FAZ 18.5.16, Michelle Gugger –
Im Kanton Zürich beten und studieren Mönche im klösterlichen Tibet-Institut. Auch Schweizer zieht der Buddhismus in den Bergen an.
Dichter Nebel liegt über dem Tösstal. Riesige Laubbäume zeichnen sich als schwarze Schatten vor dem Dämmerungshimmel ab. Das entfernte Rauschen der Töss ist zu vernehmen. Im hügeligen Voralpengebiet im Osten des Kantons Zürich auf 800 Metern Höhe steht auf einer erhöhten Waldlichtung das klösterliche Tibet-Institut. Acht Mönche und ein Abt wohnen hier, unter ihnen der Ehrwürdige Acharya Pema Wangyal. Als drittes Kind einer tibetischen Flüchtlingsfamilie wurde er im indischen Odisha geboren und besuchte die Bundesschule in Masuri, um die 1700 Kilometer weiter nördlich. „Meine Familie war finanziell nicht in der Lage, viele Kinder zu erziehen“, erklärt der junge, kleinwüchsige Tibeter. „Sie wollten ihren zweiten Sohn als etwas Besonderes sehen.“
Mit elf Jahren war er Mönch in Darjeeling
Wangyal ist in weinrote Tücher gekleidet. Das schwarze, kurzgeschnittene Haar betont sein rundes Gesicht. „Damals in den Siebzigern war die Schule in Masuri die Nummer eins des Tibetischen Exillebens in Indien.“ Mit elf Jahren wurde Wangyal Mönch im Kloster Thubten Sangag Choeling in Darjeeling. „Anfangs weinte ich bei jedem Abschied von der Familie“, erinnert er sich. „Oft fehlte das Geld, weshalb ich sie bis zu zwei Jahre nicht zu Gesicht bekam.“
Im Wald bei Rikon verstreut wiegen sich bunte Gebetsflaggen in der Luft. „Die Mantras und Gebete werden dauernd vom Wind durchgelesen, wodurch positive Schwingungen verbreitet werden“, erläutert Wangyal. Der moderne Bau des Instituts weist tibetische Merkmale auf: Dicke Säulen stützen das von einem flachen Dach überdeckte, weiß gestrichene Gebäude. Über dem Eingang thront prächtig golden, von zwei knienden Gazellen umgeben, das Rad der buddhistischen Lehre. Ein schmaler Weg schlängelt sich zu dem unteren Eingang des Instituts.
Weihrauch und Kokosfettkerzen
Weihrauchduft erfüllt den dunklen Gebetssaal mit den sanft flackernden Kerzen. Auf der Treppe, die zu den privaten Gemächern der Mönche führt, tönen Schritte. Jemand knipst das Licht an. Der Raum entfaltet seine volle Pracht: Zentral steht der reich geschmückte Thron des Dalai Lama mit einem Foto von ihm. Auf einem Tisch stehen Schalen mit Früchten, silberne Gefäße, randvoll mit Wasser, Kokosfettkerzen und Blumen. Ein zerbrechlich wirkender alter Mann schreitet schweigend um die Ecke und greift zu einem großen, goldenen Gong. Tiefe Vibrationen durchdringen die Stille. Drei weitere Mönche und der Abt finden sich hinter ihren niedrigen Tischen auf roten Sitzkissen ein. Auch ein älterer Schweizer nimmt Platz, die Morgenmeditation ist öffentlich zugänglich.
Seine Heiligkeit der Dalai Lama
Nach dem Tibetaufstand in Lhasa von 1959 suchten mehr als hunderttausend Tibeter und Tibeterinnen Zuflucht im nepalesischen und indischen Exil. Die Schweiz nahm 1961 als erstes westliches Land tausend tibetische Flüchtlinge auf. Wangyal scherzt: „Der Schweizer Bevölkerung gefiel es wohl, dass wir ebenfalls aus den Bergen stammen.“ Im Oktober 1964 boten die Gebrüder Jacques und Henri Kuhn den Tibetern in Rikon Unterkunft und Arbeit in ihrer Metallfabrik an. Produziert wurden Töpfe und Pfannen. Seine Heiligkeit der Dalai Lama beschloss, fünf Mönche in die Schweiz zu schicken. Ihre Mission: seelsorgerische und kulturelle Betreuung der Tibeter, eine schwierige Aufgabe. „Den Tibetern in der Schweiz fehlt es unter der Woche oft an Zeit.“ Wangyal ist aber überzeugt: „Sie tun ihr Bestes.“
Westliches Interesse ist immer da
Dennoch sieht er Schwachstellen: „Die jungen Tibeter bringen eher wenig Interesse für die Kultur auf. Ihr Blick ist mehr auf Politik und Arbeit gerichtet.“ Auch Wangyal ist seit 2001 Mitglied des „Indo-Tibetan Friendship Movement“, eines politisch orientierten Vereins. „Wir veranstalten beispielsweise Demonstrationen gegen die Unterdrückung durch China. Ich war ja nie sehr aktiv in der Politik. Ein Freund wollte, dass ich da mitmache, also ging ich hin und fand es eigentlich ganz okay.“ Seine dunkeln Mandelaugen lächeln. „Viele Kurse des Tibet-Instituts werden besser von Schweizern besucht als von den rund achttausend Tibetern in der Schweiz. Das westliche Interesse ist eigentlich immer da.“ Manchmal kommen Leute auch mit falschen Vorurteilen her. Wangyal erinnert sich leicht amüsiert: „Einige dachten tatsächlich, Mönche fassten keine Frauenhände an.“ Von vielen Tibetern besucht ist das Institut an den Feiertagen, wie etwa an Losar, dem Neujahrsfest im Februar. „Während die Erwachsenen beten, spielen und schreien die Kinder. Die jüngere Generation hilft mit bei den Vorbereitungen in der Küche.“
Wissenschaft in die Exilklöster
In der Fabrikantenfamilie Kuhn fiel in den sechziger Jahren der Entschluss, ein Tibetkloster zu errichten. Sie stellte das Land und den Großteil des Geldes zur Verfügung. 1968 fand die Klosterweihe statt. Bis heute stattet der Dalai Lama den Mönchen regelmäßige Besuche ab. „Seine Präsenz ist äußerst stark und beeindruckend“, sagt Wangyal.
Der Vorsänger stimmt einen tiefen Singsang an, in den alle mit einfallen. Die Augen geschlossen oder auf einen Punkt fixiert, wiegen sie ihre Oberkörper sanft zum monotonen Gesang. Als Vertreter der Kagyu-Schule, einer der vier Hauptschulen des tibetischen Buddhismus, kam Pema Wangyal 2006 im Rahmen des Projekts „Science meets Dharma“ in die Schweiz. Das Ziel: den Tibetern in den Exilklöstern die westliche Wissenschaft näherbringen. Die Mönche werden in Chemie, Physik, Mathematik und Biologie unterrichtet. Gemäß Buddhas Lehre bestehen alle wahrgenommenen Objekte aus einer Vielzahl von „Dhammas“. Dies sind kleinste, atomähnliche Teilchen, die in ständiger Bewegung sind, woraus folgt, dass nichts Bestand hat. Neues Wissen eignen sie sich auch durch Lektüre, Meditation oder Debatten an. Dazu kommt Sprachunterricht in Deutsch und Englisch. Die öffentliche wissenschaftliche Bibliothek verfügt über zwölftausend Titel.
Begleitung bis in den Tod
„In Indien hatte ich den Status eines Auszubildenden. Hier sind wir Mönche, was die buddhistische Lehre betrifft, unsere eigenen Lehrer“, sagt Wangyal. Und es gibt andere Aufgaben: „Ist jemand todkrank, so lassen uns die Familienangehörigen für ihn beten und wir begleiten ihn bis zum Tod, oder wir werden in das Haus einer Familie eingeladen, wo wir einen Tag lang für sie beten.“ Die Mönche läuten die Glocken. Der Abt zieht eine hölzerne Gebetskette hervor. Die Mönche verfallen ins Flüstern. Nach der Meditation gibt es Frühstück: Butterbrot mit Marmelade.