ORF, 8.5.15 –
Der Sondergesandte des Dalai Lama in Europa, Kelsang Gyaltsen, hat bei seinem jüngsten Österreich-Besuch mit religion. ORF.at unter anderem über die Lage in Tibet und die Frage nach dem nächsten Dalai Lama gesprochen.
Journalisten ist die Einreise nach Tibet nicht erlaubt, weshalb es nur wenige Informationen über die Zustände in der von China kontrollierten Region gibt. Die Exiltibeter werfen der restlichen Welt vor, tatenlos zuzusehen, wie das Land und seine Kultur systematisch ruiniert werden.
religion.ORF.at: Herr Gyaltsen, Sie waren acht Jahre lang mit dem Dialog mit China beauftragt – was hat diese Zeit gebracht?
Gyaltsen: Wir haben 2002 einen Dialog mit der chinesischen Seite beginnen können – die letzte Zusammenkunft gab es 2010. Insgesamt sind wir in dieser Zeit zehn Mal zusammengekommen. Wir haben versucht, von tibetischer Seite aus der chinesischen Regierung klarzumachen, dass der Dalai Lama und die tibetische Regierung im Exil keine Trennung oder Unabhängigkeit Tibets anstreben, sondern eine echte Autonomie für das tibetische Volk im Rahmen des chinesischen Staatsverbands – sodass es den Tibetern möglich ist, in der eigenen Heimat die eigene Kultur, Sprache, Religion und Tradition zu bewahren und zu pflegen.
2008 haben wir der chinesischen Regierung ein Memorandum mit unseren Vorstellungen über eine echte Autonomie für das tibetische Volk im Rahmen des chinesischen Staatsverbands übergeben. Aber leider hat die chinesische Seite unsere Vorschläge allesamt zurückgewiesen und sie als versteckte Forderung nach Unabhängigkeit interpretiert. Aufgrund dieser Situation konnten wir keine Fortschritte erzielen.
religion.ORF.at: Worin liegt das größte Problem?
Gylatsen: Ich glaube nicht, dass die chinesische Führung den politischen Willen hat, das Tibet-Problem anzupacken und eine Lösung zu suchen. Und deshalb versteckt sie sie hinter der Anschuldigung, dass die Tibeter nach Unabhängigkeit und Trennung streben würden. Wir haben unsererseits alles Erdenkliche getan, um der chinesischen Seite klarzumachen, dass wir keine Unabhängigkeit oder Trennung anstreben, sondern eine echte Autonomie. Aber die chinesische Seite fährt fort, sich hinter dieser Anschuldigung zu verstecken und einen Dialog mit den Tibetern zu verweigern.
In dieser Situation, glaube ich, muss jetzt eine dritte Partei eingreifen. Die internationale Gemeinschaft ist jetzt gefragt, vermittelnd und helfend einzugreifen, um das gegenseitige Misstrauen abzubauen und Vertrauen auf beiden Seiten aufzubauen. Ohne die Intervention einer dritten Partei und der internationalen Gemeinschaft sehe ich wenig Möglichkeit, diese Kluft zu überbrücken.
religion.ORF.at: Zum Dalai Lama: China hat erklärt, den nächsten Dalai Lama bestimmen zu wollen – geht das überhaupt?
Gyaltsen: Natürlich geht es nicht, dass eine Regierung in die religiösen Belange einer Glaubensgemeinschaft eingreift. Und es geht noch weniger, wenn es sich um eine atheistische, kommunistische Regierung handelt, die Religion als „Opium für das Volk“ betrachtet. Wenn sich eine solche Regierung anmaßt, für die Wiedergeburt des nächsten Dalai Lama zuständig zu sein, dann ist das so eine krasse Verletzung der tibetischen religiösen Werte und Gefühle.
Hier sehen wir deutlich, dass die Besetzung Tibets und die Herrschaft der Chinesen über das tibetische Volk nicht nur politische Unterdrückung beinhaltet, sondern dass es hier um die kulturelle, religiöse und sprachliche Vergewaltigung eines ganzen Volkes geht. Auch hier ist es wichtig, dass die internationale Gemeinschaft klar Stellung bezieht, dass eine solche eklatante Einmischung einer Regierung in die religiösen Belange einer Religionsgemeinschaft nicht akzeptierbar und tolerierbar ist.
religion.ORF.at: Wie ist das Leben für die Tibeter jetzt in ihrem eigenen Land?
Die Situation für die Tibeter in Tibet hat sich seit 2008 dramatisch verschlechtert. Die Tibeter haben nicht nur mit einem starken Zustrom durch Chinesen zu leben, die die Tibeter in die Minderheit versetzen, sondern seit 2008 – als es zu großen Unruhen in Tibet kam – hat eine massive Verschärfung der Präsenz von Polizeikräften und Militär stattgefunden.
In entlegendsten Dörfern wurden Polizeistationen errichtet und die Videoüberwachung der Bevölkerung – vor allem in den Städten – ist massiv und dicht. Die Bewegungsfreiheit der Tibeter ist stark eingeschränkt. Wenn zum Beispiel Tibeter in einem anderen Bezirk Verwandte oder Freunde besuchen wollen, müssen sie drei, vier, fünf Genehmigungen einholen. Chinesen können überall frei herumreisen.
Es hat sich auch die sogenannte patriotische Erziehungskampagne sehr intensiviert. Das heißt, in den Klöstern, in den Schulen, an den Arbeitsplätzen werden Tibeter zu Sessions gezwungen, in denen sie den Dalai Lama verunglimpfen und Loyalität mit der chinesischen kommunistischen Partei bekunden müssen.
Kürzlich hat der chinesische Parteisekretär in Tibet gefordert, auf allen Klöstern die chinesische Fahne zu hissen und als Propaganda-Zentralen für die kommunistische Regierung zu fungieren. Das ist ein wirklich krasser Missbrauch von Klöstern und dem tibetischen Volk.
religion.ORF.at: Der jetzige Dalai Lama, Tenzin Gyatso, hat bereits mehrmals angekündigt, es würde vielleicht keine Inkarnation des Dalai Lama mehr geben. Was würde das für die Tibeter bedeuten?
Gyaltsen: Wenn es keinen Dalai Lama mehr geben würde, würden die Tibeter natürlich ein Gesicht verlieren, das in der Welt als Symbol für Tibet steht. Den tibetischen Buddhismus gab es aber schon lange, bevor die Tradition des Dalai Lama begonnen hat, daher bin ich überzeugt, dass der tibetische Buddhismus auch weiterlebt, wenn es keinen Dalai Lama mehr geben würde. In der derzeitigen schwierigen Situation ist es aber natürlich sehr wichtig, eine Integrationsfigur wie den Dalai Lama zu haben, der ihre Bestrebungen nach Freiheit und ihren Grundrechten bündelt.
Seit Beginn seines Exils (1959, Anm.) hat der Dalai Lama in weiser Voraussicht Schritt für Schritt begonnen, die tibetische Exilgemeinschaft zu demokratisieren. So ist es uns in den letzten 50 Jahren gelungen, im Exil eine sehr effiziente, intakte und funktionierende Institution aufzubauen. Auch wenn der Dalai Lama nicht am Leben ist, wird das tibetische Volk vor großen Herausforderungen stehen, aber er hat die demokratischen Strukturen geschaffen, sodass die Bestrebungen des tibetischen Volkes weitergehen werden.
religion.ORF.at: Themenwechsel: Der Buddhismus gilt im Allgemeinen als friedliche Religion. Was bewegt buddhistische Mönche in Burma (Myanmar) dazu, teilweise gewaltsam gegen die muslimische Minderheit vorzugehen?
Gyaltsen: Das macht deutlich, dass Buddhisten einfach auch Menschen sind und auch Buddhisten sind anfällig für Hass, Fremdenfeindlichkeit und Feindseligkeit gegenüber anderen Menschen. Der Dalai Lama hat, als er von den Konflikten in Burma gehört hat, einen Appell an die Buddhisten in Burma gerichtet und gesagt: Wenn ihr einen Muslim seht, dann versucht ihn euch als Buddha vorzustellen. Das kann helfen, die Ressentiments zu schwächen und für andere Gefühle Platz zu machen.
religion.ORF.at: Wirkt das?
Gyaltsen: Ich hoffe schon! Ich kann mir nicht vorstellen, dass es in Burma die große Mehrheit der Buddhisten ist, die sich zu solchen Feindseligkeiten gegenüber Muslimen verleiten lässt. Ich bin sicher, dass die Mehrheit der Buddhisten eine friedliche Koexistenz mit den Muslimen haben wollen.
religion.ORF.at: Was bedeutet es aus Ihrer Sicht, dass der österreichische Bundespräsident Heinz Fischer den Dalai Lama bei dessen Österreich-Besuch 2012 nicht empfangen hat?
Gyaltsen: Ich glaube, wenn freie Demokratien so eingeschüchtert sind, dass sie mit jemandem wie dem Dalai Lama, der für die große Mehrheit der Weltbevölkerung überzeugend für Gewaltlosigkeit, Versöhnung, für interreligiösen und interkulturellen Dialog eintritt, nicht zusammenkommen möchten, dann ist das ein trauriges Zeugnis für unseren Freiheitsbegriff.
Vor allem, weil die westlichen Demokratien ja das Prinzip der Menschenrechte als universell und unteilbar ansehen – dazu muss man auch stehen! Daher war es eine unkluge Entscheidung. Aber in meinem Alter weiß man, wie die Realität in der Welt aussieht, und dass nicht alle Menschen nach Überzeugungen und Prinzipien handeln.
Es ist wichtig für Oberhäupter von Demokratien, dass sie für fundamentale Menschenrechte und Freiheiten einstehen – auch wenn es von einem mächtigen Land wie China Einschüchterungsversuche und Druck gibt.
Das Gespräch führte Nina Goldmann; religion.ORF.at
Verhältnis China-Tibet
China hält Tibet seit dem Jahr 1951 besetzt und kontrolliert die autonome Region sowie die anliegenden Provinzen, in denen ebenfalls zahlreiche Tibeter leben, mit harter Hand. Aus Protest gegen die chinesische Herrschaft haben sich in den vergangenen Jahren mehr als 140 Tibeter selbst angezündet.
Biografische Daten
Kelsang Gyaltsen wurde 1951 in Tibet geboren, verbrachte ab seinem zwölften Lebensjahr 20 Jahre in der Schweiz. In den Jahren 2002 bis 2010 war er mit dem Dialog mit China beauftragt, seit 2012 fungiert er als Sondergesandter des Dalai Lama in Europa.
17. April 2015, Deutsche Welle –
Im jüngsten Weissbuch zur Tibet-Politik hat Peking Gesprächen mit Vertretern des Dalai Lama eine Absage erteilt. Die DW sprach mit dessen Europa-Beauftragtem Kelsang Gyaltsen über Lösungsmöglichkeiten.
Deutsche Welle: Im jüngsten Weissbuch des chinesischen Staatsrats wird dem Dalai Lama vorgeworfen, die Unabhängigkeit Tibets zu betreiben. Die chinesische Regierung behauptet auch, dass die Situation im heutigem Tibet viel besser als vor Jahrzehnten sei. Enthält das Weissbuch vielleicht trotzdem Änderungen der chinesischen Tibet-Politik?
Kelsang Gyaltsen: Leider glaube ich das nicht. Zwar habe ich das Weissbuch noch nicht vollständig lesen können, aber das, was bislang darüber berichtet wird, lässt auf keine Änderung der chinesischen Tibet-Politik schliessen, sondern vielmehr darauf, dass die chinesische Regierung an der bisherigen Linie ihrer Tibet-Politik festhalten will. Beispielweise wird erneut behauptet, dass der Dalai Lama und die Exiltibeter das alte System Tibets wiederstellen wollten. Das ist natürlich reine Rechtfertigungspropaganda für die Besetzung und Beherrschung Tibets durch China.
Hat China seine Tibet-Politik nach der Machtübernahme Xi Jinpings verschärft?
Es ist die einhellige Beobachtung und Schlussfolgerung von Menschenrechtsorganisationen und Beobachtern, dass die Unterdrückung und Überwachung in Tibet seit den grossen Unruhen in Tibet in 2008 viel intensiver und schärfer geworden ist. Auch die Bewegungsfreiheit der tibetischen Bevölkerung ist seither sehr begrenzt.
Wie wird die tibetische Exilregierung auf das Weissbuch des chinesischen Staatsrates reagieren?
Unsere Bestrebung ist darauf ausgerichtet, wieder direkten Kontakt zur chinesischen Regierung zu knüpfen und in einen Dialog mit Chinas Führung einzutreten. An diesem politischen Kurs wird sich nichts ändern. Wir werden weiterhin alles in Bewegung setzen und alles tun, damit es zu einem direkten Kontakt und zu einem vernünftigen Dialog mit der chinesischen Führung kommt.
Sie sprechen viel vom Dialogversuch. Aber gleichzeitig schlägt die chinesische Regierung einen schärferen Ton an. Versuchen Sie nicht auch, mehr Druck auf die chinesische Regierung auszuüben?
Man muss zur Kenntnis nehmen, dass einerseits die Unterdrückung durch die chinesische Regierung seit 2008 massiv zugenommen hat. Aber andererseits ist auch der gewaltlose Widerstand der Tibeter in Tibet so stark und weit verbreitet wie nie zuvor. Was mich sehr überrascht und betroffen macht, ist, dass die Weltöffentlichkeit wenig Kenntnis davon nimmt, dass sich seit 2011 aus Protest gegen die Unterdrückung der chinesischen Regierung 136 Tibeterinnen und Tibeter verbrannt haben. Der jüngste tragische Fall hat vor einer Woche, am 8. April, stattgefunden.
Die Intention der 136 Tibeter war es ganz offensichtlich, einen Wechsel der chinesischen Tibet-Politik herbeizuführen, ohne dabei Chinesen zu schädigen oder gar zu töten. In diesem Sinne handelte es sich für uns Tibeter um gewaltlosen Protest. Diese Selbstverbrennungsproteste sind nur die Spitze des Eisberges von vielfältigen gewaltlosen Widerstandsformen, die heute in Tibet praktiziert werden. Aufgrund dieser Situation fühlt sich Chinas Regierung stark verunsichert, was ihre Position in Tibet betrifft. Deshalb greift sie zu noch mehr Unterdrückung und staatlicher Gewalt, anstatt in einen Dialog mit Tibetern zu treten und eine friedliche und einvernehmliche Lösung zu suchen.
Chinesische Medien werfen vor den Tibetern vor, dass die Selbstverbrennungen alles andere als “gewaltlose Proteste” seien. Im Weissbuch steht, dass der Dalai Lama die Selbstverbrennungen angestiftet hätte.
Die tibetische Exilführung hat wiederholt an die Tibeter in Tibet appelliert, nicht zu solchen drastischen Protesten zu greifen, weil jedes Leben wichtig ist. Ob eine Tat gewalttätig oder gewaltfrei ist, hängt im Buddhismus entscheidet von der Motivation ab. Wenn man aus Wut, Zorn oder Hass eine Tat begeht, dann ist sie gewalttätig. Aber in den vorliegenden Selbstverbrennungsfällen wollten die “Täter” keine Mitmenschen schädigen oder töten, sondern nur einen Wechsel der chinesischen Tibet-Politik herbeiführen, damit das tibetische Volk mit seiner eigenständigen Kultur, Religion und Sprache überleben kann. Hier kann man nicht von gewalttätigen Protesten sprechen.
Was Chinas Anschuldigung betrifft, dass der Dalai Lama und die tibetische Exilführung diese Proteste angestiftet hätten, so sind sie aberwitzig und haltlos. Wir haben immer gefordert, dass eine unabhängige internationale Beobachtergruppe nach Tibet einreisen und dort die tragischen Selbstverbrennungsfälle gründlich untersuchen soll. Aber wie allgemein bekannt ist, lässt die chinesische Regierung nur sehr selten Diplomaten, Menschenrechtsorganisationen oder Journalisten nach Tibet einreisen. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, wer die chinesischen Anschuldigungen und Behauptungen überprüfen soll. Im Falle der Ukraine werden Präsident Putins Aussagen von vielen westlichen Regierungen und Medien kritisch hinterfragt und auch widerlegt. Aber Chinas Anschuldigungen und Lügen über den Dalai Lama und zu Tibet werden von niemanden beanstandet.
Laut chinesischem Weissbuch streben der Dalai Lama und die Exiltibeter nach Unabhängigkeit für Tibet. Der Dalai Lama betont dagegen immer wieder, dass er den sogenannten “mittleren Weg” gehen will. Chinas Führung meint aber, das sei nur ein Ablenkungsmanöver.
Hier kommen wir zu einem Kernproblem im chinesisch-tibetischen Konflikt: Das tiefe gegenseitige Misstrauen. Obwohl der Dalai Lama und die tibetische Führung im Exil seit Jahrzehnten öffentlich erklären, dass wir keine Abtrennung und Unabhängigkeit Tibets anstreben, sondern eine echte Autonomie im Rahmen der Volksrepublik China, fährt die chinesische Regierung fort, uns vorzuwerfen, eine “hidden agenda” zu haben und letztendlich die Unabhängigkeit anzustreben.
Wir sind der Meinung, dass die chinesische Führung nicht den politischen Willen aufbringt, eine friedliche Lösung des Tibet-Problems zu suchen. Auf der anderen Seite wirft die chinesische Regierung uns vor, dass wir die Unabhängigkeit anstreben. Es ist offensichtlich, dass diese Kluft zwischen Tibetern und der chinesischen Regierung nur mit Hilfe einer dritten Partei überbrückt werden kann. Hier ist jetzt die Hilfe und Intervention der internationalen Gemeinschaft gefragt. Eine dritte Partei muss als Vermittler und Garant in diesem Konflikt auftreten. Die deutsche Bundesregierung oder die europäische Union könnten diese Rolle übernehmen.
Die internationale Gemeinschaft darf nicht länger eine passive Zuschauerin der Tragödie auf dem Dach der Welt bleiben. Ich wiederhole: die einzige Möglichkeit, das Misstrauen zu überwinden, ist, dass eine dritte Partei vermittelt und garantiert, dass die beiden Seiten zu den Aussagen, die sie gemacht haben, stehen.