Die Geheimnisse, die China vor der Welt verbirgt

23. Oktober 2017

Die Kommunistische Partei nennt den 19. Parteitag „offen und transparent“. Dabei kontrolliert sie das Land so scharf wie nie zuvor. Je erfolgreicher China wirtschaftlich wird, desto mehr versucht sich die Volksrepublik auch an moderner Kommunikation. Vor dem 19. Parteitag hat sich die Kommunistische Partei nun also Offenheit und Transparenz verordnet. So weit die Theorie.

Von Johnny Erling

Als die BBC im Vorfeld des Parteitags über Blockaden des Internets und Kontrolle der Chaträume in China berichtete, wurde der britische Sender innerhalb des Landes kurzerhand abgeschaltet. Schon im Juni schlossen die Behörden für Cybersicherheit vorsorglich 25 soziale Netzwerke. Suchdienste wurden als Hilfspolizisten verpflichtet, in ihrem Netz ein „gesundes öffentliches Meinungsumfeld zu garantieren“. Wir listen auf, welche Themen man in Peking trotzdem besser nicht anspricht.

1. Die grosse chinesische Firewall

Chinas Zensur hat die ausgefeilteste Online-Firewall der Welt aufgebaut. Ihr wirkliches Ausmass gehört zu den vielen Staatsgeheimnissen Pekings. Die Firewall blockiert die Zugänge zu Google, YouTube, Facebook oder Twitter. Internetexperten gehen von mindestens 3000 gesperrten Nachrichtenwebseiten aus. Seit Kurzem versuchen die Ämter für Cybersicherheit, auch Tunnel- und Umgehungssoftware (sogenannte VPN) zu verbieten, und schränken die Nutzung von WhatsApp ein. Kritisch äusserte sich jetzt der deutsche Botschafter Michael Clauss über Pekings vielfältige Anstrengungen, „den Zugang zu internationalen Informationen und ungehinderter grenzüberschreitender Kommunikation“ zu erschweren. „Leben und Arbeiten werden in China umso weniger attraktiv, je höher die digitalen Mauern wachsen.“

2. Geheimnis um Opferzahlen

Die Volksrepublik war immer eine „Grossmacht der Geheimnisse“, wie das couragierte Magazin „Yidu“ einst schrieb; heute ist es eingestellt. Erst ab August 2005 erlaubte Peking seinen Medien, über Naturkatastrophen zu berichten und wirkliche Opferzahlen zu nennen. Sie gab das auch rückwirkend frei. So erfuhr die Nation erstmals von schockierenden Unglücken. 30 Jahre verschwieg etwa die Provinzführung von Henan den Tod von 85.600 Menschen. Sie starben, als im August 1975 der Banqiao-Riesendamm brach.

3. Willkürurteile

Mit Transparenz über Recht und Gesetz zu regieren, darum schert sich die Führung der Volksrepublik immer noch nicht. Das gilt für die Willkürurteile seiner Justiz gegen Oppositionelle und Dissidenten ebenso wie für die vielen geheimen, parteiinternen Festnahmen sogenannter korrupter Funktionäre durch Disziplinwächter und Tribunale, vor die sie dann gestellt werden – ohne Anwälte.

4. Todesstrafe

Die Justiz verschweigt bis heute, wie viele Todesurteile sie jährlich verhängt und wie viele Menschen sie exekutieren lässt. Nach Recherchen der auch von Peking respektierten US-Menschenrechtsgruppe Dui Hua (Dialog) sollen die Zahlen der Hinrichtungen von 12.000 im Jahr 2002 auf rund 6500 im Jahr 2007 und seither auf ein Drittel davon zurückgegangen sein. Doch das wären immer noch mehr Hinrichtungen als in allen anderen Ländern der Welt zusammen. Wohl auch deshalb verschweigt Peking die Zahl.

5. Die Panchen-Lama-Frage

Ein Staatsgeheimnis ist auch das bis heute ungeklärte Schicksal des elften Panchen Lama. Der einst ins indische Exil geflohene Dalai Lama fand am 14. Mai 1995 mithilfe tibetischer Mönche den sechsjährigen Gendün Chökyi Nyima als Wiedergeburt. Drei Tage später verschleppten chinesische Behörden den Jungen mit seinen Eltern. Sie erklärten die Wahl des ihnen verhassten Dalai Lama für „illegal und ungültig“. Im November 1995 liess Peking stattdessen den sechsjährigen Gyeltshen Norbu im Jokhang-Tempel in Lhasa offiziell zum elften Panchen Lama küren. Vom Dalai-Lama-Jungen fehlt dagegen bis heute jede Spur. Chinas Behörden antworten einsilbig: Er sei wohlauf, befinde sich im „schützenden Gewahrsam“ des Staates und wünsche, nicht gestört zu werden.

6. Kampf gegen Bürgerrechtler

Auch die Künstlerin Liu Xia wird ohne Rechtsgrundlage heimlich unter Hausarrest gehalten. Sie büsst weiterhin dafür, die Frau des am 13. Juli nach sieben Jahren Gefängnis an Leberkrebs gestorbenen Friedensnobelpreisträger Liu Xiaobo zu sein. Nach Lius Verurteilung 2010 wurde die heute 56-Jährige ohne Anklage oder Richterbeschluss von den Behörden in Sippenhaft genommen und in ihrer Pekinger Wohnung festgesetzt. Nach dem Tod ihres Mannes erhielt die Witwe ihre Freiheit nicht zurück. Dutzende weitere Bürgerrechtler mussten jetzt die Hauptstadt zwangsverlassen, um die Kreise des Parteitags nicht zu stören.

 

Die Welt, 18.10.17; recherchiert von Jan T. Andersson