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Tibetische Exil-Regierung: «Will die Schweiz wirklich China stärker machen?»

Der Sikyong Penpa Tsering warnt bei seinem Schweiz-Besuch vor dem chinesischen Autoritarismus und äussert sich zur Nachfolge des Dalai Lama.

Lesen Sie hier den Originalbericht von Vincenzo Capodici, erschienen am 05.05.2024 im Tagesanzeiger.

Foto: Dominique Meienberg

Penpa Tsering reist seit Jahren um die Welt, um für eine friedliche Lösung des tibetisch-chinesischen Konflikts zu werben. Dabei spricht der Chef der tibetischen Exil-Regierung immer wieder auch Klartext über China – aber nicht nur, wenn es um die Situation in Tibet geht. So verurteilt er auch die Menschenrechtsverletzungen an den Uiguren, ebenso das aggressive Verhalten Chinas gegenüber Taiwan sowie die chinesische Propaganda in aller Welt.

Zwischen der Schweiz und der Volksrepublik China gibt es seit 2014 ein Freihandelsabkommen, das nun erweitert werden soll. Die Schweiz gehört zu den wenigen Ländern, die ein solches Abkommen mit China haben. «Mit dem Freihandelsabkommen trägt die Schweiz dazu bei, Chinas Position in der Welt zu stärken», sagt der Sikyong. Man müsse begreifen, «dass wir es mit einem China zu tun haben, das immer aggressiver versucht, seine autoritäre Politik in den internationalen Beziehungen durchzusetzen – zulasten der freiheitlichen Welt.»

Wirtschaftliche Interessen sind nicht alles

Trotz der nachvollziehbaren Wirtschaftsinteressen sollten die Länder des Westens ihre fundamentalen Werte wie Menschenrechte, Freiheit und Demokratie auch gegenüber China verteidigen. «Man kann nicht immer nur an Geschäfte und Profit denken», gibt Penpa Tsering zu bedenken. Im Umgang mit China stellt er immerhin einen Meinungswandel fest. In Gesprächen mit europäischen Staats- und Regierungschefs höre er immer wieder, dass sie sich eigentlich im Klaren seien, dass man China nicht mächtiger machen sollte.

An den Bundesrat und das eidgenössische Parlament gerichtet, stellt Penpa Tsering, wie er betont, die zentrale Frage: «Will die Schweiz wirklich China stärker machen?» Schweizer Standhaftigkeit gegenüber China hatte er sich schon bei seinem letzten Schweiz-Besuch im November 2021 gewünscht.

Sorge bereitet dem Sikyong, dass die tibetische Gemeinschaft in der Schweiz – wie auch in anderen Ländern, wo Tibeter leben – von Gefolgsleuten oder Informanten der chinesischen Regierung «beschattet und eingeschüchtert wird». Tibet-Aktivisten müssen beispielsweise damit rechnen, dass ihre Verwandten in Tibet Probleme bekommen, wenn sie an Demonstrationen teilnehmen. In der Schweiz leben über 7500 Tibeter.

Tibetische Identität könnte verschwinden

Alarmiert zeigt sich Penpa Tsering, wenn er über das Schicksal seiner Landsleute in Tibet spricht. Pekings Repressionspolitik führe dazu, «dass unsere Sprache und Kultur, unsere Religion und Lebensweise bis in zwei, drei Jahrzehnten nicht mehr existieren wird». Der Chef der tibetischen Exil-Regierung ist ein Verfechter des «mittleren Weges», der zwar keine Sezession oder Unabhängigkeit von China anstrebt, aber weitreichende Autonomie und Freiheitsrechte für das tibetische Volk einfordert. Der «mittlere Weg» war einst vom Dalai Lama, dem religiösen Führer der Tibeter, propagiert worden.

Tibets Exil-Regierung strebt Verhandlungen mit Peking an. Gross sind allerdings die Meinungsunterschiede in zentralen Fragen, etwa wie viel Autonomie Tibet haben soll oder wo genau Tibets Grenzen liegen. Bisher gebe es nur Gespräche über informelle Kanäle, sagt der Sikyong. «Grosse Hoffnungen haben wir nicht, wenn wir uns die Politik von Xi Jinping anschauen. Wir arbeiten aber mit einer langfristigen Perspektive.»

Selber hat der Sikyong nie in Tibet gelebt. Der 57-jährige Politiker wurde in einem Flüchtlingslager in Indien geboren. Dort – in Dharamsala – befindet sich auch der Sitz der tibetischen Exil-Regierung. Und dort lebt der bald 89 Jahre alte Dalai Lama, der seit über sechs Jahrzehnten die tibetische Sache personifiziert und vorantreibt. Der Dalai Lama ist spiritueller Führer und Lichtgestalt der Tibeter. (Lesen Sie hier ein Interview mit dem Dalai Lama.)

«Seine Heiligkeit ist nicht Teil des Problems, wie die chinesische Führung es behauptet», hält Penpa Tsering fest. «Er ist Teil der Lösung.» Doch: «Wäre er nicht mehr da, wäre dies ein grosser Rückschlag für unseren Kampf», räumt der Sikyong ein. Er gibt sich aber zuversichtlich: «Seine Heiligkeit hat uns den richtigen Weg vorgegeben und uns gelehrt, Verantwortung zu übernehmen.» 

Je älter der Dalai Lama wird, desto drängender wird die Frage nach seiner Nachfolge. Und sie wird auch brisanter, weil die chinesische Führung entschlossen ist, selber einen Nachfolger zu bestimmen.

Dalai Lama soll «in sehr guter Verfassung» sein

Laut Penpa Tsering wird der Dalai Lama allein über seine Nachfolge entscheiden. Gemäss einem selbst verfassten Dokument von 2011 könnte der Dalai Lama eine Entscheidung treffen, sobald er 90 Jahre alt wird, also im übernächsten Juli. Im Moment ist die Nachfolgefrage völlig offen. Und das ist auch gut so, wie der Sikyong betont. «Denn das macht es auch für die Chinesen komplizierter, denn sie können mit Unvorhersehbarkeiten nicht umgehen.»

Trotz seines hohen Alters sei der Dalai Lama noch «in sehr guter gesundheitlicher Verfassung», beteuert Penpa Tsering. «Seine Heiligkeit wird noch lange leben.» Diese Aussage versteht der Sikyong auch als Botschaft an die Chinesen, die auf ein baldiges Ableben des 14. Dalai Lama hoffen.

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