Der Bund, 25.5.13, Jean-Michel Wirtz –
Trotz massivem Polizeiaufgebot entrollten Exil-Tibeter auf dem Bundesplatz für kurze Zeit ein Transparent.
Das Bundeshaus war seit dem Morgen mit einem Zaun abgesperrt. Dennoch war die Nervosität bei der Polizei mit Händen zu greifen, als sie sich am Nachmittag in Kampfmontur zwischen Bundeshaus und Waisenhausplatz aufstellte, auf dem – weitab vom Bundeshaus – eine bewilligte Tibeter-Kundgebung durchgeführt wurde. Ein Eklat wie beim Besuch des chinesischen Staatschefs von 1999 sollte offensichtlich unter allen Umständen verhindert werden.
Trotz minutiöser Vorkehrungen der Polizei gelang es acht demonstrierenden Tibetern, auf dem Bundesplatz ein Transparent zu entrollen. Als sie «Free Tibet» skandierten, gab der Einsatzleiter den Räumungsbefehl. Rund 20 Beamte stürzten sich auf die wenigen protestierenden Tibeter und rissen sie zu Boden. Dann trugen sie die Tibeter zu den Einsatzfahrzeugen beim Bundeshaus, mitten durch die spritzenden Springbrunnenfontänen hindurch. «Die Demonstration auf dem Waisenhausplatz war zu weit entfernt», erklärte eine Tibeterin, die von der Polizei festgehalten worden war. «Wir wollten, dass der chinesische Premierminister unsere Botschaft persönlich hört.»
«Meinungsäusserung unterdrückt»
«Diese kleine intensive Aktion finde ich nicht schlecht», sagt Lobsang Gangshontsang, Präsident der Tibeter Gemeinschaft in der Schweiz und Verantwortlicher der bewilligten Demonstration auf dem Waisenhausplatz. Solange niemand zu Schaden komme und gewisse Grenzen nicht überschritten würden, sei jede Aktion für Tibet positiv. Es sei «nicht fein», dass die Stadtregierung die Tibeter nur auf dem fernen Waisenhausplatz habe demonstrieren lassen. Das sei eine massive Beschränkung der Meinungs- und Demonstrationsfreiheit.
Martin Naef (SP), Mitglied der Aussenpolitischen Kommission des Nationalrats (APK), sieht das auch so. «Das Vorgehen der Polizei sendet ein falsches politisches Signal. Hier wurde mit Macht eine offenbar friedliche kritische Meinungsäusserung unterdrückt.» China müsse zur Kenntnis nehmen, dass die Schweiz ein demokratisches System habe. Zudem stelle sich die Frage der Verhältnismässigkeit. «Ich finde es bedenklich, dass man sich nur am politischen Befehl orientierte.»
Der Präsident der APK, Andreas Aebi (SVP), bezeichnete die Präsenz und das Vorgehen der Polizei auf Anfrage als richtig. Sicherheit habe gegenüber einer Demonstration Vorrang, die Schweiz habe schliesslich eine Verantwortung. Die Tibeter lehnten das Freihandelsabkommen mit China nicht ab, sagte Lobsang Gangshontsang. Es brauche aber die Festschreibung «konkreter Massnahmen» im Abkommen, denn die Tibeter würden in China weiterhin als Menschen zweiter Klasse behandelt. «Menschenrechte und die Abschaffung jeglicher Diskriminierung sind ebenso wichtige Themen wie Tarife, Zölle und erleichterter Wettbewerbszugang zu Dienstleistungswirtschaft und Industrie.»
Polizei zieht positives Fazit
Eine Demonstrationsteilnehmerin sagte später dem «Bund», die Polizei habe ihr ein Formular vorgelegt. Sie hätte mit einer Unterschrift bestätigen sollen, dass sie Drittpersonen psychisch und physisch in Gefahr gebracht habe. Sie habe es aber nicht unterschrieben.
Eine Sprecherin der Kantonspolizei sagte dazu, dieses Formular werde bei Kundgebungen vorgelegt, um angehaltenen Personen den Grund dafür zu erläutern. Generell zog die Kantonspolizei Bern am gestrigen Abend ein vorwiegend positives Fazit. «Aus polizeilicher Sicht war die bewilligte Kundgebung ruhig. Acht Personen wurden auf dem Bundesplatz angehalten und weitere drei entlang der Konvoiroute.» Die Demonstranten auf dem Bundesplatz seien angehalten worden, da deren Absicht unklar und nicht ersichtlich gewesen sei. Es habe ein Risiko bestanden, dass sie gefährlicheGegenstände mit sich führen könnten, führte die Sprecherin weiter aus.
Bildquelle: Berner Zeitung