Tibeter vor möglicher Radikalisierung – Verzweiflung auf dem Dach der Welt

16. April 2013

Neue Zürcher Zeitung, 15.4.13, Beat U. Wieser –
Die Spannungen in den tibetisch besiedelten Gebieten Chinas halten an. Die Weltöffentlichkeit blickt jedoch weg. Frustration und Enttäuschung ziehen weitere Kreise in der tibetischen Gemeinschaft und bereiten einer möglichen Radikalisierung den Weg.

Seit den politischen Aufwallungen in Tibet vor den Olympischen Spielen 2008 in Peking hat sich infolge chinesischer Repression eine Grabesruhe über das Dach der Welt gelegt. Aus dem Kernland, der sogenannten Autonomen Region Tibet mit der Hauptstadt Lhasa, dringen nur wenige Nachrichten in die Aussenwelt. Zu umfassend ist die chinesische Kontrolle über die Klöster, den Alltag der Bevölkerung und das Tun und Lassen der wenigen zugelassenen Besucher.

Aus den tibetisch besiedelten Gebieten der angrenzenden Provinzen Qinghai, Gansu, Sichuan und Yunnan verbreiten sich allerdings immer wieder Meldungen von Selbstverbrennungen nicht nur von Mönchen, sondern zunehmend auch von Tibetern ohne direkten Bezug zu Klöstern. Die Grabesruhe wird chinesischerseits mit viel Aufwand erkauft. Dass sich Menschen immer wieder selbst in Brand setzen, deutet aber darauf hin, dass die politischen und kulturellen Spannungen ungebrochen sind. Die Aussenwelt hat inzwischen andere, nicht zuletzt wirtschaftliche Sorgen. Das betrübliche Schicksal der Tibeter vermag im Westen vielleicht noch Anteilnahme, aber kaum mehr politisches Engagement zu mobilisieren. Entsprechend hat der ausländische Druck auf China in der Tibetfrage merklich nachgelassen. Damit droht die Zeit für Peking zu arbeiten.

Der Rückzug des Dalai Lama

Der Dalai Lama hat sich 2011 offiziell aus der Politik zurückgezogen und konzentriert sich nun vorwiegend auf seine Aufgabe als religiöser Führer, als der er in diesen Tagen auch wieder in der Schweiz auftritt. Oberster politischer Repräsentant der Tibeter im Exil ist seither der Chef der Exilregierung, Lobsang Sangay. Dieser hatte sein Amt ebenfalls 2011 angetreten. Sein Titel wurde letzten September von Kalon Tripa (Chefminister) zu Sikyong (Premierminister) geändert.

Damit wird es für die Tibeter nicht einfacher, sich Gehör auf der internationalen politischen Bühne zu verschaffen. Den Chef einer tibetischen Exilregierung zu empfangen, dürfte angesichts des chinesischen politischen Drucks jeder Regierung schwerer fallen, als sich mit dem spirituellen Führer zu treffen, der mit seinem Charisma mehr die tibetische Kultur und Religion als die Politik verkörpert. Allerdings fand auch der Dalai Lama beispielsweise in der Schweiz in den letzten Jahren keinen Zugang zur Regierung mehr, die sich vor chinesischen Repressalien fürchtet. Für Lobsang Sangay wird es noch viel schwieriger, wenn nicht gar unmöglich sein, direkte Kontakte auf höchster internationaler Ebene zu pflegen.

Unterhändler geben auf

Die Frustration darüber, dass die Chinesen ihre Unterdrückungspolitik in Tibet ungestraft durchsetzen können und von der demokratischen Welt weniger denn je dafür gerügt werden, schlägt sich nicht allein in den sich häufenden Selbstverbrennungen von Tibetern nieder. Die Desillusionierung hat auch die Exilregierung selbst erreicht. Im vergangenen Juni haben die beiden Unterhändler der Regierung nach neun Gesprächsrunden mit Vertretern des chinesischen Regimes das Handtuch geworfen. Angesichts der sich verschlechternden Lage, die zu den Selbstverbrennungen geführt hat, und der totalen Verweigerung eines substanziellen Dialogs durch die chinesische Seite sahen die Unterhändler keine Zukunft mehr für solche Gespräche.

In der Tat sind sie von den Chinesen, die solche Verhandlungen nur zum Schein und zur Beruhigung der westlichen Öffentlichkeit geführt hatten, aufs Übelste vorgeführt worden. Sie wurden beispielsweise aufgefordert, konkrete Vorschläge zur Autonomiefrage auszuarbeiten, nur um sich dann nach getaner Arbeit mitteilen lassen zu müssen, man könne mit ihnen gar nicht über solche Themen diskutieren, da sie als Vertreter der Exilregierung nicht legitimiert seien, für das tibetische Volk zu sprechen.

Bisher hat Lobsang Sangay keine neuen Unterhändler berufen, und es bleibt offen, ob er es demnächst überhaupt tun wird. Er sagt zwar, dass die tibetische Seite nach wie vor offen für Gespräche sei, doch werden sich die Chinesen wohl hüten, in einen Dialog mit Abgesandten von Premierminister Lobsang Sangay zu treten. Schliesslich möchte Peking der tibetischen Exilregierung um keinen Preis signalisieren, dass sie von China anerkannt werden könnte.

Die Exilregierung im Zwiespalt

Unter solchen Umständen kann es nicht verwundern, dass die Enttäuschung und Wut, welche schon geraume Zeit namentlich jüngere Exiltibeter erfasst hat, allmählich auch auf die Exponenten der tibetischen Diplomatie übergreift. Auch Vertreter einer gemässigten und gewaltlosen Linie beginnen Verständnis für eine mögliche Radikalisierung des tibetischen Widerstands zu zeigen. Sie warnen davor, dass das Wegschauen des Auslandes eine solche Entwicklung fördern werde.

Die Selbstverbrennungen bringen den Dalai Lama und die exiltibetische Regierung in einen Zwiespalt. Solche Demonstrationen widersprechen dem Gebot der Gewaltlosigkeit, auch wenn sich die Aggression nicht nach aussen richtet. Es fällt dem Dalai Lama schwer, Menschen, die ihr Leben für die tibetische Sache geopfert haben, zu verurteilen. Anderseits kann er Selbstzerstörungen nicht unterstützen, weil auch in buddhistischer Sicht jedes menschliche Leben heilig ist und weil er sich sonst dem Vorwurf der Anstiftung zur Selbsttötung aussetzen würde. Lobsang Sangay rief seine Landsleute dazu auf, auf drastische Aktionen wie Selbstverbrennungen zu verzichten.

Die um sich greifende Verzweiflung in tibetischen Kreisen könnte nicht nur zu einer Radikalisierung des Widerstands führen, sondern indirekt auch den chinesischen Unterdrückern in die Hände spielen. Gerade angesichts der Tatsache, dass in der westlichen Öffentlichkeit die Selbstverbrennungen Entsetzen, aber auch Kopfschütteln auslösen, haben es die Chinesen leicht, sich als diejenigen aufzuspielen, die sozusagen die Tibeter vor sich selbst retten. Bei tibetischen Festanlässen fahren sie vorsorglich mit Feuerwehrautos vor, bringen Feuerlöscher und Löschdecken herbei. Überdies versuchen sie mit der Renovation von Klöstern und beträchtlichen Investitionen in die Infrastruktur, den von ihnen Unterdrückten und Marginalisierten ein Zuckerbrot zu reichen.

Gegenseitiges Unverständnis

Allerdings steht nicht hinter allem Vorgehen Pekings in Tibet berechnende Böswilligkeit, manchmal herrscht auch einfach Unverständnis. Der grösste Teil der han-chinesischen Bevölkerung empfindet die Tibeter nämlich als undankbar. Man versuche doch, eine rückständige und wirtschaftlich unterentwickelte Region zu modernisieren und ökonomisch voranzubringen, und ernte nur Undank dafür. Das sei ebenso unverständlich wie inakzeptabel. So oder ähnlich klingen die Reaktionen sehr vieler Chinesen auf Unruhen in Tibet.

Anderseits können die Tibeter kaum verstehen, dass es dem chinesischen Regime fast nicht möglich ist, praktisch einen Viertel seiner Landmasse als tibetisch autonom zu erklären. Die Autonomieforderung ist zwar berechtigt und in der vom Dalai Lama formulierten Version durchaus sehr gemässigt, doch der angestrebte Gültigkeitsbereich weit über die bestehende sogenannte Autonome Region Tibet hinaus ist problematisch. Auch haben die Chinesen es nicht nur mit den Tibetern zu tun, sondern sind gerade im Westen des Riesenreiches noch mit zahlreichen anderen Bestrebungen nach mehr Eigenständigkeit konfrontiert. Das ist keine einfache Situation für sie. Es gäbe also genügend Stoff für Gespräche. Nur im Dialog könnte das gegenseitige Unverständnis abgebaut werden. Doch Peking scheint daran kein Interesse zu haben.

Wenn der tibetische Widerstand sich massiv radikalisieren sollte, wäre er gegenüber der chinesischen Übermacht erst recht auf verlorenem Posten. Ein Mittel, dies zu verhindern, liegt darin, dass die Weltöffentlichkeit den Tibetern weiterhin die gebührende Aufmerksamkeit schenkt und den entsprechenden Druck auf China hinsichtlich eines angemessenen und vor allem ernsthaften Dialogs nicht verringert. Wie bei vielen anderen Themen auch, ist der neuen Führung in Peking auch in der Tibetfrage auf den Zahn zu fühlen. Veränderungen sind nie auszuschliessen, doch ohne Engagement und Druck von aussen wird wohl nichts geschehen.