis um Rat. Dieses beschied ihnen unter anderem, dass das Hissen von tibetischen Flaggen an offiziellen Gebäuden der Aussenpolitik des Bundes entgegenlaufe. Schliesslich verfolge die Schweiz eine «strikte Ein-China-Politik». Das heisst, dass sie Tibet nicht als autonomes Gebiet anerkennt, sondern nur als Teil Chinas.
Die Waadtländer Staatskanzlei schilderte den zehn Gemeinden in einem Schreiben vom 9. März sowohl die Intervention des chinesischen Botschafters als auch die Einschätzung des EDA. Neun Gemeinden hissten die tibetischen Flaggen am Tag danach dennoch. Eine Gemeinde sah davon ab.
Bemerkenswert ist aber nicht das, sondern der Umstand, dass das Schweizer Aussendepartement und die Waadtländer Regierung auf die chinesische Intervention reagierten. Schliesslich ist die Beflaggung von Stadt- und Gemeindehäusern seit je eine kommunale Kompetenz.
«Dass Schweizer Behörden aufgrund einer Intervention der chinesischen Botschaft aktiv werden, ist ein einmaliger Fall», sagt dazu Thomas Büchli, Präsident der Gesellschaft Schweizerisch-Tibetische Freundschaft. «Es scheint, dass sie sich hier zu Handlangern Chinas machen.» Die Waadtländer Staatskanzlei und das Aussendepartement weisen den Vorwurf zurück und betonen, sie hätten in diesem Fall keine konkreten Empfehlungen abgegeben. Und die chinesische Botschaft in Bern hält fest: «China wehrt sich konsequent gegen Versuche, anti-chinesische und separatistische Aktivitäten derjenigen zu unterstützen, die nach Unabhängigkeit Tibets suchen.»
Die Intervention im Kanton Waadt ist kein Einzelfall. «Der Einfluss Chinas in der Schweiz ist in den letzten Jahren gestiegen», sagt Ralph Weber, Professor und China-Experte am Europainstitut der Universität Basel. Simona Grano, Privatdozentin für sozialwissenschaftliche Sinologie an der Universität Zürich, erklärt: «Der chinesische Einfluss steigt in fast allen Bereichen: in den Medien, der Kultur, der Wissenschaft, der Politik und der Wirtschaft.» Und selbst der Bundesrat hält in einer Stellungnahme zu einer Interpellation von SP-Nationalrat Fabian Molina fest, «dass der wirtschaftliche und ideologische Einfluss Chinas in der Schweiz im Steigen begriffen ist».
Woher kommt Corona?
Die Liste der chinesischen Interventionen in der Schweiz ist mittlerweile lang. Vor zwei Wochen zum Beispiel warf die chinesische Botschaft der «Weltwoche» vor, sie habe eine «Lästerung gegen die chinesische Nationalflagge» begangen und «Fake-News» verbreitet – mit der Anschuldigung, der Ursprung des Coronavirus liege in China. Die (an sich äusserst China-freundliche) Zeitschrift von SVP-Nationalrat Roger Köppel hatte zwei Tage zuvor einen Artikel zur Pandemie veröffentlicht und diesen mit Chinas Flagge bebildert. Die gelben Sterne darauf waren allerdings durch gelbe Viren ersetzt.
Im vergangenen Dezember intervenierte die chinesische Botschaft auch bei der Zürcher Hochschule der Künste. Die Botschaft beanstandete einerseits China-feindliche Graffitis auf dem Hochschulgelände, andererseits einen Film von Studierenden über die Proteste in Hongkong.
Weiter schien Chinas Einflussnahme auf die Schweiz beim Besuch von Staatschef Xi Jinping 2017 gegangen zu sein. «Es gibt Hinweise darauf, dass die chinesische Botschaft bei den Bedingungen für die Bewilligung von Demonstrationen rund um den Staatsbesuch direkt mitreden konnte», sagt Thomas Büchli von der Gesellschaft Schweizerisch-Tibetische Freundschaft.
Die chinesische Botschaft will von alldem nichts wissen. In einer Stellungnahme verweist sie auf die jahrelangen Beziehungen zwischen China und der Schweiz und schreibt: «Dass eine Partei die andere beeinflussen will, ist in der Vergangenheit noch nie passiert, und es wird in der Zukunft auch nicht passieren. Es widerspricht der traditionellen chinesischen Kultur, den anderen ihre eigenen Ideen und Konzepte aufzuzwingen.»
Lesen Sie hier den Originalbericht von Lukas Häuptli (erschienen in der NZZ am 12.04.2020).
Foto: Beitragsbild des Artikels in der NZZ