Tibet: Chinas Bulldozer fahren in buddhistischer Stätte auf. Mit ARD-Multimedia-Report.

29. Juli 2016

Spiegel, 29.7.16, Vanessa Steinmetz –

Rund 10.000 Gläubige versammeln sich in dem bedeutenden buddhistischen Zentrum Larung Gar. China will große Teile nun abreissen lassen – offiziell aus Brandschutzgründen. Oder geht es doch um politische Unterdrückung?

Westliche Journalisten werden von der Regierung nicht auf das Gelände vorgelassen, die Angaben sind daher kaum zu überprüfen. Vor kurzem gelang es der ARD, in Larung Gar Aufnahmen zu machen.

(die Multimedia-Reportage dazu: http://reportage.daserste.de/larung-gar-buddhismus-moenche#31546).

Geländewagen fahren die staubige Strasse ins Tal hinunter, Arbeiter sind auf den Ladeflächen der Wagen zu sehen. Tausende kleine Hütten säumen die Berge ringsherum. Sie gehören zu Larung Gar, einem bedeutendem Lehrinstitut für tibetischen Buddhismus, in dem zu dieser Zeit mehr als 8000 Mönche, Nonnen und Schüler leben. Als die Arbeiter aussteigen, haben sie ihre Werkzeuge schon geschultert. Flankiert von Polizisten beginnen sie damit, die Wände der kleinen Holzhäuser einzureissen und Dächer abzutragen. Einen Tag später sind an der Stelle nur noch Schutt und Bretter übrig.

Videoaufnahmen davon werden von Menschenrechtsorganisationen verbreitet, sie sind auf mehrere Tage im Sommer 2001 datiert. Innerhalb weniger Tage liess die chinesische Regierung mehr als tausend Hütten abreissen. Offiziell sollten so „Überbevölkerung“ und „unhygienische Verhältnisse“ beendet werden, so ein Regierungserlass. Doch immer wieder lässt Peking Klöster und buddhistische Institutionen zerstören, in denen es „Brutstätten für antichinesische Aktivitäten“ vermutet.

Nun wiederholen sich die Ereignisse in Larung Gar.

Nach dem ersten Teilabbruch hatten sich dort wieder Tausende Bewohner angesiedelt, ihre Zahl wird gegenwärtig auf etwa 10.000 geschätzt – damit ist es eines der größten religiösen Zentren der Welt. Doch Menschenrechtsgruppen wie die International Campaign for Tibet (ICT) berichten, dass Peking wieder Abrisskolonnen in das Tal im äußersten Nordwesten der Provinz Sichuan, östlich der Autonomen Region Tibet, schickt.

In der vergangenen Woche seien Arbeiter an dem Institut eingetroffen, begleitet von Offiziellen der Regierung und Sicherheitskräften, berichtet etwa die Organisation Free Tibet. Sofort hätten sie begonnen, Hütten der Anlage abzureissen. Im Netz kursieren Bilder und ein kurzes Video, welche die Zerstörung belegen sollen. „Die aktuellen Abrissarbeiten waren in einer Anordnung der Kreisverwaltung angekündigt worden“, sagt Kai Müller vom ICT in Deutschland. In der offiziellen Ankündigung ist das Ziel ausgegeben worden, bis Ende September 2017 die Anzahl der Bewohner von Larung Gar zu halbieren. „Allem Anschein nach waren die religiösen Institutionen von Larung Gar nicht in die Entscheidungsfindung einbezogen.“ Zudem ist geplant, dass die Regierung an der Verwaltung der buddhistischen Institution maßbeglich beteiligt wird – das bedeutet größere Kontrolle.

Bei Larung Gar handelt es sich um eine besonders bedeutungsvolle Stätte. Das buddhistische Lehrinstitut der „Fünf klassischen Wissenschaften“ wurde 1980 von Khenpo Jigme Phuntsok gegründet, der zunächst nur einige Dutzend Schüler um sich versammelte. In kurzer Zeit zogen immer mehr Gläubige in das auf 4000 Metern Höhe gelegene, bis dahin kaum besiedelte Tal, um etwa buddhistische Philosophie und Logik, aber auch Rhetorik zu lernen.

Offiziell garantiert China nach Artikel 36 der Verfassung den Tibetern heute eine „normale“ Ausübung ihrer Religion. Die Volksbefreiungsarmee marschierte 1950 in Tibet ein – daraufhin wurde der tibetische Buddhismus systematisch zerstört. Während der Kulturrevolution zwischen 1966 und 1976 kam es erneut zur Zerstörung von Klöstern und Verfolgung der Gläubigen. Erst nach dem Tod von Mao Zedong entspannte sich die Lage wieder etwas.

Vor allem im Westen des Landes, inklusive Sichuan, kam es in den vergangenen Jahren jedoch immer wieder zu Protesten gegen die chinesische Herrschaft, besonders die Selbstverbrennung von Tibetern sorgte für weltweites Aufsehen. Seit 2009 haben sich mehr als 140 von ihnen aus Protest angezündet. Die meisten überlebten nicht. Die Tibeter klagen über religiöse Unterdrückung und angesichts des zunehmenden Zuzugs von Han-Chinesen über soziale Marginalisierung in ihrer Heimat.

Peking hatte die Vorwürfe stets zurückgewiesen und versichert, die freie Religionsausübung zuzulassen. Verantwortlich für die Proteste machten die Offiziellen den Dalai Lama, der sich seit 1959 im indischen Exil aufhält.

Auch die aktuellen Vorwürfe weist die Regierung von sich. Die „Global Times“, ein Ableger der Parteizeitung „Volkszeitung“, schreibt, es handele sich bei den Arbeiten in Larung Gar lediglich um Brandschutzmassnahmen. Durch den Abriss sollten Wege für die Feuerwehr freigehalten werden. Das Blatt zitiert zudem einen Regierungsvertreter, der angibt, die buddhistischen Lehrer selbst versuchten, die Zahl der Bewohner von Larung Gar zu begrenzen.

Menschenrechtler bestreiten diese Darstellung. „Das Vorgehen der Behörden stellt einen nicht zu rechtfertigenden Eingriff in das Recht auf freie Religionsausübung dar“, sagt Kai Müller vom ICT. „Sollten tatsächlich bauliche oder infrastrukturelle Eingriffe geboten sein, so müssen diese im Einvernehmen mit den Betroffenen und ohne die willkürliche Zerstörung von Privateigentum erreicht werden.“