NZZ, 16.11.2014, Beat U. Wieser –
In Peking begegnet man auch Personen im näheren Umfeld der Partei, die eine differenziertere Sicht auf die Tibet-Problematik haben. Sie wollen allerdings nicht namentlich erwähnt werden und wirken vor dem Hintergrund der offiziell vertretenen harten Parteilinie noch sehr vereinzelt. Auf eine Verteufelung des Dalai Lama als Staatsfeind und Separatist verzichten sie bewusst. Die Rede ist vielmehr davon, dass das geistliche Oberhaupt der Tibeter mit seiner Idee eines sogenannten mittleren Wegs, einer Autonomie im chinesischen Rahmen, zwar schon Zugeständnisse gemacht habe, aber immer noch zu umfassende politische Machtansprüche hege. Konkret erwähnt wird in diesem Zusammenhang die Forderung, dass sich eine künftige Autonomie über das ganze tibetisch besiedelte Gebiet erstrecken müsse, also bis weit in die an das heutige Tibet angrenzenden chinesischen Provinzen. In solchen Punkten müsse der Dalai Lama noch zurückstecken. Wiederaufnahme des Dialogs Eine Änderung der harten Tibet-Politik der chinesischen Regierung wird aber für unumgänglich gehalten – zumindest was die Respektierung der Funktion des Dalai Lama als von allen Tibetern verehrtes geistliches Oberhaupt betrifft. Es wird darauf verwiesen, dass es seitens der Regierung Tibets wieder Signale für eine Wiederaufnahme des Dialogs mit den Vertretern des Dalai Lama gebe. Letztlich liege der Entscheid aber bei Präsident Xi Jinping. Dieser sei im Moment sehr stark auf die Antikorruptionskampagne fokussiert, werde sich aber sicher in der zweiten Hälfte seiner Amtszeit verstärkt mit der Tibet-Frage auseinandersetzen. Erwähnt wird in diesem Zusammenhang, dass aus dem innersten Machtzirkel bereits Töne der Veränderung erklungen seien. So wird etwa Yu Zhengsheng zitiert, der dem ständigen Ausschuss des Politbüros angehört, häufig nach Tibet reist und von Präsident Xi Jinping zum Vorsitzenden der beiden «leading small groups» für Tibet und Xinjiang ernannt worden ist. Diese informellen Parteiorgane umfassen hohe Funktionäre, beraten in politisch-strategischer Hinsicht das Politbüro und koordinieren die Umsetzung von dessen Entscheiden. Yu soll kürzlich gesagt haben, dass bei der Ausbeutung von Bodenschätzen in Tibet den Einwänden der lokalen Bevölkerung, für die die Berge heilig seien, sehr viel mehr Rechnung getragen werden müsse. Solche Rücksichtnahme bei einem prioritären Vorhaben sei bisher von der Führungsspitze nie signalisiert worden, wird unterstrichen. Es wird auch auf die Veränderungen in Teilen der chinesischen Gesellschaft hingewiesen, wo eine gewisse Hinwendung zum Buddhismus zu beobachten sei. Das beeinflusse letztlich auch den Kurs der Regierung in der Tibet-Frage, doch gehe alles nur Schritt für Schritt und langsam voran. Nicht zu lange warten Die Besorgnis, dass alles zu langsam gehen könnte und der 14. Dalai Lama stirbt, bevor man sich mit ihm ins Einvernehmen gesetzt hat, was chinesischen Hardlinern durchaus gelegen käme, aber möglicherweise auch tibetischen Extremisten Auftrieb gäbe, wird nicht von der Hand gewiesen. Generell wird es als problematisch empfunden, dass alle politischen Reformen in China den gesellschaftlichen und ökonomischen Entwicklungen so weit hinterherhinken. Doch der Optimismus wird von solchen Sorgen nicht tangiert. In der Tibet-Politik komme man nicht um Veränderungen herum, wird