Von Lukas Mesmer
Tibeter waren die Vorzeigeflüchtlinge der Schweiz. Heute gelten sie als Chinesen. Abgewiesene Asylbewerber stecken fest, weil sie nicht ausgeschafft werden können.
Die Zeiten, als die Schweiz Flüchtlinge aus Tibet mit offenen Armen empfing, sind vorbei. Heute gelten Tibeter in der Schweiz als Chinesen. Im November 2014 hat das Staatssekretariat für Migration (SEM) entschieden, die Herkunftsangabe auf allen Ausweisen «zu harmonisieren». Früher konnten sich Tibeter als «staatenlos» oder mit «Tibet (Volksrepublik China)» registrieren lassen. Jetzt ist nur noch «China (Volksrepublik)» möglich.
Eine rein administrative Änderung, sagt Lukas Rieder vom SEM: «Es hat sich dabei um einen Erfassungsfehler der Verwaltung gehandelt. Die Schweiz anerkennt Tibet nicht als Staat, also kann das auch nicht in einem Pass drin stehen. Diesen Fehler hat man behoben.»
Dem widerspricht Wangpo Tethong. Er war 2014 Teil des tibetischen Exilparlaments und hat sich gegen die Änderung gewehrt. «Diese Weisung des SEM ist sehr überstürzt an die Migrationsämter gegangen und hat uns Tibeter völlig überrascht», sagt er. «Wir vermuten einen politischen Hintergrund.»
Handel oder Menschenrechte
Der Handel zwischen China und der Schweiz hat seit der Jahrtausendwende stark zugenommen. Im Jahr 2014 hat die Schweiz als erstes europäisches Land mit China ein Freihandelsabkommen unterzeichnet. Gleichzeitig ist die Schweiz laut Tethong zum Thema Menschenrechte in China in den letzten fünf bis zehn Jahren immer leiser geworden: «Ich würde sagen, es gibt einen zeitlichen Zusammenhang zwischen Handelsfragen und dem abnehmenden menschenrechtlichen Engagement.»
Seit 2010 ist China für die Schweiz der wichtigste Handelspartner in Asien. Das Handelsvolumen beträgt heute über 30 Milliarden Franken. Dass die Schweiz die chinesische Regierung nicht vergraulen will, dafür hat auch Tethong Verständnis.
China macht Druck
Weltweit setzt China Universitäten, Regierungen und Einzelpersonen unter Druck, Tibet als unveräusserlichen Teil Chinas zu akzeptieren. Auch die tibetischen Exilgemeinschaften. Das hielt auch der Nachrichtendienst des Bundes in seinem Bericht «Sicherheit 2016» unmissverständlich fest: «Das selbstbewusste und fordernde Verhalten Chinas verspürt die Schweiz vor allem in Bezug auf die tibetische Exilgemeinschaft in der Schweiz.»
Mit der Änderung der Herkunftsbezeichnung auf den Ausländerausweisen spiele die Schweiz den Chinesen in die Hände, sagt Tethong: «Es ist unerträglich, dass dieser Entscheid das quasi auch noch legitimiert.» Freude am Entscheid hatten die Propaganda-Medien des chinesischen Staats. Sie feierten den Entscheid der Schweiz, kurz nach dem Staatsbesuch des Präsidenten Xi Jinping.
Weder vorwärts noch rückwärts
Bis 2012 nahm die Zahl der Asylgesuche aus Tibet zu. Danach wieder ab – denn die Behörden verhalten sich in der Praxis gegenüber Tibetern auch im Asylbereich viel restriktiver. Der Grund: Tibetische Flüchtlinge reisen fast ausschliesslich über Indien oder Nepal in die Schweiz. Falls sie dort längere Zeit gelebt haben, gilt ihr Aufenthaltsstatus als sicher und die Behörden anerkennen ihren Flüchtlingsstatus nicht.
Laut dem SEM verschleiern viele Tibeter ihre wahre Identität, um Asyl zu erhalten, obwohl sie in Nepal oder Indien sozialisiert worden seien. Seit einem Bundesverwaltungsgerichtsentscheid von 2014 müssen Tibeter beweisen, dass sie direkt aus Tibet stammen. Sonst wird ihr Gesuch abgewiesen.
Tibeter können nicht ausreisen
Das Problem: Diese abgewiesenen Tibeter können die Schweiz nicht verlassen, weil sie keine Papiere haben. Eine Gruppe von zwanzig Tibetern in Luzern erzählt SRF, wie alle Versuche, bei den indischen und nepalesischen Behörden Dokumente zur Identifikation zu beschaffen, scheiterten. Eigentlich könnten abgewiesene Asylbewerber, die nicht ausgeschafft werden können, eine vorläufige Aufnahme (F-Bewilligung) erhalten.
Dafür kämpft Rechtsanwalt Hannes Munz, der zwei dieser Fälle vertritt: «Es ist offensichtlich nicht möglich, dass man ihre Identität durch ausländische Behörden feststellen lassen kann», sagt er. «Folglich ist es objektiv unmöglich, sie in ein anderes Land zu schaffen. Sie hätten eine Aufenthaltsbewilligung F verdient.»
Tibeter landen bei Nothilfe
Die Tibeter sagen, das SEM glaubt ihnen ihre wahre Herkunft nicht. Laut dem SEM müssten die Tibeter nur wahrheitsgetreue Angaben machen, dann erhielten sie von Indien oder Nepal entsprechende Papiere und könnten zurückkehren.
«Zum einen gibt es Leute, die aus China kommen und auch wirklich bedroht sind. Die kriegen Schutz und müssen auch nicht zurück», sagt Lukas Rieder vom SEM. «Dann gibt es Leute, die falsche Angaben über Identität oder Herkunft machen. Diese Leute, sofern sie nicht glaubhaft machen können, dass sie verfolgt werden, können in einen sicheren Drittstaat zurückkehren.»
Die abgewiesenen, meist jungen Tibeter landen in der Nothilfe. Viele leben seit Jahren hier. Laut tibetischen Organisationen leben in der Schweiz bis zu 500 abgewiesene Asylbewerber aus Tibet, die das Land nicht verlassen können. Sie leben in Notunterkünften, mit Eingrenzungen und Bussen wegen illegalen Aufenthalts. Weder Bund, Kantone, noch die Tibeter selbst wissen einen Weg aus der Pattsituation.
Schweizer Radio und Fernsehen, 30.8.17
Recherchiert von Jan T. Andersson