Bieler Tagblatt, 16.4.13 (mt) –
Hoher Besuch an der Universität Bern: Der Dalai Lama kam, um vor Studierenden einen Vortrag zu halten und mit ihnen in einen Dialog zu treten. Im Mittelpunkt stand das Thema der Nachhaltigen Entwicklung.
Vor über 500 Studierenden hielt heute der 14. Dalai Lama an der Universität Bern einen Vortrag über Nachhaltige Entwicklung. Nach einer kurzen Begrüssung richtete er sich an die Studierenden, seine «jungen Brüder und Schwestern», und freute sich über die Gelegenheit, der jungen Generation zu begegnen. Er bezeichnete sich selbst als «alten Mann des 20. Jahrhunderts», eines Jahrhunderts voller Gewalt. Nun solle das 21. Jahrhundert, dessen Vertreter die Studierenden seien, zum Jahrhundert des Friedens und des Dialogs werden. «Ihr tragt die Verantwortung dafür», sagte der Friedensnobelpreisträger.
Rektor Martin Täuber sprach in seiner Einleitung davon, wie sich die Universität Bern um Nachhaltigkeit und den Zustand unseres Planeten bemühe: Etwa durch Klimaforschung wie im weltweit renommierten Oeschger Zentrum für Klimaforschung, oder durch die Arbeit des «Center for Delevopment and Environment» (CDE), das versucht, Ungleichheiten zwischen Nord und Süd in einer globalisierten Welt auszugleichen. Er betonte auch die Wichtigkeit, jede neue Generation in Wissenschaft, Leadership und Verantwortlichkeit auszubilden, und dafür bräuchte es Vorbilder – der Dalai Lama sei ein herausragendes Vorbild genau für Leadership und Verantwortlichkeit.
Beim Vortrag anwesend war auch Regierungsrat Bernhard Pulver in seiner Funktion als politischer Schirmherr der Universität Bern.
Wissenschaft und Technologien unterstützen
Zur Nachhaltigkeit betonte der Dalai Lama, wie wichtig es sei, Wissenschaft und Technologien zu unterstützen: «Mittel und Arbeit in die Herstellung von Waffen zu stecken ist destruktiv und reine Geldverschwendung – stattdessen sollten wir Technologien und die Forschung fördern, etwa zur Solarenergie.» Er forderte auch ein Umdenken beim Betrachten von Problemen wie der Klimaerwärmung oder der Überbevölkerung: «Wir müssen an die ganze Menschheit denken, nicht an einzelne Nationen oder Gruppen. Wir brauchen ein globales Verantwortungsgefühl, das Gefühl einer Einheit. Wir sind 7 Milliarden Menschen auf der Erde – und mental, emotional und physisch sind wir alle exakt gleich.» Jeder Einzelne habe das Recht, ein glückliches Leben zu führen. Aber als Individuen könnten wir die Probleme nicht aus der Welt schaffen, nur mit einer globalen, einer ganzheitlichen Vision. Dies werde aber noch zu wenig wahrgenommen. Realität und Wahrnehmung klafften noch zu weit auseinander. «Ausbildung ist hier der Schlüssel, um eine sich ändernde Realität und unsere Wahrnehmung näherzubringen». Es sei auch falsch zu denken, die Probleme bestünden unabhängig voneinander: «Eure Zukunft ist mit dem Rest der Welt verlinkt», sagte er den Studierenden. Auf den rund halbstündigen Vortrag folgten Fragen von Studierenden. Auf eine Frage zum Fleischkonsum antwortete der Dalai Lama, er selber sei kein Vegetarier. Er empfehle aber, nicht jeden Tag Fleisch zu essen und plädiert für mehr Vegetarismus – denn grosse Rinderfarmen zum Beispiel seien ökologisch bedenklich und auch wirtschaftlich teuer. Auf eine Frage zur Bedeutung der Religionen unterstrich der Dalai Lama seinen säkularen Ansatz: Religionen seien hilfreich, aber könnten die globalen Probleme nicht lösen. Er spreche daher von einer «säkularen Ethik», die es zu stärken gelte, nicht einzelne Götter oder Buddha, sondern ethische Werte: «Mitgefühl, Respekt, Liebe sind nicht den Religionen vorbehalten.» Säkular zu sein bedeute auch nicht gegen die Religionen zu sein, sondern: «Respekt gegenüber allen Religionen zu haben, keine Präferenzen zu hegen und auch Nichtgläubige zu achten». Eine solche säkulare Ethik wünsche er sich auch vermehrt in universitärer Forschung und Lehre.
Zum Dalai Lama
Der 14. Dalai Lama, Tendzin Gyatsho, ist das spirituelle Oberhaupt Tibets. Der 78jährige wurde in Osttibet in einfachen Verhältnissen geboren und als Zweijähriger als Reinkarnation des 13. Dalai Lama erkannt. Die Dalai Lamas gelten im tibetischen Buddhismus als Verkörperung von Boddhisattvas – erleuchtete Wesen, die ihr Eingehen ins Nirvana so lange zurückstellen, bis alle anderen Lebewesen erleuchtet sind. Zugleich war der 14. Dalai Lama auch der politische Führer Tibets. 1959 floh er vor der chinesischen Invasion ins Exil. Seither setzt er sich für Gewaltlosigkeit und die Menschenrechte ein und erhielt dafür 1989 den Friedensnobelpreis. Im letzten Jahr hat der Dalai Lama all seine politischen Ämter abgelegt, engagiert sich aber weiterhin für bestimmte Themen, unter anderem für den Umweltschutz. Der Autor von über 70 Büchern hat auf seinen zahlreichen Reisen immer wieder die Schweiz besucht, wo die grösste tibetische Exilgemeinde Europas lebt. Heute lebt er im nordindischen Dharamsala.
Basler Zeitung, 13.4.13, Luciano Ferrari und Christof Münger –
Dalai Lama: «Mein Leben war schwierig, aber auch ziemlich nützlich»
Der Dalai Lama begrüsst ein Freihandelsabkommen zwischen Bern und Peking – trotz der Selbstverbrennungen in Tibet.
Seit den 50er-Jahren sind Sie das Aushängeschild des tibetischen Widerstands. War es rückblickend die Sache Wert?
Als ich 16 Jahre alt war, verlor ich meine Freiheit, weil ich die Verantwortung für mein Volk übernehmen musste, als die chinesische Armee in Tibet einmarschierte. Seither hat es nur Probleme gegeben, immer nur Probleme. 1959 starteten die Chinesen, die ich als Freunde betrachtete, Aktionen, die nicht sehr freundlich waren (lacht herzhaft). Und als ich 24 war, verlor ich mein Heimatland und musste ins Exil. Seit 54 Jahren lebe ich als Flüchtling, und die Nachrichten aus Tibet bleiben beunruhigend. Im Exil in Indien traf ich aber viele wichtige Menschen, unter ihnen interessante Wissenschaftler. Ich erfuhr viel über andere Religionen. Ausserdem konnte ich meine eigene Geschichte erzählen und weltweit teilen. Mein Leben war also schwierig, aber auch ziemlich nützlich.
Glücklich auch?
Schauen Sie mir ins Gesicht. Haben Sie den Eindruck, ich sei glücklich oder missmutig? (Er lässt die Mundwinkel kurz fallen, schaut kurz griesgrämig, um dann herzhaft zu lachen.)
Seit 2009 haben sich 104 Tibeter als Protest gegen die chinesische Besetzung selber verbrannt. Können Sie die Frustrationen dieser Menschen nachvollziehen?
Sicher, wir haben ein klares Bild darüber, was in Tibet passiert. Die Lage ist schwierig. Die Chinesen bauen zwar neue Städte, Dörfer und Flugplätze. Doch die Atmosphäre unter diesem totalitären System ist sehr angespannt. China ist ein Polizeistaat. Jeder Tibeter gilt als verdächtig, entsprechend herrscht permanent Angst.
Weshalb fordern Sie nicht ein Ende dieser Selbstverbrennungen?
Ich habe vor zwei Jahren meine politische Verantwortung abgegeben. Und diese Selbstverbrennungen sind Akte des politischen Protests. Zudem habe ich mich stets als Sprecher der Tibeter gesehen und nicht als ihr Herrscher. Diese Menschen sind mündig und entscheiden selbstständig. Leider bin ich nicht in der Lage, ihnen eine konkrete Alternative zu bieten.
Sind die Selbstverbrennungen auch eine Kritik an Ihrer Politik, die bisher erfolglos geblieben ist?
Das glaube ich nicht. Obwohl diese Menschen sehr verzweifelt sind, üben sie immerhin keine Gewalt gegen andere aus, sondern nur gegen sich selbst. (lange Pause) Ich habe immer die Ansicht vertreten, dass Gewalt die falsche Methode ist. Kein Problem kann mit Gewalt gelöst werden. Wenn ich das der ganzen Welt predige, dann erst recht meinem Volk, sonst wäre ich ein Heuchler.
Trotz Ihrer Strategie ist Tibet nach wie vor von den Chinesen besetzt.
Mahatma Gandhi hatte mit seiner Politik der Gewaltlosigkeit Erfolg. Und auch wir verzeichnen Fortschritte. Es gibt viele Aufsätze von chinesischen Autoren, die unsere Methode voll unterstützten und die eigene Regierung kritisieren. Gäbe es in China nicht die Zensur und viele Falschinformationen, wüssten die Chinesen um unser Prinzip der Gewaltlosigkeit. Dann würden sie unsere Anliegen und Bestrebungen unterstützen.
In Libyen, Tunesien und Ägypten gelang die Revolution auch dank dem Einsatz von Gewalt . . .
(unterbricht) . . . Gerade in diesen Ländern führte die Gewalt zu vielen Problemen. Oder nehmen Sie den gewaltsamen Sturz von Saddam Hussein. Auch diese sogenannte Befreiung hatte unerwartete negative Folgen.
Heisst das, die Tunesier hätten besser keine Revolution gemacht?
Um das zu beantworten, müsste ich ein paar Wochen in Tunesien verbringen. Von hier aus kann ich nur spekulieren. Die Geschichte zeigt aber, dass der Einsatz von Gewalt immer negative Konsequenzen hat.
Der tibetische Widerstand war aber nicht immer gewaltlos. Nach Ihrer Flucht 1959 sollen Sie gebilligt haben, dass die CIA tibetische Widerstandskämpfer ausbildete. Sogar zwei Ihrer Brüder sollen dieses Programm organisiert haben.
Mitte der 1950er-Jahre verfolgten zwei meiner Brüder solche Pläne. Aber, ob Sie mir es glauben oder nicht, das wurde mir gegenüber streng geheim gehalten. Ich durfte als Dalai Lama nichts erfahren und erfuhr auch nichts. Erst im März 1959, als ich auf meiner Flucht in den Süden Tibets kam, hörte ich davon und liess dann aus dem Exil in Dharamsala die Rekrutierung von tibetischen Flüchtlingen für das Programm stoppen. Meine Brüder waren sehr wütend.
War nicht auch Opportunismus im Spiel: Schliesslich stoppten die USA Anfang der 70er ihre Militärhilfe für die Exiltibeter, nachdem Kissinger und Nixon zu Mao gereist waren.
Nein, im Gegenteil. Als die US-Militärhilfe endete, wurde offensichtlich, dass unser Weg der Gewaltlosigkeit der richtige war.
Moderne Tibet-Historiker behaupten, Tibet sei nie das irdische Paradies im fernen Himalaja gewesen, das Sie nun den Tibetern als Vision eines Staates projizieren. Was sagen Sie diesen Kritikern?
Das sogenannte Shangri-La war von Anfang an ein westliches Konzept, das einem Mythos entsprach. Die ursprüngliche tibetische Gesellschaft war wie jede anderen, sie hatte gute und schlechte Eigenschaften. Doch seit der Buddhismus in Tibet Einzug hielt im 7. und 8. Jahrhundert, wurde das Mitgefühl Teil der tibetischen Kultur. Heute kommen viele chinesische aber auch andere Touristen nach Tibet und staunen, wie friedlich die tibetische Gesellschaft ist und wie glücklich. Obwohl die Situation der Menschen sehr schwierig ist. Als wir noch in Tibet lebten, war Mord etwas völlig Undenkbares. Wenn trotzdem ein solches Verbrechen geschah, war das eine grosse Neuigkeit, und alle waren schockiert. Mit dem Einmarsch der Chinesen hingegen wurde der gewaltsame Tod fast zur Routine (lacht).
Wieso hat unsere westliche Kultur oder auch die chinesische dieses Mitgefühl verloren?
Es geht um Liebe, Mitleid, Vergebung, Toleranz – das sind die Grundlagen der Gewaltfreiheit, die auch die chinesische und die westliche Kultur kennen. Doch seit zwei Jahrhunderten haben Wissenschaft und Technologie die Aufmerksamkeit der Menschen zu sehr auf materielle Werte gelenkt, und der Einfluss der Religionen ist zurückgegangen. Damit nahm die Gier zu. Aber im Grunde sind wir Menschen alle gleich. Wir alle haben dank der Muttermilch überlebt, wir alle haben die Zuneigung einer Mutter erfahren. Die Natur des Menschen ist deshalb im Prinzip sanftmütig. Manchmal aber vernachlässigen wir die zentralen menschlichen Werte. Heute, so scheint mit, ist jedoch sowohl in den USA als auch in Europa ein gewisses Umdenken festzustellen.
Die Schweiz strebt mit China ein Freihandelsabkommen an. Ein Treffen mit Ihnen hat der Bundesrat aber ausgeschlagen, denkt unsere Regierung zu materialistisch?
Nein, wieso denn? Ein Freihandelsabkommen mit China ist eine gute Sache. Dieses Land muss sich entwickeln können. Es ist falsch, China zu isolieren oder eindämmen zu wollen. Wenn China sich der Weltgemeinschaft auf wirtschaftlichem Gebiet anschliessen möchte, sollte es willkommen geheissen werden. Gleichzeitig hat aber die freie Welt die moralische Verpflichtung, dafür die Einhaltung der Demokratie und der Menschenrechte einzufordern.
Ist es nicht frustrierend, dass die Schweizer Regierung gegenüber der chinesischen Führung weder die Selbstverbrennungen anspricht noch eine Verbesserung der Menschenrechtslage verlangt?
Fragen Sie doch Ihre Regierung, ob sie mit dieser Politik zufrieden ist (lacht).
Sie haben sich aus der Politik zurückgezogen, treffen aber im Bundeshaus Schweizer Politiker . . .
Bundeshaus?
Das Schweizer Parlament. Sie werden die Parlamentspräsidentin treffen. Was erwarten Sie von ihr?
Es ist meine Pflicht, dafür zu danken, was dieses kleine, gebirgige Land (lacht) mitten in Europa seit 1960 getan hat. Die Schweiz hat Tausenden Tibetern eine neue Heimat gegeben und vor allem auch vielen tibetischen Kindern – (er zeigt auf einen seiner Mitarbeiter) Du bist doch auch eins dieser Kinder? (lacht). Erst später haben auch Kanada und die USA tibetische Flüchtlinge aufgenommen. Aber ganz am Anfang, als wir noch sehr isoliert waren international, hat uns dieses Land geholfen.
Sie kommen oft nach Europa. Seit einigen Jahren befindet sich der Kontinent in der Eurokrise. Was würden Sie Europa raten?
Oh, für solche Fragen bin ich die falsche Adresse. Ich weiss es nicht. Ich weiss, wie man Geld ausgibt, aber nicht, wie man zu Geld kommt. (lacht)